Donnerstag, 29. März 2018

James Ellroy: Die Rothaarige

Quelle: Pixabay/OpenClipart-Vectors
"Ellroy ist der wohl wahnsinnigste unter den lebenden Dichtern und Triebtätern der amerikanischen Literatur." (Süddeutsche Zeitung)

"Er schreibt die blutigsten Krimis Amerikas." (ZEITmagazin)

"Anarchisch kaputt, sexbesessen und mit einem unheimlichen Gespür für alles Pathologische, Zerstörerische ... Aus seinen Büchern weht der Wind des Bösen." (Bücherjournal)

Nimmt man die Pressemeldungen für bare Münze, scheint James Ellroy auf der dunklen Seite der Literatur zu leben. Seine Romane sind düster, brutal, verstörend, Angst einflößend. In ihnen scheint Ellroy den schwarzen Teil seiner Seele auszuleben. Welche Motivation ihn dabei antreibt, schildert er in seinem autobiografischen Roman "Die Rothaarige". Die Geschichte, die er hier erzählt, ist einfach unvorstellbar: Als Ellroy 8 Jahre alt ist, wird seine Mutter brutal ermordet. Ihr Tod wurde nie aufgeklärt. Nach ca. 40 Jahren entschließt sich nun Ellroy, die Aufklärung selbst in die Hand zu nehmen. Von diesem Aufklärungsversuch und den Hintergründen des Verbrechens handelt dieser Roman.
"Ich dachte, ich würde dich kennen. Ich tat meinen kindischen Hass als intimes Wissen ab. Ich habe nie um dich getrauert. Ich habe die Erinnerung an dich bekämpft." (S. 118)
Der Roman ist in 4 Teile gegliedert:

