Mittwoch, 23. Dezember 2020

Mick Herron: Real Tigers

Quelle: Pixabay/Peggy_Marco
Der Autor, der sich bei der Namensgebung seiner Krimireihe um den Ermittler Jackson Lamb bisher gerne der Tierwelt bedient hat, hat wieder zugeschlagen. Mit "Real Tigers" ist dem britischen Autor Mick Herron ein neues Husarenstück geglückt.
Angefangen hat alles mit Pferden, danach kamen Wildkatzen - zunächst Löwen und nun Tiger -, und mittendrin befindet sich  immer ein Lamm. Besagtes Lamm ist der Protagonist dieser Krimiserie und hat nichts, aber auch gar nichts mit dieser niedlichen Spezies zu tun. Denn Jackson Lamb ist streng genommen ein Held zum Abgewöhnen. Es lässt sich jedoch nicht leugnen: als Leser wird man von diesem Charakter magisch angezogen - ähnlich wie von einem ekligen Insekt, das man angewidert, aber fasziniert aus der Nähe betrachten möchte. 
"Lamb starrte ihn gefühlt eine volle Minute lang an, und da Lamb Lamb war, hätte es durchaus eine volle Minute sein können, bevor er anfing zu lachen. Und da er nun mal Lamb war, erfasste das Lachen seinen ganzen Körper: Er bebte von Kopf bis Fuß, und sein Gewieher erfüllte den Raum. Mit zurückgeneigtem Kopf sah er aus wie ein bösartiger Clown. An der Stelle, wo ein Hemdknopf abgeplatzt war, lugte ein behaarter Streifen Bauch hervor."
Quelle: Diogenes
Jackson Lamb geht gar nicht, weder als Chef - es sei denn, Menschenverachtung und Respektlosigkeit gegenüber Mitarbeitern werden als Führungsqualitäten angesehen - und menschlich erst recht nicht. Der Mann besitzt weder innere noch äußere Werte. Doch dafür ist er als Agent unschlagbar und mit allen Wassern gewaschen. Mit dieser fürchterlichen Mischung aus Ekelpaket und brillantem Ermittler haben seine Mitarbeiter tagtäglich zu kämpfen, insbesondere da die Brillanz eines Jackson Lamb so gut wie nie hinter seiner großmäuligen und schmierigen Fassade zum Vorschein kommt. Es muss schon viel passieren, dass dieser in Geheimagenten-Aktion tritt. In dem vorliegenden Fall "Real Tigers" ist dies die Entführung einer Mitarbeiterin. Lamb und seine Truppe mit dem vielsagenden Namen "Slow Horses" (Lahme Gäule) macht also mobil. 

