Dienstag, 7. Dezember 2021

Eduardo Lago: Brooklyn soll mein Name sein

"Brooklyn soll mein Name sein" des spanischen Autors Eduardo Lago ist ein Buch, das sich schwer beschreiben lässt. An der Qualität dieses Romans liegt dies definitiv nicht. Ganz im Gegenteil!!! Denn "Brooklyn soll mein Name sein" ist ein literarischer Hochkaräter. Eduardo Lago erhielt für seinen Debütroman im Jahr 2006 in seiner Heimat den Premio Nadal des Novela, dem ältesten und renommierten Literaturpreis Spaniens, der bisher fast ausschließlich an bedeutende Persönlichkeiten der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts verliehen wurde. (Dies nur zum „Warmwerden“ für den nachfolgenden Versuch, dieses Buch zu beschreiben und um dem Leser ein Gefühl dafür zu geben, welche literarische Besonderheit im Alfred Kröner Verlag erschienen ist, der diesen Roman vor Kurzem und erstmalig im deutschsprachigen Raum veröffentlicht hat.)

Titel und Titelbild dieses Romans deuten darauf hin: Schauplatz der Handlung ist Brooklyn, ein Stadtbezirk von New York, der heutzutage u. a. für seine multikulturelle Bevölkerungsmischung bekannt ist.
Doch Brooklyn ist nur einer der Schauplätze dieses Romans, genauso wie es unterschiedliche Handlungsstränge, Zeitebenen, Erzählperspektiven und – man glaubt es kaum – Ich-Erzähler und Protagonisten gibt.
Einer dieser Protagonisten und derjenige Charakter, um den sich die Handlung hauptsächlich dreht, ist Gal Ackerman, ein Schriftsteller, der vor Kurzem gestorben sein muss, das erfährt zumindest der Leser gleich zu Beginn des Romans.
"Gestern Vormittag haben wir Gal beerdigt."
Buchseite und Rezensionen zu 'Brooklyn soll mein Name sein: Roman' von Eduardo Lago
Quelle: Alfred Kröner Verlag
Wir schreiben gegenwärtig das Jahr 1991. Derjenige, der diesen Satz äußert ist Néstor Oliver Chapman, einer der Ich-Erzähler und Freund von Gal Ackermann, der mit dessen Tod die Aufgabe hat, Gals Nachlass zu sichten und zu verwalten. Diese Information hört sich einfach an, ist von mir jedoch hart erarbeitet worden. Hilfestellung hat dabei ein Personenregister am Ende des Romans geleistet, genauso wie es eine chronologische Übersicht der Ereignisse gibt und ein Glossar. Ohne diese Hilfestellungen wäre man aufgeschmissen, denn in diesem Roman begegnen uns eine Flut an realen und fiktiven Haupt- und Nebenfiguren, Zeitebenen sowie historische und fiktive Ereignisse. Man sollte meinen, dass der Autor Eduardo Lago mit dieser bunten Mischung in seinem Roman ein Pendant zu Brooklyn, dem bevölkerungsreichsten Stadtteil New Yorks, schaffen wollte.

Ich-Erzähler Néstor Oliver Chapman befasst sich also mit dem Nachlass seines verstorbenen Freundes, den er als einen Menschen kennengelernt hat, der eine Leidenschaft für das Schreiben besaß. Dabei ging es ihm nicht um das Ergebnis, sondern um den Schaffensprozess als solchem. Gal Ackerman war also nicht darauf aus, für andere zu schreiben, sondern in erster Linie schrieb er für sich. Sein Arbeitszimmer über einer Bar in Brooklyn ist über die Jahre zu einem „Manuskript-Friedhof“ geworden, einer wilden und chaotischen Sammlung an Gedanken, Geschichten und Erinnerungen, die nicht nur von Gal stammten, sondern auch von anderen Verfassern. Alles, was Gal jemals an Texten in die Finger bekommen hat, fand Einzug in diesen gigantischen „Blätterwald“.
"Mit beiden Armen hast du in den Papieren gewühlt, unfähig, mit dem Lachen aufzuhören. Dutzende und Aberdutzende von Manuskripten! Hier gibt es alles, Ness: Romane, Märchen, Theaterstücke, Essays, Memoiren, unerträgliche Texte, die überhaupt niemanden interessieren. Unglaublich, nicht wahr, sie haben alle eines gemeinsam: Niemand wird sie jemals lesen, und niemals wird einer von ihnen eine Druckerei von innen sehen. So viele Träume: Ruhm, Geld und Eitelkeit. Das sind die Dinge, von denen all diejenigen träumen, die unbedingt etwas veröffentlichen wollen."
Was macht man nun mit diesen Texten? Wohin mit den Geschichten und Erinnerungen? Diese Fragen hat sich auch Gal Ackerman gestellt und daher zu Lebzeiten den Versuch gestartet, ein Buch zu schreiben – eine Hommage an Brooklyn. Denn in Brooklyn hat er gelebt und geliebt. Er liebte nicht nur die Stadt und seine Menschen, sondern hier lernte er auch seine große Liebe kennen. Brooklyn spielte also eine wichtige Rolle in seinem Leben.
Inmitten der Entstehung dieses Buches stirbt Gal Ackerman und sein Freund fühlt sich verpflichtet, das Buch anhand der Notizen seines Freundes zum Abschluss zu bringen.
Während sich Néstor also durch die Unterlagen seines Freundes arbeitet, bereits fertiggestellte Geschichten aus diesem Buch liest, eigene Geschichten formuliert und diesen Roman fortsetzt, begleiten wir ihn durch die Lebensgeschichte seines Freundes und seiner Stadt.
Wir werden uns dabei häufig in den Gedankengängen von Nestor und Gal verlaufen. Denn es gibt weder eine chronologische Reihenfolge noch eine klare Abgrenzung zwischen Ich-Erzähler Nestor und Ich-Erzähler Gal. Erzählt wird über einen Zeitraum von fast 250 Jahren, denn auch diejenigen Generationen aus Gal Ackermans Familie, die vor ihm gelebt haben, gehören zu seiner Lebensgeschichte dazu. Genauso, wie seine spanischen Wurzeln in diesem Roman eine Rolle spielen sowie die Ära Spaniens zur Zeit des Bürgerkrieges.

Man muss viel Geduld haben mit diesem Roman. Seinen Reiz macht die unstrukturierte Erzählweise aus, die den Leser zwingt, sich die Handlung nach und nach zu erarbeiten. Doch dafür wird er mit intensiven Geschichten über Freundschaften, Liebe und Leidenschaft belohnt. Oft ist es schwierig zu unterscheiden, ob die Geschichten, die Einzug in Gals Buch halten, seiner Fantasie entsprungen sind oder auf tatsächlich Erlebtem basieren. Genauso, wie sich kaum unterscheiden lässt zwischen Gals bzw. Nestors Erzählungen.

Neben den beiden Hauptcharakteren gibt es eine Protagonistin, die eine gleichsam große Rolle spielt: Brooklyn – der Schauplatz dieses Romans.
Der Autor dieses Romans, Eduardo Lago, lebt in New York und hat daher eine besondere Verbindung zu diesem Schauplatz. Diese Verbundenheit ist durch seinen Protagonsiten Gal Ackerman mit jeder Silbe in diesem Roman spürbar. Zu Lebzeiten streifte Gal Ackerman durch Brooklyn, widmete seine Aufmerksamkeit den bekannten und weniger bekannten Orten. Er hatte eine Blick für die Bewohner dieses Stadtteils, unabhängig welcher Herkunft sie waren, wobei er den Hispano-Amerikanern durch seine eigenen Wurzeln sicherlich näher stand als anderen Bevölkerungsgruppen. Die Beschreibungen der Umgebung sind sehr akribisch und detailliert. Wenn Eduardo Lago einmal anfängt, den Schauplatz und damit verbundene Stimmungen zu beschreiben, lässt er nicht locker, bis die kleinste Kleinigkeit der Szenerie dargestellt ist und der Leser in die Atmosphäre dieses Schauplatzes eingetaucht ist. Eduardo Lago macht Brooklyn also spürbar. Und wer bis jetzt noch nicht in Brooklyn war, findet sich durch die Lektüre dieses Romans zumindest gedanklich in dem Brooklyn eines Eduardo Lago wieder.

Fazit:
Ein faszinierender Roman, der die Lebensgeschichte eines charismatischen, leider fiktiven Mannes erzählt und dabei gleichzeitig eine Hommage an Brooklyn darstellt. In Verbindung mit seiner eigenwilligen Konstruktion ist dieser Roman eine Besonderheit, die mit nichts vergleichbar ist, was ich bisher gelesen habe.