1. Der Mord
Im Juni 1958 wird die Leiche von Jean Ellroy gefunden. Sie wurde vergewaltigt und erdrosselt. Die Hintergründe der Tat sind unbekannt. Potenzielle Täter gibt es einige. Zeugenbefragungen bringen ein paar Spuren, die jedoch im Sande verlaufen. Dieser Teil des Romanes liest sich wie ein Polizeibericht und liefert ein genaues Bild der Polizeiarbeit im früheren Los Angeles. Bezeichnend für die Polizei der damaligen Zeit war ein hohes Maß an Korruption und das Verfolgen persönlicher Interessen. Die Verbrechensquote war extrem hoch, die Aufklärungsquote relativ gering. Die Polizei ertrank förmlich in Mordfällen, so dass ein Mord wie der an Jean Ellroy schnell ad acta gelegt wurde. Man konzentrierte sich lieber auf Mordfälle, die eine höhere Chance einer Aufklärung boten. Ellroy vermittelt dabei ein hässliches Bild von Los Angeles, das wenig mit der schillernden und glamourösen Stadt der Engel zu tun hat.
In diesem ersten Teil nimmt James Ellroy eine Nebenrolle ein. Trotzdem er der kleine Junge ist, dessen Mutter gerade ermordet wurde, bleibt er im Hintergrund. Man erfährt nichts über sein Seelenleben. Bestenfalls präsentiert er sich bei den Ermittlungsarbeiten als einer von vielen Zeugen. Denn er wird von der Polizei wiederholt zu dem Verhältnis  seiner Eltern befragt. Das Foto des Buchcovers zeigt im Übrigen den kleinen James in einer, von der Presse konstruierten Situation, zu einem Zeitpunkt, an dem das Verbrechen an Ellroys Mutter noch von öffentlichem Interesse war. Doch dieses Interesse hielt leider nicht lange an. Erst Jahre später, als Ellroy als Schriftsteller bekannt ist, kommt dieses Interesse wieder hoch.
Quelle: Ullstein
"Ein Mann mit einer Kamera ging mit mir nach hinten zu Mr. Kryckis Geräteschuppen. Er drückte mir eine Ahle in die Hand und stellte mich an eine Werkbank. Ich hielt einen kleinen Holzblock fest und tat so, als würde ich ihn bearbeiten. Ich schaute in die Kamera - ohne zu blinzeln, zu lächeln, zu weinen oder zu zeigen, wie gut es mir ging." (S. 120)
2. James Ellroys Kindheit und sein Weg zum Schriftsteller
Der persönlichste und emotionalste Teil dieses Romans: Ellroy war ein Scheidungskind, instrumentalisiert von seinen Eltern, um ihn gegen den jeweils anderen Elternteil aufzubringen. Sein Vater hatte dabei die größere Überzeugungskraft und konnte James mit seiner Ablehnung und seiner Wut auf Mutter Jean anstecken. Anfangs himmelt James seinen Vater an. Erst Jahre später begreift er, dass sein Vater zeitlebens ein Schwätzer war, der sich sein berufliches wie menschliches Versagen schön reden konnte. Nach dem Tod seiner Mutter entwickelt sich James zu einem schwierigen Kind und Jugendlichen, der nach Aufmerksamkeit lechzt, indem er andere mit rassistischen Ansichten schockiert. Sein Rassismus ist für ihn lediglich Mittel zum Zweck. Ob seine Äußerungen im Widerspruch zu seiner tatsächlichen Überzeugung stehen, ist für mich leider nicht deutlich geworden. Sein Vater ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, so dass er nicht mitbekommt, dass sein Sohn immer mehr abdriftet: Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Strafvollzug. James Ellroy nimmt alles mit und landet in der Gosse. Dass er schließlich wieder die Kurve kriegt und Schriftsteller wird, liegt unter Anderem an seiner Liebe zu Kriminalromanen, die er bereits in seiner Kindheit verschlungen hat und die seine Fantasie beflügelt haben. Die Verbrechen, von denen er liest, beschäftigen ihn. Er träumt sich eine brutale Wirklichkeit zurecht, in der seine Mutter nicht selten eine Rolle spielt. Es ist seine Art, sich seiner Mutter anzunähern. Dabei erkennt er, dass er sehr wenig über seine Mutter weiß. Das Bild, das er von ihr hatte, indoktriniert durch seinen Vater, erweist sich als zweifelhaft. Daran hat er Jahre zu knabbern. Vierzig Jahre später erkennt er, dass der einzige Weg, seine Mutter zu verstehen darin liegt, dass Verbrechen an ihr aufzuklären. Im Zuge der Nachforschungen erhofft er sich, dass ihm der Mensch Jean Ellroy näherkommt.
"Mein Vater war ein Lügner. Meine Mutter eine Schwindlerin. Ich hatte sie sechs Jahre zusammen und vier Jahre getrennt erlebt. Ich verbrachte weitere sieben Jahre mit meinem Vater. Immer wieder fing er von meiner Mutter an, nur um vernichtend über sie herzuziehen. Seine Tiraden waren selbstgefällig und gehässig. Seine Tiraden waren suspekt. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verleumdete er meine Mutter bei jeder Gelegenheit." (S. 465)
3. Bill Stoner
Bill Stoner ist der Kriminalbeamte, mit dem James Ellroy versucht, das 40 Jahre zurückliegende Verbrechen an seiner Mutter aufzuklären. Anhand des langjährigen Polizeidienstes von Stoner, präsentiert Ellroy wie im ersten Teil ein Stück amerikanischer Polizeigeschichte. Bill Stoner geht in den Ruhestand. In den letzten Jahren hat er in der Abteilung für ungelöste Mordfälle gewirkt, wo er auch einige beachtliche Erfolge erzielen konnte. Der Leser lernt Stoner als einen erfahrenen, besonnenen und hartnäckigen Polizisten kennen, der sich an einem Mordfall festbeißen kann. Und solch einen Menschen braucht Ellroy, um an sein Ziel zu kommen.