Warum "Slow Horses"? In Anlehnung an die Londoner Büro-Adresse dieser Einheit (Slough House), hat sich diese Abwandlung aufgrund der Besonderheit dieser Truppe etabliert. Die Einheit von Lamb ist das Auffangbecken für Ermittler, die sich in ihrer bisherigen Karriere nicht mit Ruhm sondern eher mit Mist bekleckert haben. Für ihre Fehler werden sie ausrangiert, kommen zu Lamb und werden mit anspruchslosen Aufgaben betreut, in der Hoffnung, dass sie aus lauter Langeweile freiwillig den Dienst quittieren - was bisher aber noch keiner gemacht hat. Die Leidensfähigkeit eines britischen Beamten scheint enorm zu sein.
Der Entführung der Kollegin scheint die lahmen Gäule jedoch auf Trab zu bringen, insbesondere wenn Jackson Lamb die Peitsche schwingt.
Hinter der Entführung steckt ein niederträchtiges Komplott übler Charaktere aus Politik und britischem Geheimdienst. Diesmal wird es bei Mick Herron also politisch.
"'..., das klingt nach politischem Kram. Und das ist genau der Kram, in den man sich tunlichst nicht einmischen sollte.'"
Es ist schon eine Weile her, dass ich "Dead Lions", den Vorgänger von "Real Tigers", gelesen habe. Doch sobald ich die erste Seite von "Real Tigers" aufgeschlug, hat es sich angefühlt, als ob ich nach Hause gekommen wäre. Nach wenigen Sätzen war ich wieder gefangen in der Welt der lahmen Gäule. Was diese Krimi-Serie auszeichnet, ist zunächst einmal das schräge Setting sowie der Unsympath Jackson Lamb, der zusammen mit einem Team aus tragischen Gestalten, den Geheimdienst aufmischt. Der Aufbau dieses Teils ähnelt denen, der anderen Romane dieser Krimireihe. Mick Herron greift also auf eine bewährte Vorgehensweise zurück. Doch tatsächlich kann ich davon nicht genug bekommen, solange die Spannung stimmt. Und die stimmt in "Real Tigers" definitiv. Relativ kurze Kapitel, die gerne mit einem Cliffhanger enden sowie Tempowechsel in der Erzählung sorgen dafür, dass dem Leser nicht langweilig wird. Mick Herron zieht im Zusammenspiel mit der Handlung gerne mal das Tempo an. Wenn es also zur Sache geht - denn auch ein lahmer Gaul kann zum Schlachtross werden -, fährt Mick Herron das Erzähltempo bis zur Atemlosigkeit hoch. Das hat mir ausgesprochen gut gefallen. 
"Es geht nicht nur darum, dass man ab und an über ein Minenfeld tanzen muss, mein Junge, hatte irgendein alter Sack zu ihm im Parlament gesagt. Die Kunst ist, dass du's mit einem Lächeln auf der Visage tust."
Hinzu kommt der knochentrockene Humor in diesem Roman. Trotz aller Aversionen, die Jackson Lamb hervorruft, ist durch sein sehr spezielles Auftreten und seinen eigentümlichen Verhaltensweisen für Spaß gesorgt. Der unberechenbare Lamb sorgt für schräge und lustige Überraschungsmomente. Und dank verblüffender Lebensweisheiten, die zwar ironisch gemeint sind, lernt der Leser noch für's Leben. 

Mein Fazit:
Spannend, lustig und schräg. Mit Mick Herron und seinen Slow Horses wird es nie langweilig. Eine Krimi-Serie der besonderen Art!

© Renie





Sonntag, 13. Dezember 2020

Florian L. Arnold: Die Zeit so still

Quelle: Pixabay/harutmovsisyan
Eine Stimmung wie bei Edgar Allan Poe, Lebensumstände wie bei George Orwells "1984", dazu eine Seuche, die an was wohl? erinnert. Mit anderen Worten: schaurig-schön und düster, bedrückend und realistisch ... das ist die Novelle "Die Zeit so still" von Florian L. Arnold.

Die Geschichte, welche der Autor erzählt, könnte in Kürze Wirklichkeit werden. Darum geht es:
Eines Nachts begegnen sich zwei Fremde in einer Straßenbahn. Der Eine ist der Fahrer der Bahn, der Andere ein Fahrgast - überhaupt der erste seit sehr langer Zeit. Denn in der Stadt, in der wir uns befinden, ist das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen. Es herrschen Ausgangssperren. Die Menschen in dieser Stadt dürfen ihre Wohnungen nicht verlassen, denn eine tödliche Seuche wütet seit geraumer Zeit in dieser Gegend. Die Oberen dieser Stadt sahen sich gezwungen, einen Lockdown über die Stadt zu verhängen, der jenen, den wir selbst momentan in Corona-Zeiten erleben, als einen Wellness-Aufenthalt zuhause erscheinen lässt. In dieser Stadt werden die Menschen überwacht. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird streng bestraft. 
Quelle: Mirabilis
"Anfangs war ja nicht alles von Grund auf anders geworden.
Das hätte ihm damals mal jemand sagen sollen:
daß das alles von Grund auf anders sein wird und daß es weichen wird, dieses anfängliche Amüsement in ihm über den so aufgeregten Tonfall allerorten und den Zorn der Befürworter harter Maßnahmen und den Zorn derer, die diese Maßnahmen ablehnten ..."
Wir wissen nicht, seit wann die Menschen in der Isolation leben müssen. Vermutlich sind es bereits Jahre. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Einer, der sich über die Ausgangssperre hinwegsetzt, ist der einsame Fahrgast der Straßenbahn. Das Aufeinandertreffen der beiden Protagonisten ist zunächst von Misstrauen geprägt. Zu groß ist die Furcht vor Denunziantentum. Doch im Verlauf der Nacht, in der die beiden Männer diese Stadt durchqueren, entwickelt sich das Misstrauen zu Nähe. Die Beiden beichten sich in dieser Nacht ihre persönlichen Geschichten.