© Renie

Donnerstag, 18. November 2021

Ethan Hawke: Hell strahlt die Dunkelheit

Früher waren Prominente einfach nur das, was sie waren ... prominent. Doch heutzutage ist prominent nicht mehr gleich prominent. Denn man unterscheidet mittlerweile zwischen A-/B- und C-Promis, wobei hier dank unseres Alphabets noch viel Spielraum nach unten ist. 
Wie wird man nun zum C-Promi? Und wie berühmt oder bekannt muss man sein, um zum B-Promi zu werden oder gar in den Olymp eines A-Promi Status‘ aufzusteigen? Ich bin ratlos und habe keine Ahnung, welche Kriterien zugrunde gelegt werden.
Nehmen wir das Beispiel der Schauspielerei. Erstaunlich ist, dass die meisten A-Promis unter den Schauspielern gar nicht so viel Aufhebens um ihren Promistatus machen. Sie glänzen durch schauspielerisches Können und Seriosität. Ihr Ego scheint nebensächlich zu sein (Ausnahmen bestätigen die Regel). Ganz anders bei den Promis, die sich unterhalb der A-Klasse bewegen. Mit sinkendem Promi-Status scheinen Ego und Überheblichkeit zu steigen. Mit anderen Worten: je niedriger der Status, umso wichtiger nimmt sich der Promi. Und je niedriger der Status, umso wichtiger scheint für einen Promi die öffentliche Meinung über ihn zu sein.

Die öffentliche Meinung spielt auch in dem Roman „Hell strahlt die Dunkelheit“ des A-Promis und Schriftstellers Ethan Hawke eine wichtige Rolle. 
Quelle: Kiepenheuer und Witsch

Der Amerikaner Ethan Hawke ist ausgebildeter Schauspieler (Theater und Film), Roman- und Drehbuchautor sowie Regisseur. William Harding, der Protagonist seines Romans "Hell strahlt die Dunkelheit" ist ebenfalls Hollywood-Schauspieler, aber nicht ganz so talentiert wie sein prominenter Schöpfer. William ergattert eine Theaterrolle in einer Shakespeare-Inszenierung (Heinrich IV.) am Broadway, was für den Filmschauspieler eine echte Herausforderung ist. William ist definitiv kein A-Promi, ist aber mit einem verheiratet. Seine Frau Mary ist ein gehypter Rockstar. Das Promi-Paar hat zusammen zwei Kinder (3 und 5 Jahre). Der Roman "Hell strahlt die Dunkelheit" beginnt mit der Ankunft von William in New York, unmittelbar bevor die Proben zu dem Theaterstück losgehen. Beruflich läuft es also bei William, privat aber nicht. Denn seine Ehe steht vor dem Aus. Nachdem durch die Presse bekannt wurde, dass William seine Frau betrügt, hat diese ihn vor die Tür gesetzt. Die Öffentlichkeit macht William nun für seinen Fehltritt fertig, gilt doch Noch-Ehefrau Mary als America’s Darling.

Trotz negativer Publicity und Anfeindungen durch die Öffentlichkeit, versucht William, sich auf seine Rolle zu konzentrieren. Der Filmschauspieler, der bisher noch keine Erfahrung mit dem Theater gemacht hat, gräbt sich in die Rolle des Hotspur. Diese Figur gehört zu den Bösen in Shakespeares Stück, womit wir bei den Parallelen zu Williams Leben und die Wahrnehmung seiner Person in der Öffentlichkeit wären. Die Rolle ist für ihn wie geschaffen. 
Durch Williams bisheriges Leben in Glanz und Glamour ist er ein Promi geworden, der auf die öffentliche Meinung fixiert ist. Bisher war er immer bemüht, dem Klischee eines Hollywoodschauspielers in Kombination mit der Rolle des Ehemanns eines Rockstars gerecht zu werden. Sex, Drugs and Rockn'Roll waren dabei probate Mittel. 
Doch je mehr er sich jetzt der ernsthaften Schauspielerei innerhalb des Shakespeare Stückes hingibt, umso mehr entfernt er sich von dem Bild des lasterhaften Promis. Am Ende wird der echte William Harding zum Vorschein kommen. Ein ernsthafter und verantwortungsvoller Mensch, der es endlich schafft, die öffentliche Meinung nur als das zu sehen, was sie ist: eine Meinung von vielen. Sein Theaterengagement wird zur Katharsis für seine Persönlichkeit und sein Seelenleben. 

Der Roman umfasst den kompletten mehrwöchigen Zeitraum von Williams Broadway Engagement, angefangen bei den ersten Proben bis hin zur letzten Aufführung des Shakespeare Stücks. William pendelt zwischen seinem New Yorker Domizil - einem Hotelzimmer - und dem Theater hin und her. Dadurch verbringt der Leser mit ihm viel Zeit am Theater und taucht in den Alltag eines Theaterensembles ein. Das macht viel Spaß, da dabei das Hauptaugenmerk auf den einzelnen Mitgliedern und ihren teilweise exzentrischen Eigenwilligkeiten liegt.

Das Shakespeare Stück liefert dabei einen interessanten Rahmen. Indem wir den Schauspieler auf Schritt und Tritt begleiten, kommen wir auch mit Auszügen des Stückes in Berührung. Es finden sich viele Zitate aus Heinrich IV. Wir verfolgen einzelne Szenen, die Handlung sowie die Charaktere werden im Ansatz erklärt, genauso wie der Aufbau des Stückes auf diesen Roman übertragen wird. Spätestens zum Ende der Lektüre verspürt man Lust, sich Heinrich IV. im Theater anzusehen. 

Bei aller Begeisterung habe ich einen Kritikpunkt an diesem Roman: Gewöhnungsbedürftig ist für mich die Fixierung des Schauspielers William auf seinen Sexualtrieb, was Autor Ethan Hawke mit sehr plakativen und deftigen Formulierungen zum Ausdruck bringt. Für mich wäre da weniger mehr gewesen. 

Dennoch ist "Hell strahlt die Dunkelheit" ein facettenreicher und origineller Roman, den ich sehr genossen habe. 

© Renie

Mittwoch, 20. Oktober 2021

James Sallis: Sarah Jane

Die literarische Gattung Krimi "thematisiert in der Regel ein Verbrechen und seine Verfolgung und Aufklärung durch die Polizei, einen Detektiv oder eine Privatperson. Der Schwerpunkt, Sicht- und Erzählweise einzelner Kriminalromane können sich erheblich unterscheiden." - so Wikipedia. 

"In der Regel", wohlgemerkt, denn Krimi ist nicht gleich Krimi. Wikipedia unterscheidet folgende Untergattungen: 
Schauer- und Kriminalromane für Frauen - Whodunit - Verschiedene Ermittlungsformen - Thriller - Schwarze Serie - Gangsterballaden - Komischer Krimi - Regionalkrimi 

Eine eigenwillige Unterteilung, die sicher nicht vollständig ist. Denn es gibt Krimis, die nicht in diese Schubladen passen. Einer, der keine Schubladen-Krimis schreibt, ist der amerikanische Autor James Sallis, der für einige seiner Kriminalromane bereits den Deutschen Krimi Preis (International), den amerikanischen Hammett Prize und den französischen Grand prix de littérature policière gewonnen hat. 
Sein aktueller Roman "Sarah Jane" ist momentan auf Platz 4 der Deutschen Krimibestenliste (September 2021). Und mit "Sarah Jane" hat James Sallis einen Roman geschrieben, für den es jene Krimi-Schublade geben müsste, die in der o.g. Unterteilung fehlt: der literarische Krimi.

Sarah Jane, Protagonistin des gleichnamigen Romans, ist eine Frau, die schon einiges in ihrem Leben mitgemacht hat. Vorsichtig formuliert: sie hat bisher ein "bewegtes" Leben geführt. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen im Mittleren Westen Amerikas, ist sie bereits sehr jung von zuhause ausgerissen und hat sich die nächsten Jahre mehr schlecht als recht durchgeschlagen. Sie blieb nie lang an einem Ort, geriet in schlechte und bessere Gesellschaft. Das Militär bewahrte sie vor einer Haftstrafe. In Amerika wurde sie von den unterschiedlichsten Männern ein Stück ihres Lebensweges begleitet. Diese Männer taten ihr gut und mal weniger gut. Nun lebt sie in der amerikanischen Kleinstadt Farr, ist im Polizeidienst, sorgt für Recht und Ordnung und hat offene Augen und Ohren für die Probleme der Kleinstadtbewohner. Sie wird für ihre Empathie geschätzt, die Menschen mögen sie. Scheinbar kehrt endlich Ruhe in das bewegte Leben der Sarah Jane ein. Wenn da nicht die Geister ihrer Vergangenheit wären.

Und wie sich das für Geister gehört, bleiben sie weitestgehend unsichtbar und tauchen nur dann auf, wenn man nicht mit ihnen rechnet, was wiederum zu Zweifeln führt, denn Geister gibt es eigentlich nicht. Auf den Punkt gebracht: Sarah Jane hat Geheimnisse, die aus ihrer Vergangenheit resultieren, aber nicht offensichtlich sind und selbst für den Leser weitestgehend verborgen bleiben. 