4. Die Aufklärung des Mordes an Jean Ellroy
Stoner und Ellroy schweißt die lang andauernde Suche nach Jeans Mörder zusammen. Es gibt Momente der Hoffnung, aber auch der Verzweiflung. Viele Spuren erweisen sich als Sackgasse. Und trotzdem geben die beiden nie auf. Es ist schon faszinierend, wie es ihnen gelingt, ein Ermittlungspuzzle zusammenzusetzen, das seit über 40 Jahren herumliegt und dessen Einzelteile in großen Teilen Amerikas verstreut sind.
"Wir bekamen Namen aus der Akte. Wir bekamen Namen von alten Cops. Wir bekamen Namen von alten Kneipenhockern und Leuten, die ihr Leben lang nicht aus El Monte herausgekommen waren. Wir arbeiteten acht Monate lang an dem Fall. Wir säten Namen und ernteten Namen. Wir brachten keinen immer größer werdenden Kreis von Namen zustande. Wir hatten es mit einem ausgedehnten Ort und einem großen Abschnitt verlorener Zeit zu tun. Wir gaben nicht auf. (S. 409)
An diesem Roman hat mich zunächst die Idee fasziniert, ein Verbrechen, das 40 Jahre zurückliegt, aufklären zu wollen. Die größere Faszination ging jedoch im Verlauf der Handlung von James Ellroys Sprachstil aus.
Im ersten Teil wirkt der Roman wie der Text eines Polizeiberichtes: eine Aneinanderreihung von Fakten, sehr nüchtern dargestellt. Da dieser erste Teil auch gleichzeitig ein Bericht über die Ermittlungsarbeit ist, ging ich davon aus, dass sich der Sprachstil mit der Zeit ändern wird. Fehlanzeige! James Ellroy hat diesen Sprachstil beibehalten. Nun sollte man meinen, dass ein nüchterner und emotionsloser Sprachstil nicht gerade das probate Mittel ist, um Spannung zu vermitteln und den Leser zu fesseln. Wieder Fehlanzeige. Man wird sich wundern, wie wenig Stilmittel nötig sind, um den Leser zu packen und emotional zu berühren: James Ellroy konzentriert sich auf das Wesentliche. Keine Ausschmückungen, Adjektive oder bildhafte Sprache. Subjekt - Prädikat - Objekt ... mehr braucht James Ellroy nicht, um deutlich zu machen, dass nichts schlimmer sein kann als die Realität. Denn das muss man sich bei diesem Buch immer wieder vor Augen führen: James Ellroy berichtet über Fakten.

Fazit:
Ein faszinierender Roman, der mich durch die persönliche Geschichte des Autors überzeugt hat sowie dem fast unmöglichen Versuch, ein 40 Jahre altes Verbrechen aufzuklären. Hinzu kommt der unglaubliche Sprachstil des Autors, der mit ganz wenigen sprachlichen Mitteln eine ungeheure Spannung erzeugen kann. Leseempfehlung!

© Renie



Freitag, 23. März 2018

Anne Reinecke: Leinsee

Quelle: Pixabay/drokonov
Irgendwo in Deutschland gibt es einen Ort, den gibt es gar nicht: Leinsee - eine märchenhafte Idylle und Titel des Romans von Anne Reinecke.

In Leinsee, zu dem natürlich auch ein See gehört, steht das Domizil des berühmten Künstlerehepaars Ada und August Stiegenhauer, die sich durch ihre Harz-Plastiken in der internationalen Kunstszene einen Namen gemacht haben. In Leinsee hielten die beiden Hof und gewährten manch einem Stiegenhauer-Jünger ihre Gunst, indem sie ihm Einblick in ihr Leben und Schaffen ermöglichten.
Ada und August waren eine Einheit. Niemandem wäre es gelungen, die Verbundenheit der beiden Seelenverwandten zu stören. Selbst Karl nicht, ihrem Sohn, der schon als Kind in die Welt hinausgeschickt wurde. Seine Schulzeit verbrachte er in Internaten. In den Ferien kehrte er nach Leinsee zurück. Doch immer war da dieses Gefühl, dass er ein Störfaktor in der Verbindung Ada/August war.
"Sie waren Ada und August, August und Ada, das war alles, und alles andere war zuviel." (S. 55)
Nach seiner Schulzeit schlägt Karl ebenfalls eine Künstlerlaufbahn ein. Er hat das Talent seiner Eltern geerbt, ist erfolgreich - ob ihm dabei der Ruf der Eltern Schützenhilfe leistet, sei dahingestellt. Von Leinsee hält er sich fern und versucht, sein eigenes Leben  in Berlin zu leben.
Als sein Vater Selbstmord begeht und die Mutter an einem Gehirntumor operiert wird, kehrt der mittlerweile 28-jährige Karl notgedrungen nach Leinsee zurück. Während seine Mutter noch im Krankenhaus liegt, quartiert sich Karl in seinem Elternhaus ein. Zunächst ist er allein und nutzt die Zeit, sein eigenes Leben zu hinterfragen. Er lässt Berlin, den Trubel um seine anstehende Kunstausstellung sowie seine Lebensgefährtin Mara erstmal hinter sich und lässt die Stille und den Zauber von Leinsee auf sich wirken.
Quelle: Diogenes