Das Szenario, das wir hier erleben dürfen, erscheint surreal. Zwei Männer, die in einer beleuchteten Straßenbahn durch die stockdunkle Nacht fahren. In der Straßenbahn, auf engstem Raum, findet die Handlung in Form eines Gespräches statt. Außerhalb dieses erleuchteten Kokons herrscht Düsternis, die Stadt ist wie ausgestorben, als ob es hier kein menschliches Leben mehr gäbe. Das ist so schaurig, dass allein bei der Vorstellung dieses Szenarios der Adrenalinspiegel steigt. Und immer wieder ertappt man sich dabei, Parallelen zu unserer heutigen Zeit zu suchen.

Aber diese Novelle würde auch ohne den Bezug auf die realen Corona-Gegebenheiten funktionieren. Nicht umsonst habe ich zu Beginn meiner Besprechung den Vergleich zu Edgar Allan Poe herangezogen. Denn Stimmung und Szenerie haben große Ähnlichkeiten mit den Kurzgeschichten des Großmeisters der Schauerliteratur. Der Autor Florian L. Arnold erzeugt mit einer unglaublichen Sprachgewalt eine Stimmung, die einerseits beklemmend ist, aber dennoch durch die Bilder, die in der Phantasie entstehen, fasziniert.

Wenn man die erste Seite des Textes aufschlägt, wird man an ein sehr reduziertes Gedicht erinnert:
Im weiteren Verlauf finden sich kurze Textabschnitte, die sich jedoch mit der Zeit verdichten und kompakter werden. Diese Gestaltung ist geschickt gewählt, lassen sich doch hier Parallelen zu der Handlung sehen: aus der anfänglichen Isolation, die von Leere, Langeweile und Untätigkeit bestimmt ist - also einer erzwungenen reduzierten Lebensweise - wählt einer der Protagonisten (der spätere Fahrgast) einen Weg, der deutlich mehr zu bieten hat. Die Ereignisse, an denen er während seines Weges beteiligt ist, sind keineswegs besonders. Doch sie sind immer noch mehr als das Nichts, das er allein in seiner Wohnung hatte. Unser Protagonist kehrt also ins Leben zurück. Und gleichzeitig werden auch die einzelnen Textabschnitte dieser Novelle großzügiger. Dieses stilistische Mittel habe ich als ungewöhnlich empfunden. Und dafür hat es mich umso mehr begeistert.

Es gibt noch eine weitere Besonderheit in der Gestaltung des Textes: Die Novelle hat unzählige Randbemerkungen. Dies sind Textbruchstücke unterschiedlicher Quellen und können z. B. allgemeine Parolen der Behörden dieser Stadt sein, die im Zusammenhang mit der Seuche stehen, aber auch Funkmitschnitte, welche die Aktivitäten des Überwachungen dokumentieren oder einfach nur Gedanken, die unseren Protagonisten für einen kurzen Moment durch den Kopf schießen. Das ist einerseits originell und hat andererseits den Effekt, dass man sich intensiver mit der Geschichte auseinandersetzt, da man die einzelnen Randbemerkungen mit dem jeweiligen Handlungsstatus in Einklang bringen möchte.

Diese Ausgabe von "Die Zeit so still" ist von dem Autor Florian L. Arnold gestaltet worden. Sowohl die Illustration des Umschlags als auch die vorhandenen Schwarz-Weiß-Grafiken in diesem Buch stammen von ihm. Die Grafiken unterstreichen dabei perfekt die beklemmende Stimmung in diesem Buch genauso wie das Überwachungsszenario. Jede Grafik hat ein kreisrundes Format, das mich doch sehr an den überwachenden Blick durch ein Teleobjektiv erinnert hat

Fazit:
Die Novelle "Die Zeit so still" erzählt eine schaurig-schöne Geschichte, die dystopisch und unglaublich realistisch ist. Bemerkenswert ist dabei die Sprachgewalt des Autors genauso wie die ungewöhnliche Gestaltung dieses Buches. Es fällt mir schwer, mit meiner Rezension diesem Buch nur ansatzweise gerecht zu werden. Wer diese Geschichte nicht liest, dem entgeht etwas.

© Renie