Der Roman beginnt mit den Erinnerungen von Sarah Jane an ihre Zeit und die Jahre bevor sie nach Farr kam. Sie macht es dem Leser dabei nicht einfach. Denn sie erzählt ihre Erinnerungen chronologisch unsortiert und springt zwischen den Ereignissen hin und her. Der Leser wird mir einem Wirrwarr an Gedanken konfrontiert. Und irgendwo inmitten dieses Wirrwarrs blitzen immer wieder kleine Momente auf, die stutzig machen und den Verdacht erwecken, dass es in Sarah Janes bisherigem Leben schlimme Momente gab, wenn nicht sogar kriminelle Momente.

Die Buchbeschreibung des Verlages bringt es auf den Punkt: "James Sallis erzählt von einer Frau, die versucht, der Welt die Stirn zu bieten und mit dem Leben ins Reine zu kommen. "Sarah Jane" ist ein fesselnder, ungewöhnlicher Roman über Schuld, Sühne und das Ringen mit den eigenen Dämonen."

Im Mittelpunkt steht also Sarahs Geschichte und die Entwicklung von einer sprunghaften und wilden Jugendlichen zu einer ernsthaften und geheimnisvollen Frau mit - wie sich in Farr herausstellt - ganz viel Empathie für ihre Mitmenschen. 

Wo bleibt also das "thematisierte" Verbrechen dieses Kriminalromans? 
Tatsächlich gibt es in "Sarah Jane" Verbrechen genauso wie es Tote gibt. Doch diese Dinge sind nebensächlich und irgendwo inmitten der Vielzahl an Sarah Janes Erinnerungen sowie den Geschichten über die Menschen um sie herum verborgen. Und dieses versteckte Böse, das irgendwo in Sarah Janes Geheimnissen existiert, gibt dem Roman die Würze und das gewisse Extra, um aus diesem Roman einen Krimi zu machen, ergänzt um das Prädikat "literarisch". Denn James Sallis ruhiger Erzählton, der eine wundervoll melancholische Stimmung erzeugt, trägt dazu bei, dass dieser Roman ein literarischer Hochgenuss ist.

Leseempfehlung!

© Renie





Dienstag, 12. Oktober 2021

Charles Lewinsky: Melnitz

Der Roman "Melnitz" ist über 900 Seiten starke Fabulierkunst, wie nur Charles Lewinsky sie beherrscht. Er erzählt darin die Geschichte der jüdisch-schweizerischen Familie Meijer über einen Zeitraum von fünf Generationen. Die Handlung beginnt im Jahre 1871 und endet 1945.

Die Familie kommt aus dem gutbürgerlichen Milieu. Familienoberhaupt Salomon, mit dem die Geschichte beginnt, ist Viehhändler. Mit den nächsten Generationen werden die Meijers ihren Lebensunterhalt im Einzelhandel verdienen. Sie haben Erfolg bei dem, was sie machen. Der Erfolg sorgt für Wohlstand, mal mehr, mal weniger bescheiden. Die nachfolgenden Generationen werden davon profitieren. Es wird Nachkommen geben, die das Vermächtnis ihrer Eltern fortführen, genauso wie es Nachkommen geben wird, die einen eigenen beruflichen Weg einschlagen werden.

Die Ehen in dieser Familie werden anfangs weniger aus Liebe, sondern eher aus Vernunft geschlossen. Erst über die Jahre wird es zu Verbindungen kommen, die aus Liebe entstanden sind.
Quelle: Diogenes

Bei den Meijers wird gemenschelt und gejüdelt. Denn die jüdische Familie lebt nach den Regeln des Talmud. Ob aus Frömmigkeit oder Tradition, der jüdische Glaube bestimmt das Leben der Meijers.

Charles Lewinsky lässt in diesem Roman Schweizer Geschichte stattfinden, denn er bettet die Handlung in einen historischen Rahmen. Erzählt wird die Geschichte des Judentums in der Schweiz, vom 19. Jahrhundert bis hin zum 2. Weltkrieg am Beispiel der Meijers. 

Der Roman "Melnitz" ist ein großes Lesevergnügen, was nicht zuletzt an dem Sprachstil des Schweizer Autors liegt. Mit großer Fabulierlust und viel Ironie schildert Charles Lewinsky die großen und kleinen Probleme und Ereignisse aus dem Familienlebens der Meijers. Die Charaktere werden von ihm überspitzt dargestellt. Persönliche Macken und Eigenheiten werden dabei genüsslich ausgeschlachtet. er Autor lässt nur wenig Spielraum, um sich ein eigenes Bild von den Figuren zu schaffen. Dafür sind seine Beschreibungen viel zu akribisch, aber dafür gestochen scharf, so dass sie ein stimmiges Bild des jeweiligen Charakters ergeben.

Und dieser Roman ist unverkennbar jüdisch. Denn die Sprache ist von jiddischen Begriffen, Aussprüchen und Lebensweisheiten durchsetzt, die aber in einem mehrseitigen Glossar am Ende des Buches für den nicht-jiddisch sprachigen Leser übersetzt werden.

Namensgebende Figur dieses Romans ist übrigens ein Verwandter - Onkel Melnitz -, um wieviele Ecken er mit den Meijers verwandt ist, lässt sich schwer sagen. Doch irgendwie scheint er zur Mischpoche dazuzugehören. Und wie das häufig mit Verwandten ist, taucht der Onkel meistens dann auf, wenn man nicht mit ihm rechnet und sorgt für verstörende Unruhe. Doch wie jeder weiß, kann man sich Verwandtschaft bekanntlich nicht aussuchen.

Fazit:

Über 900 Seiten jüdische Familiengeschichte und keine Seite zuviel. Der Geschichtenerzähler Lewinsky hat wieder Höchstform bewiesen und mich mit seinem Roman verzaubert. Meine Begeisterung für diesen Autor hält an.

Samstag, 25. September 2021

Jonathan Coe: Mr. Wilder und ich

Billy Wilder, amerikanischer Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent, war bereits zu Lebzeiten eine Legende. Seine größten Erfolge konnte er in den 40er, 50er und 60er Jahren verzeichnen. Insgesamt drehte er über 60 Filme. „Sabrina“, „Das verflixte 7. Jahr“, „Zeugin der Anklage“, „Manche mögen’s heiß“, „Das Mädchen Irma la Douce“ waren einige davon.
Im Jahr 1978 erschien sein vorletzter Film "Fedora", bei dem Billy Wilder nicht nur Regie führte, sondern auch das Drehbuch schrieb. Viele sahen darin Parallelen zu Wilders eigenem Hollywood Dasein. "Fedora" erzählt die Geschichte über den Mythos einer verstorbenen Filmdiva und wurde von den Kritiker u. a. wie folgt beschrieben: 
„ein Abgesang auf Hollywood, auf das Kino alter Schule, auf Billy Wilders klassische Filme nicht zuletzt. […] Ein Alterswerk, das seinen Rang vornehmlich dadurch erreicht, dass es in Kauf nimmt, von allen missverstanden zu werden."

Der Roman „Mr. Wilder und ich“ erzählt von der Entstehung dieses Films und ist gleichzeitig eine berührende und humorvolle Biografie über die Hollywood-Legende Billy Wilder, der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten bereits Anfang 70 war. 
Quelle: Folio Verlag

Die Geschichte von Billy Wilder wird dabei in einen weiteren Handlungsrahmen eingebettet. Denn erzählt wird sie Jahre später von einer fiktiven Figur - Callista, einer Komponistin für Filmmusik, Ehefrau und Mutter von 2 erwachsenen Töchter. Sie berichtet von ihren ersten Gehversuchen beim Film, an denen Billy Wilder maßgeblich beteiligt war. Callista ist in den 50er/60er Jahren in Athen aufgewachsen. Ihre griechischen Wurzeln und der Zufall haben ermöglicht, dass sie in den 70er Jahren in das Filmgeschäft gerutscht ist. Denn im Alter von 21 Jahren begegnet sie in Hollywood das erste Mal Billy Wilder, der ihr einen Job als griechische Übersetzerin für die geplanten Dreharbeiten von „Fedora“ am Drehort Lefkada, einer verschlafenen griechischen Insel, anbietet. Die Tochter eines Griechen und einer Engländerin, die zu diesem Zeitpunkt einen Trip durch Amerika macht, ergreift die Chance, und von da an wird sie die nächsten Jahre im Filmgeschäft in unterschiedlichen Funktionen arbeiten. Doch zunächst geht es um die Dreharbeiten zu „Fedora“. Mit ihrer unkomplizierten und bodenständigen Art sticht Callista aus der Menge der Filmleute, die an dieser Produktion beteiligt sind, heraus. Das merkt auch Billy Wilder sowie sein bester Freund und Co-Drehbuchautor Iz Diamond. Die beiden Männer suchen immer wieder die Gesellschaft von Cal, die herzerfrischend anders ist, als diejenigen Menschen, mit denen der Starregisseur beruflich zu tun hat: Schmeichler, Neider, Opportunisten und Sensationslüsterne. Cal erinnert sich Jahre später an diese Zeit und erzählt von den Begegnungen und Gesprächen mit den beiden Männern. Insbesondere durch die Sichtweise des besten Freundes Iz, lernt sie einen anderen Billy Wilder kennen, als denjenigen, der sich im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit präsentiert.

