Sonntag, 28. Juni 2020

Dacia Maraini: Die stumme Herzogin

Quelle: Pixabay / Bru-nO
Marianna Ucrìa, eine italienische Adelige des 18. Jahrhunderts, ist die Protagonistin des Romans "Die stumme Herzogin" von Dacia Maraini. Es würde mich nicht wundern, wenn einem dieser Name nichts sagt. Denn wer kennt sich schon mit italienischem Adel dieser Ära aus. Dennoch lohnt es sich, sich mit der Herzogin Marianna vertraut zu machen. Und dazu hat man ausreichend Gelegenheit in diesem Klassiker der italienischen Literatur.
Der Titel des Romans erzählt es schon: Die Herzogin Marianna ist (taub)stumm. Sie wurde nicht taubstumm geboren. Ein Vorfall in ihrer Kindheit muss der Auslöser für ihre Behinderung gewesen sein. Und in ihrer Kindheit setzt dieser Roman ein. Wir lernen die Herzogin als kleines Mädchen kennen, das mit ihrer adeligen Familie - ihren Eltern und einer Vielzahl an Geschwistern - in Sizilien lebt. Von Kapitel zu Kapitel gewährt uns die stumme Herzogin einen Einblick in ihr Leben. Zwischen den einzelnen Episoden ihres Lebens gibt es teilweise große Zeitabstände, so dass man das Leben der Herzogin im Zeitraffer an sich vorüberziehen sieht. Sie wird mit 13 Jahren mit ihrem 30 Jahre älteren Onkel verheiratet. Eine Frau mit einem Makel wie sie ihn hat, hat nicht viele Möglichkeiten, was das Angebot an potenziellen Ehemännern betrifft und erst recht kein Mitspracherecht. Sie lebt mehr als 30 Jahre an der Seite des gewalttätigen und herablassenden Mannes und bekommt 5 Kinder mit ihm. Durch den Wohlstand ihres Ehemanns ist sie nach seinem Tod versorgt und kann den Versuch starten, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben, die jedoch selten mit den Vorstellungen ihrer Kinder und Geschwister, übereinstimmen.
"Die Vergangenheit war wie eine lange Schleppe, die sie unter ihrem Rock aufgewickelt hatte und die nur hin und wieder zum Vorschein kam. Die Zukunft war wie ein Nebelfleck, in dem bunte Lichter wie von einem Karussell aufleuchteten. Und sie stand dort, halb Igel, halb Hase, endlich einmal den Kopf frei von allen Lasten, in Gesellschaft von Leuten, denen ihre Taubheit herzlich gleichgültig war und die fröhlich mit ihr sprachen, indem sie großmütig unwiderstehliche Grimassen zogen."
Quelle: Folio Verlag
Die Herzogin ist eine faszinierende Person. Aufgrund ihrer Behinderung wächst sie anders auf als andere adelige Frauen dieser Zeit. Sie hört nichts, und sie kann nicht sprechen. Die einzige Möglichkeit, mit ihren Mitmenschen zu kommunizieren, besteht in der Verwendung von Feder und Papier, die sie immer bei sich trägt. Sie scheint allein mit ihren Gedanken in einer Blase zu leben. Die wenigsten bekommen mit, welche geistreiche und intelligente Frau sich hier entwickelt. Da sie der beiden Fähigkeiten des Hörens und des Sprechens beraubt ist, konzentriert sie sich auf ihre verbleibenden Sinne. Sie malt und liest. Die Bücher, die sie verschlingt, sind nicht unbedingt das, was eine Frau in ihrer Position lesen sollte. Sie beschäftigt sich mit politischen und gesellschaftskritischen Schriften. Nur leider kann sie sich nicht darüber austauschen.