Dabei freundet er sich mit einem kleinen Mädchen aus der Umgebung an, die eines Tages in einem Baum in seinem Garten sitzt. Die Freundschaft, die sich hier entwickelt, bedarf keiner Worte. Die Kommunikation zwischen den Beiden findet hauptsächlich non-verbal, anhand von kleinen Geschenken und Gesten statt. Wie bei seinen Eltern scheint sich hier eine Seelenverwandschaft anzubahnen. Irgendwann holt Karl die Berliner Wirklichkeit jedoch wieder ein, und er kehrt zurück in sein altes Künstlerleben. Sechs Jahre müssen verstreichen, bis Karl weiß, was er will. Die Sehnsucht nach Leinsee war unterschwellig immer bei ihm vorhanden und am Ende kehrt er zurück.
"Es ging ihm gut mit seinem Entschluss. Er misstraute sich selbst deswegen, aber es fühlte sich richtig an. Karl wollte nicht weg. Er wollte seine Mutter im Atelier lachen sehen, auch wenn es geschummelt war. Er wollte hierhergehören. Das hatte er schon immer gewollt." (S. 205)
Ich möchte mit meiner Beschreibung nur einen Teil dessen wiedergeben, was dieses facettenreiche Buch zu bieten hat. Es wäre schade für die nachfolgenden Leser, wenn ich weitere Details zu diesem Roman ausplaudere. Daher möchte ich mich von jetzt an auf einige wenige Aspekte dieses Buches konzentrieren:

Leinsee ist ein farbenfroher Roman 
Damit ist weder die Abbildung auf dem Cover gemeint noch irgendwelche bunten Illustrationen. Nein, Anne Reinecke spielt verbal mit Farbe. Jedes Kapitel - und davon gibt es einige, denn die Kapitel sind sehr kurz gehalten - ist mit einem ganz besonderen Farbton überschrieben. Und man wird staunen, was es alles für Farben gibt: Regentageblau - Schaumstoffgelb - Föhnblond ... um nur einige zu nennen. Die Fantasie kennt keine Grenzen. Diese Farben haben einen Bezug zu dem jeweiligen Kapitel. Und man ertappt sich bei dem Versuch, diesen Bezug herauszuarbeiten. Das macht einfach nur Spaß und fordert die volle Aufmerksamkeit beim Lesen. Wobei es nicht schwierig ist, die Aufmerksamkeit zu halten. Denn Anne Reineckes Sprachstil macht es dem Leser leicht: kurze Sätze, angenehmer Lesefluss, subtiler Humor, der mit der Vorstellungskraft des Lesers spielt. Lesen wird zum Hochgenuss.
"'Gott weiß', das hatte der Vater schon immer gesagt. Immer schon, obwohl er überhaupt nicht religiös gewesen war. Als Kind hatte Karl geglaubt, das sei eine Farbe: allerweißestes Weiß, die Bartfarbe Gottes oder so." (S. 39)
Leinsee ist ein Findungsroman
Karl stand von Kindheit an im Schatten seiner Eltern. Durch das Abgeschobenwerden auf Internate fehlt ihm das Verhältnis, das zwischen Eltern und Kindern normalerweise vorherrscht. Er ist quasi ohne Eltern groß geworden. Als Orientierung hatte er lediglich den Ruhm seiner Künstlereltern. Vielleicht ist der eigene Werdegang ins Künstlerdasein ein Versuch, seinen Eltern näher zu kommen. Anfangs ähnelt seine Kunst der seiner Eltern. Als seine Eltern tot bzw. im Krankenhaus sind, nutzt er die Zeit in Leinsee, sich Gedanken über sein Leben zu machen. Bisher lebte er fremdbestimmt. Andere aus einem Umfeld, inklusive Lebensgefährtin Mara, entschieden für ihn, was das Beste für ihn ist. Mit der Episode "Leinsee" nabelt er sich endlich von den Anderen ab und entscheidet fortan selbst über sein Bestes. Diese Entwicklung macht sich auch in seiner Kunst bemerkbar. Denn Karl schlägt künstlerisch neue Wege ein.