Billy Wilder, Sohn jüdischer Eltern, ist 1906 in Österreich geboren, hat später lange Jahre in Berlin gelebt und ist mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Amerika emigriert, wo er als Drehbuchschreiber ins Filmgeschäft einstieg und kurz darauf in Hollywood Regie führte. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und die kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wurde ein Teil seines Lebens. Billy Wilder war also kein Regisseur. der sich auf leichte Filmkomödien reduzieren ließ. Er begegnete der Welt zwar mit Humor, was aber nicht über seine Ernsthaftigkeit hinwegtäuschen sollte. 
"'... Das Leben ist hässlich. Wir alle wissen das. Du brauchst nicht ins Kino zu gehen, um zu erfahren, dass das Leben hässlich ist. Du gehst ins Kino, damit diese zwei Stunden dein Leben ein klein wenig heller machen, sei es durch Komik oder Lachen, oder einfach nur ... keine Ahnung, durch ein paar schöne Kleider und gutaussehende Schauspieler oder so - irgendein Lichtblick, der vorher nicht da war. Ein bisschen Freude, Heiterkeit ... .'"
Jonathan Coe hat mit diesem Roman einen Billy Wilder geschaffen, wie ich ihn mir gern vorstellen möchte: ein netter, älterer und humorvoller Herr, der menschliche Wärme ausstrahlt und mit Güte über die Fehler seiner Mitmenschen hinwegsieht. Ob Mr. Wilder tatsächlich so gewesen ist, ist für mich dabei zweitrangig. Ich will dem Autoren die Charakterisierung seines Protagonisten gerne abnehmen, zumal Jonathan Coe in seinen Anmerkungen und Quellenangaben am Ende des Romans nicht den Eindruck vermittelt, dass die Eigenschaften, die er seiner Figur zuschreibt, seiner Fantasie entsprungen sind. 

Der Protagonist Billy Wilder in Verbindung mit dem glamourösen Hollywood-Flair, das die Handlung begleitet, machen die Geschichte daher zu einem großen Vergnügen. Jonathan Coe hat mit "Mr. Wilder und ich" einen Roman geschaffen, der der humorvollen Leichtigkeit eines Films des berühmten Regisseur in nichts nachsteht.

Leseempfehlung!

© Renie

Sonntag, 12. September 2021

Daniela Krien: Der Brand

Gegensätze ziehen sich an. Diese Binsenweisheit bewahrheitet sich immer wieder, insbesondere bei Ehepaaren. In Daniela Kriens Roman "Der Brand" fühlten sich vor vielen Jahren Rahel und Peter zueinander hingezogen. Zunächst waren die Gegensätze noch nicht offensichtlich. Die Gemeinsamkeiten überwogen. Beide Akademiker, beide in der ehemaligen DDR aufgewachsen. Sie teilten die gleichen politischen Ansichten, liebten es, über Gott und die Gesellschaft zu diskutieren. Die Beiden haben geheiratet, zwei Kinder bekommen, sind mittlerweile Großeltern und stellen nun fest, dass über die Jahre Gegensätze zutage getreten sind, die das Eheleben verändert haben. Die Ehe von Rahel und Peter steht heute an einem Scheidepunkt. Doch die Beiden haben zulange miteinander gelebt, um die Ehe einfach abzuschreiben. Ein gemeinsamer Urlaub soll die Beziehung retten.
Das Vorhaben wird zunächst durch einen dummen Zufall gefährdet. Ein Brand hat die idyllische Unterkunft in den Bergen, die prädestiniert war, um müde Ehen wieder lebendig zu machen, zerstört. Als Alternative wird das Haus von Freunden herhalten, das Rahel und Peter hüten sollen. In diesem Haus sagen sich Pferd und Katze sowie ein einbeiniger Storch Gute Nacht. Also ziehen Rahel und Peter hier ein und werden die nächsten drei Wochen mit dem Versuch verbringen, ihre Ehe wieder auf Vordermann zu bringen. 
Quelle: Diogenes
"Hinter seinem Lächeln verbirgt sich etwas, und Rahel denkt, dass besonders in einer Ehe die Summe des Nichtgesagten die Summe des Gesagten bei weitem übertrifft."
Dieser Roman erzählt also die Geschichte eines Rettungsversuchs. Dabei legt die Autorin den Fokus auf die zu rettenden Personen.

Rahel, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, ist Psychologin. Im Verlauf der Handlung wird man den Eindruck nicht los, dass sie den Beruf verfehlt hat. Wenn sie an ihre Patienten denkt, werden ihre Gedanken von überheblichen Schwingungen begleitet. Und sie, die aufgrund ihrer Ausbildung in der Lage sein sollte, das Seelenkostüm anderer Menschen zu analysieren, scheitert an sich und den eigenen Familienmitgliedern. Denn Rahel hat ein gestörtes Verhältnis zu Tochter Selma, die übrigens auf Stippvisite bei den Eltern vorbeikommt, zusammen mit deren Enkelkindern, und die sich in diesem Roman als sprunghafte Dramaqueen präsentiert, was ihre Psychologen-Mutter überfordert.
Rahel hat Schwierigkeiten, sich mit den örtlichen Gegebenheiten zu arrangieren. Ihr fehlt die geordnete Struktur ihres Alltags zuhause, die kaum etwas dem Zufall überlässt.
Wohingegen Peter die Einfachheit, die das Tagesgeschehen in diesem Haus der Freunde bestimmt, mehr und mehr genießt. Er scheint sich selbst genug zu sein, ruht in sich selbst. Er scheint Rahel nicht zu brauchen, aber Rahel braucht einen Partner an ihrer Seite.
"Wegen des Virus begannen die Menschen, große Bögen umeinander zu machen. Sie sei eine dieser Personen, denen man ausweicht, während er zu jenen gehöre, die anderen den Vortritt ließen."
Trotz der Ernsthaftigkeit der Ehekrise und den gemeinsamen schweren Anstrengungen eines Rettungsversuchs der Eheleute, erzählt Daniela Krien diese Geschichte mit viel Humor. Denn man wird das Gefühl nicht los, dass sie sich bewusst vieler Klischees bedient, die man mit einem Akademiker-Ehepaar, das Anfang 50 ist, in Verbindung bringt. Hier wird guter Wein getrunken, gut gegessen, man ist mit den modernen technischen Errungenschaften überfordert und sehnt sich nach dem Urtümlichen. Das aber bitte politisch korrekt. Dieser Humor verleiht der ernsten Geschichte eine große Leichtigkeit, die ich mit großem Vergnügen gelesen habe. 

Leseempfehlung!

© Renie


Samstag, 4. September 2021

Barbara Frandino: Das hast du verdient

Ein eisernes Gesetz, das die meisten Kinder kennen, lautet: "Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen". Als Erwachsener geht man jedoch großzügiger mit dieser Regel um, was Scheidungsraten beweisen. 
Der Roman „Das hast du verdient“ der italienischen Autorin Barbara Frandino beschreibt den Versuch zweier Eheleute, das Versprechen, das sie sich einst gegeben haben, krampfhaft einzuhalten.