Dacia Maraini hat mit ihrer Erzählweise dieses sehr spezielle Leben der Herzogin perfekt wieder gegeben. Die Handlung wird aus der Sicht von Marianna erzählt. Dabei wird der Leser in ihre Gedankenwelt eingeschlossen. Im Fokus steht die Visualisierung des Geschehens. Dabei verwendet Frau Maraini einen Sprachstil, der vor lauter farbenprächtigen Bildern, die im Kopf entstehen, überbordet. Im krassen Gegensatz dazu steht die Stille, der man durch die Ich-Perspektive der Herzogin ausgesetzt ist. Denn Geräusche finden in diesem Buch so gut wie gar nicht statt. Das Lesen findet also "klangisoliert" statt.
"Heute regnet es. Das Land ist verschleiert: Jeder Busch, jeder Baum trieft vor Wasser, und das Schweigen, das Marianna gefangen hält, erscheint ihr heute ungerechter als sonst. Eine tiefe Sehnsucht nach den Klängen, die den Anblick der glänzenden Äste, der von Leben wimmelnden Landschaft begleiten, packt sie an der Kehle. Wie sich wohl der Gesang einer Nachtigall anhört? Sie hat so viele Male in Büchern gelesen, dass dies der süßeste Gesang sei, den man sich vorstellen kann, etwas das einem das Herz zum Klingen bringt. Aber wie?"
Die stumme Herzogin ist ein feministisches Buch. Denn wir haben es mit einer Protagonistin zu tun, die entgegen aller Widerstände versucht, sich aus dem gesellschaftlichen Korsett zu befreien. Von klein auf anders, bewahrt sie sich diese Andersartigkeit und versucht, ihren eigenen Weg zu gehen und ihr eigenes Glück zu finden - unabhängig jeglicher gesellschaftlicher Konventionen. In Anbetracht der Zeit, in der die Herzogin tatsächlich gelebt hat, war dies ein mutiges Unterfangen. Denn zu jener Zeit war die Frau dem Manne untertan und diente bestenfalls als Dekoration, aber auf jeden Fall der Fortpflanzung. Mit 5 Kindern hat Marianna zumindest dieses Soll erfüllt. Und ansonsten war ihr Leben ein ewiger Kampf gegen den Versuch der Gesellschaft, Sie zu unterdrücken, weil sie a.) eine Frau war und b.) behindert war. Trotz aller Rückschläge, die sie während dieses Kampfes erdulden musste, hat sie zumindest in der Vorstellung von Dacia Maraini geschafft, ihren Weg zu gehen. Und man hofft, dass ihr dies auch im echten Leben gelungen ist.

Leseempfehlung!

© Renie


Samstag, 6. Juni 2020

Manuel Hirner: Symphonie der Stille

Quelle: Pixabay / susan-lu4esm
Wieder mal habe ich über den literarischen Tellerrand geblickt, und wieder mal hat es sich gelohnt. Ich habe mich aus meiner Komfortzone "Gegenwartsliteratur" heraus bewegt und habe einen Ausflug in das Genre "Fantasy" riskiert.
Diesmal habe ich mir Manuel Hirners Roman "Symphonie der Stille" vorgenommen. Der widersprüchliche Titel, genau wie Cover und Plot dieses Romans haben meine Neugierde geweckt.