Leinsee ist ein Liebesroman
Auch wenn die Aura von Leinsee von der Liebe zwischen Ada und August bestimmt wird, geht es am Ende um die besondere Beziehung zwischen Karl und Tanja. Anfangs ist der Umgang der beiden miteinander schwer zu verstehen. Karl sieht in dem unbeschwerten und fantasievollen Verhalten Tanjas ein Abbild seiner nichtvorhandenen Kindheit. Er lässt sich auf ihre Kindereien ein, wird selbst nochmal zum Kind. Mit den Jahren verändert sich das Verhältnis der Beiden. Tanja wird reifer, legt das Kindliche ab. Fast scheint es, als ob Karl auf sie gewartet hat.
Am Ende kriegen sich Karl und Tanja, oder vielleicht auch nicht. Denn das bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.
"Die Möglichkeit, dass sie kommen und ihm zuschauen würde, reichte schon aus, damit Karl sich Mühe gab. Er ließ auch tagsüber das Licht an, damit Tanja ihn sehen konnte." (S. 271)
Ich gebe zu, dass ich meine Schwierigkeiten mit der Beziehung zwischen Karl und Tanja hatte. Anfangs hat mich der Altersunterschied zwischen den Beiden gestört und das Fixiertsein von Karl auf Tanja. Sein Verhalten ihr gegenüber nahm stalkerhafte Züge an. Entweder mangelte es mir an Fantasie, mir solch ein bizarres Verhältnis zwischen einem erwachsenen Mann und einer 8-Jährigen vorzustellen. Oder ich hatte zuviel Fantasie, weil ich Karl bei seiner Fixierung auf Tanja Böses unterstellt habe. Als mit den Jahren aus dem kindlich naiven Verhältnis der Beiden eine ausgewachsene Beziehung mit allen körperlichen Aspekten wird, fühlte ich mich mit dem großen Altersunterschied zwischen den Beiden nicht wohl. Wahrscheinlich bin ich zu altmodisch für derartige Herzgeschichten.

Und dennoch war es ein großes Vergnügen für mich, diesen Roman zu lesen, was allein an dem grandiosen Sprachstil von Anne Reinecke liegt.

Fazit:
Leinsee ist ein facettenreicher und origineller Roman, der voller Überraschungen steckt: Künstlerroman, Selbstfindungsroman, Liebesroman und vieles mehr, wobei mich eher der Sprachstil als die Handlung überzeugt hat. Denn Anne Reineckes Sprachstil macht das Lesen ihres Erstlingswerk zu einem Hochgenuss.

© Renie



Über die Autorin:
Anne Reinecke, geboren 1978, hat Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur studiert und für verschiedene Theater-, Film- und Ausstellungsprojekte sowie als Stadtführerin gearbeitet. ›Leinsee‹ ist ihr erster Roman. Für das Manuskript wurde sie mit einem Stipendium der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Berlin. (Quelle: Diogenes)

Mittwoch, 14. März 2018

Andrea Katzenberger, Jana Walczyk (Ill.): Als die Namen verloren gingen

Quelle: Kirchner PR / kunstanstifter
Kinderbuchzeit auf meinem Blog! Diesmal geht es um das Bilderbuch "Als die Namen verloren gingen" von Andrea Katzenberger (Texte) und Jana Walczyk (Illustrationen), geeignet für Kinder ab 6 Jahren.
Wie immer, wenn ich ein Kinderbuch bespreche, hole ich mir Unterstützung von einem Experten. In diesem Fall ist es mein Junior, der mit seinen 12 Jahren immer noch nicht zu alt für ein Bilderbuch ist. (Ich im Übrigen auch nicht)