Früher haben sie sich geliebt: Claudia und Antonio, er – ein bekannter Fernsehstar, sie – eine Ghostwriterin, die gewohnt ist, im Schatten zu stehen. Die Ehe ist kinderlos geblieben. Lange Jahre sind sie glücklich gewesen. Doch aus Verliebtheit wurde Gewohnheit, an der man aus Feigheit vor einer endgültigen Entscheidung festhält. Das Bewusstsein der eigenen Feigheit macht wütend. Und die Wut richtet sich gegen den Menschen, den man lieben sollte.
"Mir ist, als würde jedes Lob im Grunde eine Lüge oder Falle sein, also tue ich so, als ob ich es nicht gehört hätte, während die Beleidigungen, auch die geflüsterten, laut wie Schreie sind. Ich höre tagelang ihr Echo." 
Quelle: Folio Verlag
Die Trennungsgeschichte der beiden Eheleute wird aus der Perspektive von Claudia erzählt. Sie berichtet von den Kränkungen, die sie durch Antonio erfahren muss. Als Mensch mit wenig Selbstbewusstsein sucht sie die Gründe für diese Kränkungen zunächst bei sich. Mit der Zeit gewinnt sie jedoch in dem Konflikt mit ihrem Ehemann an Stärke, aber leider auch an Verbitterung, die sich in Gegenangriffen äußert. Das Zusammenleben der beiden wird zum Kriegsschauplatz. Anfangs ergreift man Partei für die zarte Ehefrau, die unter ihrem Mann zu leiden hat. 
Trotz des Blickwinkels der Ehefrau gelingt es aber der Autorin, den Leser im weiteren Verlauf der Geschichte zum Unparteiischen zu machen. Diese Entwicklung hat mir ausgesprochen gut gefallen, da sie der Realität entspricht. Denn zu einer Trennung gehören immer zwei.
"So vergeht die Zeit, in Form kleiner Verluste. Wir gewöhnen uns an die Abwesenheit, machen immer wieder kleine Anpassungen. Bis wir feststellen, dass wir mehr dem ähneln, was fehlt, als dem, was geblieben ist."
Der Roman „Das hast du verdient“ ist zwar eine Geschichte, die aus dem Leben gegriffen ist, denn leider sind Ehetrennungen mittlerweile zur Normalität geworden, doch gleichzeitig ist diese Geschichte erschütternd, denn sie verdeutlicht, wie schmal der Grat zwischen Liebe und Ablehnung gegenüber demjenigen Menschen sein kann, dem man einst ewige Treue und ein Zusammensein bis zum Tod versprochen hat. Dieser Roman ist dabei nicht reißerisch und weit entfernt von Trennungsgeschichten wie "Der Rosenkrieg" (Autor: Warren Adler), der durch seine Verfilmung im Jahr 1989, mit Michael Douglas und Katherine Turner in den Hauptrollen, bekannt wurde, und in dem eine Ehe in Zerstörung, Mord und Totschlag endet. 
Barbara Frandino wählt in ihrem Roman den subtilen Weg und kommt mit leisen Tönen daher, was diesem Roman Glaubhaftigkeit und Intensität verleiht.

Leseempfehlung!

© Renie

Samstag, 28. August 2021

Katharina Kramer: Die Sprache des Lichts

Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. (1.Mose 1,1-2,4)

Diese Sätze der biblischen Schöpfungsgeschichte sind den meisten Menschen bekannt. Nur die wenigsten sehen jedoch die linguistische Bedeutung, die in diesen Worten steckt: Gott spricht, und einmal ausgesprochen, ist das, was er gesagt hat, existent. Gottes Sprache eröffnet also ungeahnte Möglichkeiten. Allein schon die Konsequenz des Satzes "Es werde Gold." bietet einen ungeheuren Anreiz, die Sprache der Schöpfung zu erlernen - vorausgesetzt, dass sich in Erfahrung bringen lässt, aus welchem Vokabular und Regelwerk diese göttliche Sprache besteht. 

In Katharina Kramers historischem Roman "Die Sprache des Lichts" geht es um die Suche nach dem Buch Soyga, das die Sprache der Schöpfung in codierter Form enthalten soll. Dabei führt uns die Handlung zum Ende des 16. Jahrhunderts. Die unterschiedlichsten Protagonisten durchqueren dabei Europa, angefangen in den französischen Pyrenäen und dem Osten Deutschlands. Die Protagonisten haben unterschiedliche Nationalitäten und kommen aus den unterschiedlichsten Berufen, allen voran:
Quelle: Droemer Knaur
die französische Spionin und Übersetzerin Margarète Labé, 
der deutsche Jacob Greve, Lehrer, Kryptologe und Sprachgenie
der englische Edward Kelley, Alchemist und Betrüger
der englische John Dee, Wissenschaftler

Das Interessante an den Protagonisten dieses Romans ist die Zusammensetzung aus fiktiven und non-fiktiven Figuren. Einige der fiktiven Charaktere sind historischen Personen entlehnt. So sind die Engländer Kelley und Dee reale Figuren; die Figur der Spionin Margarète vereint in sich eine Übersetzerin der damaligen Zeit (Margaret Tyler) sowie eine Lyrikerin (Louise Labé); Jacob Greve hingegen ist eine rein fiktive Figur. 

Die Protagonisten agieren zunächst in eigenen Handlungssträngen losgelöst voneinander, erst nach und nach verbinden sich diese Handlungsstränge.

"Die Sprache des Lichts" ist nicht nur ein Roman, der sich mit der Suche nach der göttlichen Sprache befasst. Die Jagd nach dieser einzigartigen und legendären Sprache findet vor dem Hintergrund der Religionskriege der damaligen Zeit zwischen Katholizismus und Protestantismus statt. Im Hintergrund agierten die Geheimdienste der beteiligten Nationen. Die Kommunikationsmöglichkeiten dieser Geheimdienste waren sehr reduziert, so dass die Kryptologie eine sehr große Rolle spielte. 
"Das Buch war handgeschrieben. Auf den ersten Seiten gab es viele astrologische Zeichnungen, manche prachtvoll, in glitzernden roten, grünen und blauen Farben. Dann folgten Beschwörungsformeln und Listen von Engeln, Luft-, Erd-, Feuer- und Wassergeistern. Über, neben oder unter den Formeln und Listen standen zahlreiche Wörter, die, wie in vielen magischen Büchern, rückwärts zu lesen waren: Supal stand für Lapus, der Stein; Retap retson für Pater noster."
In diesem Roman geht es also um Sprache und ihren Facettenreichtum, den Katharina Kramer sehr kurzweilig demonstriert. 
Was mir neben der interessanten Thematik dieses Romans ausgesprochen gut gefallen hat, sind die Erklärungen der Autorin zu den geschichtlichen Hintergründen ihrer Geschichte. So finden sich am Ende des Buches zu den meisten der Kapitel  Erläuterungen zu der Handlung oder zu einzelnen Figuren. 

Mein Fazit:
Ein kurzweiliger und hochinteressanter historischer Roman, der durch seine lebhafte Handlung besticht sowie durch die Mischung aus fiktiven und non-fiktiven Charakteren. Der Facettenreichtum von Sprache wird in einen historischen Kontext gebunden und macht aus diesem Roman einen spannenden und lehrreichen Geschichtsunterricht.

© Renie


Sonntag, 22. August 2021

Kate Grenville: Ein Raum aus Blättern

Mr. und Mrs. John Macarthur wanderten 1788 von England nach Australien aus. John war ein britischer Offizier, der dem Ruf der Krone folgte und seinen Dienst in der frisch errichteten Strafkolonie New South Wales antrat. Über die Jahre machte John Karriere als Soldat, Politiker und Unternehmer. Er gilt heute in Australien als Begründer der Schafzucht. 

Von Mrs. John Macarthur, die ihren John als Elizabeth Veale kennenlernte, ist nicht viel bekannt. Was für eine Frau Elizabeth war oder hätte gewesen sein können, erzählt der Roman "Ein Raum aus Blättern" der australischen Autorin Kate Grenville.
Dabei lässt sie Elizabeth ihre eigene Geschichte erzählen. Mit Anfang 80 blickt diese auf ihr Leben zurück: einer Kindheit in Südengland, die Heirat mit John als sie 21 war, die 6 Monate dauernde Seereise nach Australien und ihre Anfänge auf dem, zur damaligen Zeit noch unerschlossenen Kontinent.

Frau sein in Großbritannien zur Zeit von Jane Austen war alles andere als romantisch. Keine Gleichberechtigung, keine politische Mitbestimmung, kein Recht auf Bildung, auf Arbeit oder eigenen Besitz. Stattdessen war Frau jedoch der Besitz des eigenen Ehemannes. Und ein Ehemann musste her, denn ohne diesen konnte Frau kaum überleben. Häufig musste Frau den Mann nehmen, der zu kriegen war. Und das war nicht immer ein Glücksgriff.
Quelle: Nagel und Kimche
"Überrascht war ich über das Ausmaß meines Zorns. Zorn auf Mr. Macarthur natürlich, aber auch auf die grausame Maschinerie aus generationenalten Gesetzen, Glaubenslehren und Gepflogenheiten, die eine Frau der Möglichkeiten raubte, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen."
Pech hatte auch Elizabeth, die ihren John, der sich in dieser Geschichte als skrupelloses und selbstherrliches Ekelpaket erweist, sicherlich nicht aus Liebe geheiratet hat, sich von ihm nach Australien verfrachten lassen musste und verpflichtet war, für Johns Wohlergehen zu sorgen - in jeder Hinsicht. Als Gattin eines britischen Offiziers sorgte sie dafür, dass das gepflegte gesellschaftliche Leben Fortbestand hatte - was merkwürdig erschien, denn der Versorgungsnachschub aus der britischen Heimat war mehr als dürftig und ein 5-o'clock-Tea inmitten der Wildnis erschien eher deplatziert. Da jedoch von einer Mrs. John Macarthur die Einhaltung der englischen Etikette erwartet wurde, hat sie diesen Anspruch auch erfüllt. Sie hatte ja sonst nichts zu tun, anfangs zumindest. Später widmete sie sich der Schafzucht, die eigentlich die Aufgabe ihres Mannes gewesen wäre. Aber das musste in der Öffentlichkeit ja keiner wissen.