Der von Geburt an taube Junge Luctu (12) soll die Menschheit retten. Denn diese wird von der Traumzone bedroht, welche sich nach und nach über die Erde ausbreitet und in der kein Leben bestehen kann. Die Ausbreitung der Traumzone nahm ihre Anfänge, als der Urzeitmolch Cudu in tiefem Schlaf versunken und seitdem nicht mehr aufgewacht ist. Luctu wurde auserkoren, den Molch mit einem Lied zu wecken. Denn die Überlieferung besagt, "dass nur das Lied des Tauben Cudu aufwecken und die Traumzone aufhalten könne."
Zugegeben, das hört sich sehr schräg an: Traumzone, Urzeitmolch, ein Gehörloser, der  musizieren und die Welt retten soll... Hier wird dem Leser, der bisher einen großen Bogen um Fantasyliteratur gemacht hat, einiges abverlangt, zumal die Sage um den Molch auch gleich zu Beginn dieses Roman erzählt wird. Der Gedanke, dieses Buch in die Ecke zu pfeffern, ist da doch sehr verlockend. Aber was sind schon sechs Seiten (so kurz dauert die einleitende Geschichte über den Molch Cudu), wenn man danach Hunderte von Seiten faszinierender und fantasievoller Spannung vor sich hat? Denn das erwartet den Leser in "Symphonie der Stille".
Quelle: A. Fritz Verlag
"Aller Schmerz der Welt schien in den Saiten der Violine gebannt, allein befreit durch den sachten Druck seiner Finger, und in einem jedem wuchs der Wunsch hinauszugehen, weg von all dem Leid der Menschen in ein Land der lebenden Träume, doch wohl wissend, dass jener Ort der Sehnsucht unerreichbar bliebe."
Ich behaupte frech, dass sich der Autor Manuel Hirner bei seinem Roman von berühmten Autoren-Kollegen inspirieren ließ, allen voran J. R. R. Tolkien oder Michael Ende. Die Ähnlichkeit zu der Herr der Ringe-Trilogie ist nicht von der Hand zu weisen. Es wäre jedoch unfair, in Manuel Hirner einen Nachahmungstäter zu sehen. Denn die Welt, die er in "Symphonie der Stille" schafft, ist eine eigene und kann durchaus mit der berühmten Vorlage mithalten.
Wie bei Tolkien ist ein Underdog dazu auserkoren, das Böse aufzuhalten. Dabei führt ihn sein Weg in die Traumzone. Unterstützung erhält er dabei von den unterschiedlichsten Charakteren, die ihn bei seiner Aufgabe begleiten und beschützen sollen. Es geht darum, dass Böse aufzuhalten. Denn die Traumzone erschafft ihre eigenen Kreaturen. Und diese sind den Menschen nicht wohlgesonnen. Mit viel Liebe zum Detail konzentriert sich der Autor dabei auf die Beschreibung dieser Kreaturen, so dass man sich jede Figur plastisch vorstellen kann. Gleichzeitig hat der Autor mit der Traumzone eine Welt erschaffen, die in großen Teilen ihren eigenen Naturgesetzen unterliegt. Menschen, Tiere, Natur haben sich den bösartigen Gegebenheiten der Traumzone angepasst, leider nicht zu ihrem Vorteil.
"'Es gibt viele Arten von Kreaturen in der Traumzone, vielleicht mehr als außerhalb. Die so denke ich größte Gruppe bilden jene, die aus anderen Wesen entstanden sind, wie die grauen Männer. Nicht alles stirbt, was in die Grenzen der Zone gerät, vieles verändert sich oder überlebt in einer anderen Form. Einige dieser Kreaturen sind mit den Jahren gigantisch groß geworden, viel größer, als es ihnen unter normalen Umständen möglich gewesen wäre. ..'"
Die Welt, die Manuel Hirner beschreibt ist bösartig geworden.
Und durch diese Welt kämpfen sich der taube Junge Luctu und seine Gefährten. Dabei erleben sie unglaubliche Abenteuer, deren Ausgang aufgrund der Fremdartigkeit der Welt, in der sie sich bewegen, für den Leser nicht vorherzusagen ist. Das sorgt für ungeheure Spannung.

Die Protagonisten in diesem Buch sind natürlich der Junge und seine Gefährten. Dennoch lohnt es sich, einen Blick auch auf andere Charaktere zu werfen. Von Königen bis zu einfachen Leuten ist hier alles vertreten. Und das Zusammenspiel der Figuren ist dabei sehr komplex und ausgefeilt. Und wie es sich gehört, haben wir natürlich auch mindestens einen Schurken unter den Menschen. Wer das sein könnte, lässt sich nur vermuten. Denn scheinbar hat nahezu jeder Charakter in diesem Roman seine eigenen Geheimnisse, die es zu erkunden gilt.
Ein großes Ärgernis gab es allerdings für mich in diesem Roman: Wir erfahren nicht, wie die Geschichte um den tauben Jungen, der die Welt retten will, ausgehen wird. Denn die Geschichte hört sehr abrupt auf und schreit geradezu nach einer Fortsetzung. Auch hier gibt es eine frappierende Ähnlichkeit zu der Tolkien-Trilogie. Nur, dass man bei Tolkien sicher sein konnte, dass die Geschichte zu Ende geschrieben wurde. Bei "Symphonie der Stille" bin ich mir nicht sicher und hoffe, dass die Geschichte weitergeht.

Fazit:
Dieser Roman ist unglaublich spannend und steckt voller kreativer Phantasie. Die Lektüre hat einfach nur Spaß gemacht, so dass mich die Ähnlichkeit zu anderen berühmten Fantasygeschichten in keinster Weise gestört hat. Was mich jedoch gestört hat, ist das offene Ende, das bei mir einen unfertigen Eindruck der Geschichte hinterlässt. Wo bleibt nur die Fortsetzung?

© Renie