Renie: Bevor wir in das Buch hineinschauen: Was sagt dir der Titel des Buches?
Junior: Ich finde den Titel merkwürdig. Man kann doch keine Namen verlieren, Dinge kann man verlieren, aber keine Namen. Namen kann man höchstens vergessen. (Junior betrachtet das Cover des Buches.) Da taucht ein Junge in einem U-Boot im Meer. Sucht er jetzt Namen, die jemand im Meer verloren hat?
Renie: Wir werden sehen. Lass uns das Buch lesen.

Inhalt:
In dem 40 Seiten starken Bilderbuch geht es um die Geschichte einer Familie: Mutter, Vater und Jakob, der kleine Sohn. Oma spielt auch noch eine Rolle. In den ersten Jahren nach Jakobs Geburt ist die Familie noch sehr glücklich. Die Eltern lieben sich wie zwei Turteltäubchen. Der kleine niedliche Pups Jakob ist der Sonnenschein der Familie. Das Glück scheint perfekt. Doch mit der Zeit ändert sich der Tonfall in der Familie. Die Eltern streiten sich immer öfter. Kosenamen werden zu Schimpfwörtern. Jakob belastet die Situation. Er flüchtet sich in seine Fantasiewelt, geht mit einem Schaffel auf Abenteuerfahrt, wo er eines Tages Fanny trifft, die ebenfalls auf der Flucht ist. Die beiden werden Freunde und kehren nach Hause zurück. Mit dem Gedanken, nicht mehr allein in einer Welt streitender Erwachsener zu sein, lebt es sich einfach besser. Und am Ende wird alles gut.

Renie: Wie gefällt dir die Geschichte?
Junior: Ganz cool. Ich mag, dass Jakob mit seinem Raumschiff abdampft. Ein Schaffel ist doch ein Raumschiff, oder?
Renie: Ich denke schon. Oder ein U-Boot?
Junior: Oder ein Raumschiff, das tauchen kann. Egal. Die Abenteuer, die er erlebt, sind schon sehr wild. Eigentlich wischt er seinen Eltern eins aus, weil sie sich nicht mehr um ihn kümmern, sondern nur noch streiten.
Renie: Ist das nicht traurig, dass sich die Eltern nur noch streiten?
Junior: Jakob hat bestimmt Angst, dass seine Eltern sich scheiden lassen und ihn nicht mehr lieb haben.
Renie: Aber, dass die Eltern sich streiten hat doch nichts mit Jakob zu tun.
Junior: Mensch Mama, er ist doch noch klein. Woher soll er das denn wissen?
Renie: Aber am Ende wird doch alles gut.
Junior: Ja, das Ende ist richtig schön. Jakob findet eine Freundin, die auch noch nebenan wohnt. Und die Eltern haben sich auch wieder lieb. Wieso hat Jakob eigentlich Fanny vorher noch nie bemerkt? Wenn sie doch nebenan wohnt. Fanny ist doch richtig cool. Überleg mal, sie spielt mit Raumschiffen. Die wenigsten Mädchen spielen mit Raumschiffen.
Renie: Das ist mir auch aufgefallen. Verstehst du übrigens jetzt, warum das Buch "Als die Namen verloren gingen" heißt?
Junior: Na klar, am Anfang haben sich noch alle lieb und geben sich schöne Namen. Pillepatz ist lustig. Das habe ich ja noch nie gehört. Oder hast du mich früher etwa auch Pillepatz genannt?
Renie: Nein, ich habe dir andere Namen gegeben. Die behalten wir aber für uns. Jetzt lenk nicht ab. Wir waren bei der Bedeutung des Buchtitels.
Junior: Ach ja, als die Eltern dann anfangen, sich nicht mehr zu mögen, gehen die schönen Namen verloren. Stattdessen beschimpfen die Eltern sich.