Kate Grenvilles Geschichte über Elizabeth Macarthur ist unglaublich spannend und ereignisreich. Als Leser wird man vom Schicksal dieser Frau vereinnahmt. Rückblickend war es für sie sicherlich kein schlechtes Leben, denn mit den Jahren gelang es ihr, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren und das Beste für sich herauszuholen. Dennoch sind die Bedingungen, unter denen sie ihr Leben geführt hat, unvorstellbar. Das Festhalten an gesellschaftlichen Traditionen und Etikette mutete fast schon absurd an. Das Leben an der Seite eines skrupellosen Soziopathen schien aussichtslos.
Wie wohltuend ist da die Entwicklung des Charakters Elizabeth, die lernt, mit den Befindlichkeiten ihres Mannes umzugehen. Genauso wie sie lernt, das Land zu lieben, dem sie anfangs mit soviel Widerwillen und Ablehnung begegnet ist. Australien wird ihre Heimat.
"Ich will mich in diesem Bericht nicht besser machen, als ich es war. Ich musste mich mit diesem Ehemann abfinden und war feige genug, die Früchte seiner Schurkerei zu genießen."
Ich möchte gern glauben, dass die Geschichte der Elizabeth Macarthur tatsächlich so passiert ist. 

Doch genau das ist der springende Punkt in diesem Buch. Man glaubt, was man glauben will bzw. das, was Elizabeth, als Erzählerin dieser Geschichte, den Leser glauben machen will. In diesem Fall hat Kate Grenville mit "Ein Raum aus Blättern" einen "spielerischen Tanz der Möglichkeiten zwischen dem Realen und Erfundenen" aufgeführt. Mit Hilfe von Informationen, die sie den Biografien über die Macarthurs sowie Schriftstücken von damaligen Zeitzeugen entnommen hat, schreibt sie eine eigene Geschichte über Elizabeth, die so lebensecht wirkt, dass der Leser darin die Biografie einer heroischen Frau sehen will, die sich gegen die "Knechtschaft" ihres Mannes so gut es ging zur Wehr setzte und ihren eigenen Weg gegangen ist. Der Leser glaubt, was er glauben will, ungeachtet der Möglichkeit, dass Elizabeth in Wirklichkeit ein anderer Mensch hätte sein können.

Mein Fazit:
Ein außergewöhnlicher Roman, der mit dem Leser spielt. Das, was sich Kate Grenville vorgenommen hat, nämlich einen Roman zu schreiben, der die "Macht der Geschichte" demonstriert, hat sie großartig umgesetzt. Ich bin ihr auf den Leim gegangen, habe die Protagonistin zunächst gesehen, wie ich sie sehen sollte bzw. wollte. Der Ausspruch von Elizabeth Macarthur, der den Roman eröffnet und in einer Anmerkung der Autorin beendet
"Glaubt nicht zu geschwind!"
sagt alles aus.

Leseempfehlung!

© Renie

Dienstag, 17. August 2021

Donal Ryan: Die Stille des Meeres

Der irische Autor Donal Ryan erzählt in seinem Roman "Die Stille des Meeres" die Geschichten von drei Menschen, die auf den ersten, zweiten und auch dritten Blick keinerlei Verbindung zueinander haben. 

Das Buch besteht aus 4 Abschnitten, wovon jeder die Geschichte eines dieser Protagonisten behandelt. Diese Abschnitte können losgelöst voneinander gelesen werden, was dieses Buch scheinbar zu einem Episodenroman macht.
Zunächst erzählt Donal Ryan die Geschichte eines syrischen Arztes und dessen Familie sowie des Dramas, das diesen Menschen während der Flucht aus ihrer  Heimat nach Europa widerfährt.

Im nächsten Abschnitt geht es um einen jungen Iren, Anfang 20, der noch nicht viel in seinem Leben erreicht hat. Er jobbt in einem Pflegeheim für Senioren, lebt noch zuhause, zusammen mit seiner Mutter und dem Großvater. Er träumt von einer besseren Zukunft. Doch leider fehlt ihm der Antrieb, seinem bisherigen Leben eine Wendung zu geben.

Im dritten Abschnitt beichtet ein irischer Krimineller seine Lebensgeschichte.

Quelle: Diogenes
Jede dieser Geschichten ist für sich genommen einzigartig und lässt keine Verbindung zwischen den einzelnen Charakteren erahnen. Doch mit dem 4. und letzten Abschnitt dieses Romans sorgt Donal Ryan für Auflösung und demonstriert dabei seine schriftstellerische Kunstfertigkeit. 

Die Verbindungen zwischen den einzelnen Figuren wirken sehr konstruiert. Doch gerade das hat mir gefallen. Denn der Autor hat Zusammenhänge hergestellt, auf die ich niemals gekommen wäre, weil mir einfach die Fantasie fehlt, die Donal Ryan mit seiner konstruierten, aber bemerkenswerten Auflösung beweist. Jeder der Figuren in diesem Roman - sowohl Protagonisten als auch Nebendarsteller - bekommen in diesem Roman ihren Platz zugewiesen und machen ihn somit zu einem großen Ganzen.
Diese Kunstfertigkeit des irischen Autors hat mich beeindruckt. 

Womit er mich allerdings abgehängt hat, ist das Verständnis für Motiv und Botschaft dieses Romans. Ich kann nur rätseln, was der Autor dem Leser mit auf den Weg geben möchte, sehe schlimmstenfalls Ansätze, die diesen Roman in die Richtung derjenigen Bücher rücken, die den Leser mit Coelho-tisch sinnhaften Lebensweisheiten versorgen. 

Doch weg mit diesen abschätzigen Gedanken, denn in diesem Fall kümmert mich die Botschaft des Buches nicht die Bohne! Ich muss lügen, wenn ich behaupte, dass ich diesen Roman nicht genossen habe. Tatsächlich haben mich die fantasievolle und unvorhersehbare Konstruktion dieses Buches dermaßen verblüfft, dass für mich  Botschaft und Motivation des Autors am Ende völlig nebensächlich sind. 

Schreiben kann er, der Mr. Ryan! Bisher konnte er mich immer wieder mit seinen Büchern überraschen und begeistern - allen voran "Die Lieben der Melody Shee". Sein aktueller Roman "Die Stille des Meeres" ist für mich eine weitere Überraschung.

Leseempfehlung!

© Renie






Donnerstag, 12. August 2021

Annalena McAfee: Blütenschatten

"'Eve Laing verleiht uns durch ihre akribische Beobachtung und unübertroffene Kompetenz die Gabe des Sehens, so dass wir die Welt betrachten, als wäre es das erste Mal. Ihre botanischen Reflexionen umfassen das gesamte Spektrum der Sinne, sie sind ein herrlicher, farbenprächtiger Tribut an die Natur in ihrer ganzen komplexen, unendlichen Vielfalt. Das ist nicht Kunst, die das Leben kopiert, sondern das Leben selbst.'"

Eve Laing macht Kunst, die zu schön ist, um wahr zu sein. Die fiktive Künstlerin ist die Protagonistin des Romans "Blütenschatten" von Annalena Mcafee.

Und wie ein Schatten streift Eve in diesem Roman durch London und verliert sich dabei in Erinnerungen an die letzten Monate, als zunächst ihr Leben noch in Ordnung schien: Erfolgreiche Künstlerin, Anfang 60, die sich in der Malerei und künstlerischen Installation von Blumen verwirklicht, langjährige Ehefrau eines weltweit erfolgreichen Architekten, Mutter einer Tochter. Mittlerweile ist sie sogar Großmutter eines Enkels. 

Jeder andere würde meinen, dass das Leben es bisher gut mit ihr gemeint hat. Doch Eve ist nicht jeder Andere. Sie, die als Künstlerin sehr erfolgreich ist, hat im privaten Bereich weniger Erfolg. Als Mutter hat sie versagt, als Ehefrau hat sie lediglich eine Rolle gespielt. Ihre langjährige Ehe mit Kristof ist zu einer Beziehung aus Gewohnheit geworden. Die Eheleute haben sich mit ihrem langweiligen Miteinander arrangiert. Jeder führt sein eigenes Leben, ohne sich für den anderen zu interessieren. Berührungspunkte bilden nur der gemeinsame Haushalt sowie gesellschaftliche Verpflichtungen. Eve fühlt sich als Frau nicht mehr von ihrem Mann beachtet. Sie stürzt sich in die Arbeit. Das Werk, an dem sie gerade arbeitet, soll die Krone ihres bisherigen Schaffens werden. Als bekannte Künstlerin kann sie sich auf die helfenden Hände vieler fleißiger Mitarbeiter verlassen. Einer davon ist Luka, nur halb so alt wie sie, der ihr aber diejenige Beachtung schenkt, die der Ehemann ihr verwehrt. Und Eve macht den entscheidenden Schritt, der ihrem bisherigen Leben eine Wende geben wird. 

Quelle: Diogenes
"Sie wollte eine Spur hinterlassen und künftigen Generationen ein Gefühl für die zunehmend zerbrechliche Welt von heute vermitteln. Falls es überhaupt zukünftige Generationen geben sollte. Ihre Befürchtung, die Befürchtung aller Künstler ist, dass sie ungeachtet der Anstrengungen, die sie für ihre Mission und die monumentale Natur ihrer Werke aufwenden, niemanden interessieren."

In diesem Roman dreht sich alles um Eve. Meiner bisherigen Beschreibung nach zu urteilen, könnte man in Eve eine Protagonistin sehen, die den Mut hat, ihr Leben zu ändern und somit zu neuem Selbstbewusstsein kommt. Dem ist jedoch nicht so. Denn Eve ist eine Anti-Heldin. Sie liebt nur einen Menschen, und das ist sie selbst. Sie hat sich schon immer selbst in den Mittelpunkt gestellt und geht über Leichen, um sich diesen Platz zu bewahren. Das haben auch Mitstreiterinnen aus Eves jungen Jahren und künstlerischen Anfängen zu spüren bekommen. Sie besitzt keinerlei Einfühlungsvermögen für die Empfindungen anderer Menschen. Schlimmer noch, sie blickt voller Verachtung auf ihre Mitmenschen. Gerade diejenigen, die erfolgreicher sein könnten als sie, können vor Eve nicht bestehen. Die Künstlerin lebt Neid und Missgunst in seiner intensivsten Form. 

Durch ihr mangelndes Einfühlungsvermögen, fehlt ihr auch Menschenkenntnis, so dass sie in anderen Menschen nur das sieht, was sie sehen möchte und sich somit ihre eigene Wirklichkeit schafft, dessen ewiges Zentrum sie und ihre Kunst sind.

"Eve hatte schon immer Mühe gehabt, Menschen zu durchschauen, und deshalb überraschte die Kluft zwischen geäußerter Absicht und tatsächlichem Handeln sie unablässig aufs Neue."

Blütenschatten ist ein Buch, in dem sich alles um Kunst, und zeitgenössischer Kunst im Besonderen, dreht. Die Sprache dieses Romans ist von Bezügen zu Künstlern und ihren Werken durchzogen, genauso wie der Schaffensprozess von Eves letztem großen Kunstwerk im Detail beschrieben wird. Man blickt der Künstlerin dabei förmlich über die Schulter und verliert sich in der schwelgerischen Farbenpracht, die die Autorin Annalena McAfee beschreibt. Gleichzeitig nimmt sich die Autorin den Kunstbetrieb vor. Mit einem bissigen Humor macht sie sich über die Dekadenz und Abgehobenheit der Szene lustig. Das macht Spaß und man wundert sich, woher die Autorin ihre Kenntnisse hat. 

Fazit:

Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, in diesen Roman hineinzukommen. Diese schwellgerische und künstlerisch eingefärbte Sprache hat mich zunächst überfordert. Doch im Verlauf des Romans habe ich diese Detailliebe als stimmig zu diesem Künstlerroman wahrgenommen. Im Verlauf der Handlung entwickelt dieser Roman eine große Dynamik, was nicht zuletzt daran liegt, dass Eves Realität nach und nach in sich zusammenstürzt. Zurück bleibt nur Chaos und ein hochdramatisches Ende.

Leseempfehlung!


©Renie


"Blütenschatten" von Annalena McAfee (Diogenes Verlag, ET April 2021)

Samstag, 24. Juli 2021

Joachim Zelter: Die Verabschiebung


Artikel 1 unseres deutschen Grundgesetztes besagt:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar". 
Doch in unserem Land scheint Mensch nicht gleich Mensch zu sein.
Wir leben in Deutsch-Absurdistan, diesen Verdacht hatte ich schon immer. Aber nachdem ich Joachim Zelters Roman "Die Verabschiebung" gelesen habe, gibt es für mich keine Zweifel mehr.

Faizan kommt aus seiner Heimat Pakistan nach Deutschland und bittet um Asyl. Sein Asylverfahren hat gerade begonnen, als er die Deutsche Julia kennenlernt.  Die Beiden verlieben sich ineinander. Noch ist Faizan optimistisch gestimmt, schließlich ist Deutschland ein gastfreundliches Land. Als guter Gast möchte er die Gastfreundschaft nicht über Gebühr strapazieren, indem er dem Gastgeber auf der Tasche liegt. Also besorgt sich Faizan einen Job, zieht mit Julia zusammen und gewöhnt sich langsam an den Alltag in Deutschland. Doch leider entpuppt sich Deutschland als ein Land, das alles unternimmt, um einem Schutzsuchenden, der keinen deutschen Pass hat, das Leben zur Hölle zu machen. Faizan wird während des Asylverfahrens eine emotionale Achterbahnfahrt durchlaufen und mit ihm seine Freundin und Ehefrau Julia. Joachim Zelter erzählt die Geschichte dieses Asylverfahrens, in welchem die Würde der Beteiligten auf der Strecke bleibt. 
Quelle: Kröner Verlag

Dazu braucht der Autor nicht viele Worte. Gerade mal 160 Seiten hat dieser Roman. Doch hier sitzt jedes Wort. Joachim Zelter ist ein Wortkünstler, der mit unserer Sprache jongliert und dabei mit viel Genuss der, von ihm verwendeten Begrifflichkeiten einen tieferen Sinn verleiht als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Demgegenüber steht die Amtssprache Deutsch-Absurdistans - "Behördendeutsch" - das nur die wenigsten Auserwählten dieser Republik beherrschen.
Die Sprache Joachim Zelters lässt man sich auf der Zunge zergehen und ist entzückt über soviel Fabulierkunst. Die Sprache Deutsch-Absurdistans lässt man sich ebenfalls auf der Zunge zergehen, ist aber alles andere als entzückt, sondern eher fassungslos, weil sich die deutsche Amtssprache als Ausdruck übelster Menschenverachtung entpuppt.
"... hier das Interesse des Ausländers an einem Aufenthaltstitel. Demgegenüber stehe das Ausweisungsinteresse der Bundesrepublik Deutschland. Entweder das Bleibeinteresse überwiege das Ausweisungsinteresse. Oder das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse. So einfach sei das."
Der Roman "Die Verabschiebung" hat mich durch die Kraft seiner Sprache beeindruckt. Er beschäftigt sich sehr eindringlich mit einem aktuellen Thema: die deutsche Asylpolitik. Für einen Außenstehenden - also die meisten der Lesern - gehen Einzelschicksale innerhalb der öffentlichen Berichterstattung zu diesem Thema in der anonymen Menge der betroffenen Menschen unter. In "Die Verabschiebung" gibt Joachim Zelter diesen Menschen durch seine Protagonisten Faizan und Julia ein Profil und führt die deutsche Asylpolitik gleichzeitig ad absurdum.

Leseempfehlung!

© Renie

Sonntag, 11. Juli 2021

Ann Petry: Country Place

Schauplatz des Romans "Country Place" von Ann Petry ist der beschauliche Touristenort Lennox im amerikanischen Bundesstaat Connecticut. Hier verbringen Touristen gern ihre Sommerfrische und begeben sich auf die Suche nach Ruhe, Wärme und Erholung.
Es scheint, dass Lennox eine Idylle paradiesischem Ausmaßes ist. Da zu einem anständigen Paradies auch mindestens ein Sündenfall gehört, ist natürlich auch Lennox nicht davor gefeit. Dafür sorgen die Bewohner von Lennox und einige davon im Besonderen. 
Diese Beobachtung macht auch der Apotheker vor Ort: Doc Fraser, von vielen Pop genannt, der sich gleich zu Beginn des Romans als Ich-Erzähler präsentiert. Im Verlauf der Geschichte wird er diese Rolle jedoch nur sporadisch einnehmen. Denn in diesem Roman wechseln die Erzählperspektiven zwischen den Hauptfiguren, welche sind 
- die alte Mrs. Gramby und ihr Sohn Mearn, sehr wohlhabend, bewohnen ein Anwesen inklusive Hausangestellten. Die beiden sind angesehene Stützen der Gesellschaft, Mrs. Gramby noch mehr als ihr Sohn. Mearn ist verheiratet mit 

- Lil, ehemalige Schneiderin, die sich den reichen Mearn geangelt hat, um in die höheren Gesellschaftskreise aufzusteigen und ein Leben in Saus und Braus zu führen. Schwiegermutter und Schwiegertochter können sich nicht ausstehen, versuchen jedoch den Schein zu wahren – was ihnen mehr schlecht als recht gelingt. Lil ist in den 40ern und hat eine Tochter: 

- Glory, die in einem Laden in Lennox als Verkäuferin arbeitet. Einfach gestrickt und charakterlos wie ihre Mutter betrachtet sie Männer als Versorger, weshalb sie verheiratet ist, mit 

- Johnny Roane, der die letzten Jahre in Vietnam verbracht hat, soeben aus seinem Kriegseinsatz zurückgekehrt ist und nun auf eine glückliche Zukunft mit seiner Glory hofft. 