Renie: Ok. Was sagst du zu den Zeichnungen?
Junior: Ich wünschte, ich könnte auch so malen. Auf den ersten Seiten sieht die Familie noch richtig glücklich und lustig aus. Die haben richtig Spaß. Aber dann tauchen auf einmal Tiere in den Bildern auf. Das sind die Tiere, mit denen die Eltern sich beschimpfen, also Zimtzicke, Esel und so. Und mitten drin sitzt ein kleines Äffchen, um das sich keiner kümmert. Das ist bestimmt der Jakob.
Renie: Ich mag besonders die Zeichnungen über die Reise durch die Fantasiewelten von Jakob. Da ist wirklich alles dabei: Drachen, Außerirdische, kartenspielende Fische, und sogar eine Prinzessin auf einem Einhorn.
Junior: Die Prinzessin und das Einhorn hätte man weg lassen können. Das ist was für Mädchen.
Renie: Wer sagt, dass das Buch nur für Jungen ist?
Junior: Weiß ich nicht. Hast du gesehen, dass Jakob ein Star Wars-Fan ist? Es gibt sogar einen AT-AT Walker in dem Buch.
Renie: Der gleicht die Prinzessin auf dem Einhorn ja wohl aus.
Junior: Und es gibt viele Buchstaben, die durch die Bilder fliegen. Das sind wohl die Namen, die verloren gegangen sind.
Renie: Das ist mir mal wieder nicht aufgefallen. Aber dafür habe ich ja dich. Danke für deine Expertenmeinung.

Fazit:
Streit kann weh tun, nicht nur denjenigen, die streiten, sondern auch denjenigen, die den Streit mit erleben. Insbesondere, wenn es sich dabei um ein Kind handelt. Eltern sollten sich daher immer wieder in Erinnerung rufen, was "dicke Luft" - insbesondere dauerhafte "dicke Luft" - bei einem Kind bewirkt. Aber genauso sollte man einem Kind deutlich machen, dass Streit kein Weltuntergang ist, sondern zum Leben dazugehört. Das Buch "Als die Namen verloren gingen" greift dieses Thema auf eindrucksvolle Weise auf. Die Texte sind sehr unterhaltsam und der Alterszielgruppe entsprechend. Das Sahnehäubchen sind die fantasievollen Zeichnungen von Jana Walczyk, die ausgelassen und lustig wirken, und somit die manchmal traurigen Textpassagen entkräften. Ein wichtiges Buch - nicht nur für Kinder.

© Renie und Junior




Über Andrea Katzenberger:
Andrea Katzenberger studierte Germanistik in Berlin, wechselte zum Schauspielstudium nach Wien, arbeitete an Theatern in Wien, Berlin und Hamburg und studierte Drehbuch und Regie an der Universität Hamburg. Seit 1999 schreibt und dreht sie als Regisseurin die Serie »Die Pfefferkörner« sowie Spielfilme wie den »Mistkerl« (Eröffnungsfilm Berlinale 2001) und »Ich back’ mir einen Mann«. Sie lebt mit ihrer Tochter in Hamburg. (Quelle: kunstanstifter)


Über Jana Walczyk (Illustration):
Jana Walczyk wurde 1989 in Bramsche bei Osnabrück geboren. Von dort verschlug es sie 2010 an die Fachhochschule Münster. Nach einem Studienaufenthalt in Italien schloss sie 2014 ihr Designstudium mit dem Schwerpunkt Illustration ab und wechselte an die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, wo sie sich im Masterstudiengang Illustration hauptsächlich auf die Kinderbuchillustration konzentrierte. Seit 2014 arbeitet Jana freiberuflich als Illustratorin und Grafikerin für verschiedene Projekte im Bereich der Buch- und Editorialillustration. (Quelle: kunstanstifter)