Neben diesen Hauptfiguren treffen wir in Lennox auf Nebendarsteller, die aber trotz ihrer untergeordneten Rolle einen enormen Einfluss auf die Handlung haben. 
Quelle: Nagel und Kimche
"Jetzt fiel ihm wieder ein, dass überall geklatscht und getratscht wurde - im Postamt, im Gemischtwarenladen, im Drugstore und sonntags nach dem Gottesdienst vor den Kirchen. Diese Sorte Grinsen im Gesicht des kleinen Mannes hinterm Lenkrad stand für die ganze Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit der Stadt, für ihr hinterhältiges Gespött über andere." 
Der Roman erzählt die Geschichte dieser Menschen und entwickelt sich zu einer Tragödie, die an Dramatik kaum zu überbieten ist. Es wird geliebt, gehasst, geneidet, gegiert und betrogen. Eifersucht und Intrigenspiel gehören dabei auf die Tagesordnung. 

Ann Petry nimmt den Leser an die Hand und führt ihn durch Lennox. Die Menschen, die uns dabei begegnen werden von ihr in den schillernsten Farben bis ins kleinste Detail geschildert. Dominiert wird dabei das Geschehen von den Frauenfiguren dieses Romans, wobei Ann Petry klar zwischen Gut und Böse unterscheidet. Die Femmes Fatales bekriegen sich mit den Charakteren von untadeligem Ruf. 

Trotz aller hochkochender Emotionen behält dieser Roman seine Beschaulichkeit, die durch den Ferienort Lennox assoziiert wird, bei. Der Sprachstil ist ruhig und sortiert. Petry konzentriert sich auf die Rolle des Beobachters, die teilweise durch den Apotheker besetzt wird, der sich als Chronist der Ereignisse vorstellt, aber diese Rolle nicht gänzlich ausfüllt. 

Ann Petry hat mit "Country Place", der im Jahre 1947 erstmalig veröffentlicht wurde, ihren zweiten Roman geschrieben. Ihr erster Roman "The Street" aus dem Jahre 1946 sorgte für Furore, weil er in einer Zeit veröffentlich wurde, als afroamerikanische Literatur eine Männerdomäne war und eine deutliche Anklageschrift gegen Rassismus und das vorherrschende Frauenbild war. Mit "Country Place" konnte die Autorin nicht in Gänze an ihren Erfolg anknüpfen. Denn hier fehlte die "Protestnote", die in "The Street" zu finden war. "Country Place" ist gemäßigter als sein Vorgänger. Bis auf wenige Ausnahmen ist das Personal in diesem Roman weiß-amerikanisch. Aber "weiß" ist nicht gleich "weiß", wie der Umgang der Bevölkerung von Lennox mit einem jüdischen Anwalt sowie nicht-amerikanischen Hausangestellten der Familie Gramby verdeutlicht.

Hat mir "The Street" von Ann Petry schon ausgesprochen gut gefallen, hat sie mit "Country Place" mein Herz erobert. Mir gefällt diese Mischung aus Ruhe und Beschaulichkeit eines amerikanischen Kleinstadtromans, gepaart mit der emotionalen Dramatik, die durch das Miteinander der Charaktere entsteht. 

Ich freue mich, dass der Verlag Nagel und Kimche Ann Petry für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt hat. Der Roman "The Street" wurde bereits im letzten Jahr veröffentlicht, "Country Place" erschien im Mai diesen Jahres. Für das Frühjahr 2022 ist nun der dritte und letzte Roman von Ann Petry avisiert Und ich bin sehr gespannt, ob für mich noch eine Steigerung zu "Country Place" möglich sein wird.

© Renie






Sonntag, 4. Juli 2021

Marianne Philips: Die Beichte einer Nacht

Der Roman "Die Beichte einer Nacht" der niederländischen Autorin Marianne Philips (1886 - 1951), der erstmalig in den 1930er Jahren veröffentlicht wurde, ist in seiner Heimat ein Klassiker. Im deutschsprachigen Raum ist dieser Roman bisher kaum bekannt, wurde jetzt aber vor Kurzem vom Diogenes Verlag wiederentdeckt. Kaum zu glauben, dass es fast 90 Jahre lang dauern musste, dass dieser Roman auch hierzulande Beachtung findet. Denn "Die Beichte einer Nacht" hat es in sich, auch wenn die Erzählform im ersten Moment wenig lesekomfortabel erscheint, besteht doch dieser Roman aus einem einzigen Monolog.
Dieser Monolog wird von der Protagonistin Heleen gehalten. Sie ist mit Mitte Dreissig und befindet sich in einer Nervenklinik. Warum sie hier gelandet ist, erfahren wir nach und nach durch ihre Lebensgeschichte, welche die Frau einer Nachtschwester erzählt. Die Nachtschwester bleibt dabei für den Leser anonym. Es gibt keinerlei verbale Reaktionen auf die Erzählung von Heleen. Nur anhand der Sichtweise und einiger Kommentare von Heleen, erfahren wir, dass ihre Geschichte Wirkung auf die Schwester zeigt. 
Quelle: Diogenes Verlag
"Ich bin hier allein in meiner eigenen Hölle.
Nein, Schwester, schauen Sie nicht zur Klingel, ich bekomme keinen Anfall, ich hatte nur einen einzigen - bevor man mich hierhergebracht hat. Lassen Sie mich einfach reden."
Ihre Kindheit verbringt Heleen in ärmlichen Verhältnissen in einer Großfamilie. Als ältestes von 13 Kindern hilft sie ihrer Mutter im Haushalt und kümmert sich insbesondere um die jüngste Schwester, die 15 Jahre jünger als Heleen ist. Heleens Kapital ist ihre Schönheit, die eine große Wirkung auf Männer ausübt, so dass sie schließlich mit der "freundlichen" Unterstützung eines Mannes den Absprung von zuhause schafft. Von da an lebt sie allein, lernt, auf eigenen Füßen zu stehen, heiratet reich, lässt sich scheiden und lernt schließlich den Mann fürs Leben kennen, der sie durch sein gutes Aussehen verzaubert. Denn für Heleen ist Schönheit das Wichtigste im Leben geworden, was ihr leider zum Verhängnis wird.

Es ist erstaunlich, wie schnell die Sichtweise des Lesers auf die Protagonistin kippen wird. Anfangs empfindet man Mitleid für die junge Frau in der Nervenklinik - einem Ort, den sie selbst als die Hölle bezeichnet. Hinsichtlich der Umstände, die eine Nervenheilanstalt der damaligen Zeit mit sich brachte, ist dies nicht verwunderlich. Man kann Heleen nur mögen und mit ihr fühlen. Ihre Erzählung wirkt erstaunlich emotionslos. Gerade die Anfänge ihres Lebensweges waren von Steinen gepflastert. Dennoch finden sich keinerlei Schuldzuweisungen in ihrer Geschichte, wozu sie doch allen Grund hätte. Ihren Andeutungen entnehmen wir, dass sie Schuld auf sich geladen hat. Worin diese Schuld besteht, lässt sich zunächst nur spekulieren und löst sich erst zum Ende auf. 
"Mir war längst klar, dass ich hässlich wurde, oft strich ich mit dem Zeigefinger an meinem Hals entlang und prüfte, wie ausgeprägt die Vertiefungen schon waren, die die Haut dunkel, bräunlich erscheinen lassen - ich konnte dann gut verstehen, dass Hannes mich nicht mehr so begehrte wie früher. Ich erwartete nichts anderes, wie soll man eine Frau lieben können, die hässlich ist und dazu auch noch schlecht? Ich fürchtete und ekelte mich ja vor mir selber - alles war vorbei, das stand fest."
Je mehr Heleen von ihrer Geschichte Preis gibt, umso schwieriger wird es, die Sympathie für sie aufrechtzuerhalten. Denn sie entwickelt sich zu einem Menschen, der augenscheinlich sein Leben von äußerlicher Schönheit bestimmen ließ. Diese emotionale Oberflächlichkeit steht ihr nicht gut, erklärt aber, warum die Handlung zum Ende des Romans eine Entwicklung annimmt, die an Dramatik nicht zu überbieten ist.

Die Geschichte von Heleen ist traurig und ergreifend, ihre emotionslose Erzählweise inmitten des nächtlichen Szenarios strahlt eine tiefe Melancholie aus. Dennoch ist dieser Roman ungeheuer spannend, so dass man ihn kaum zur Seite legen möchte. Wer hätte gedacht, dass ein Selbstgespräch - denn durch die Sprachlosigkeit der Nachtschwester ist es nichts anderes - solch eine atemlose Spannung hervorrufen kann. 

Ein großartiger Roman! 

© Renie






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