Samstag, 10. März 2018

Ekaterine Togonidze: Einsame Schwestern

Quelle: Pixabay/geralt

Siamesische Zwillinge - eine Laune der Natur, die einen schaudern lässt. Auf eine Millionen Lebendgeburten kommt in etwa ein siamesisches Zwillingspaar. Siamesische Zwillinge sind selten, noch seltener sind Romane, die sich mit diesem Thema befassen. Mir war bis jetzt nur ein Roman bekannt, in dem ein siamesisches Zwillingspärchen eine Rolle spielt ("Hiobs Bruder" von Rebecca Gablé). Die Georgierin Ektaerine Togonidze greift also in ihrem Roman "Einsame Schwestern" ein ungewöhnliches Thema auf, das sie mit sehr viel Feingefühl vermittelt. Dem Klappentext des Buches nach, ist sie die erste Schriftstellerin, die das Thema "Körperliche Behinderung" in Georgien literarisch verarbeitete und zur Diskussion brachte. Hut ab, vor soviel Mut und Engagement.
Die Geschichte spielt in der heutigen Zeit. Die "Einsame(n) Schwestern" um die es hier geht, sind Lina und Diana, die von der Taille an abwärts miteinander verbunden sind. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben. Sie leben daher bei ihrer Großmutter, in ärmlichen Verhältnissen. Die alte Frau schirmt die Mädchen vor der Außenwelt ab. Lina und Diana kennen daher nur die kleine Wohnung, einen Cousin ihrer Mutter, der hin und wieder vorbeikommt, um für die Frauen Besorgungen zu machen, und das, was das Fernsehprogramm zu bieten hat. Die Großmutter hat die Mädchen unterrichtet, damit sie mit einem Mindestmaß an Bildung versorgt werden. Als die Mädchen noch klein waren, war es einfacher, sie zu Hause zu halten. Mittlerweile sind Lina und Diana Jugendliche, an der Schwelle zum Erwachsenensein. Wie andere Mädchen in diesem Alter, haben sie mit den Dingen zu kämpfen, die die Pubertät mit sich bringt.
"Übermorgen sollen wir tanzen. Lina schwebt über den Wolken. Ich glaube, auch das Tanzen interessiert sie nicht mehr. Was ist nur los mit ihr? Wie bekomme ich sie zurück? Sie glaubt doch nicht im Ernst, dass sich jemand in eine wie uns verlieben kann?" (S. 135)
Quelle: Septime
Lina und Diana sind charakterlich grundverschieden. Diana ist die Taffe und Rationaldenkende, so dass sie fast schon kaltherzig wirkt; Lina ist die Träumerin und Naive. Diana ist der Kopfmensch, Lina ist der Herzmensch. Spätestens hier wird deutlich, dass siamesische Zwilling trotz der körperlichen Einheit aus unterschiedlichen Persönlichkeiten bestehen können, die leider aufgrund einer Laune der Natur in der Regel bis an ihr Lebensende aneinander gekettet sind. Diese Unterschiedlichkeit wird auch durch den Sprachstil und Aufbau dieses Romanes verdeutlicht. Lina und Diana führen jede für sich Tagebuch. Anhand der Tagebucheinträge wird der Leser über die Geschehnisse der Wochen vor dem tragischen Tod der Mädchen informiert. Denn gleich zu Beginn des Buches ist klar, dass die Beiden sterben werden. Nicht in der kleinen Wohnung der Großmutter, sondern in einem Zirkus, wo sie zum Schluss als Schau- und Lustobjekt für (sensations)lüsterne Georgier landen werden.

Neben dem Handlungsstrang um die beiden Mädchen gibt es noch einen zweiten Handlungsstrang um den Vater der siamesischen Zwillinge: Rostom, der erst mit Linas und Dianas Tod von der Existenz seiner Töchter erfährt. Die Tagebucheinträge der Mädchen wechseln sich ab mit Rostoms Erinnerungen an Elene, seiner damaligen Geliebten und Mutter der Zwillinge, sowie den Wochen nach dem Tod seiner Töchter, in denen er versucht, den Schock über ihre Existenz zu verarbeiten.
Man wird kein Mitgefühl mit Rostom haben, präsentiert er sich doch als selbstsüchtiger Egoist, der während der kurzen Zeit, die er mit seiner Geliebten verbracht hat, unter der Fuchtel seiner Mutter stand. Aus Feigheit hat er sich nie offiziell zu Elene bekannt und ihre Liebe zu ihm gnadenlos ausgenutzt.
"Ich schreibe, um zu leben. Das habe ich schon gesagt, oder? Bloß warum ich leben soll, das weiß ich nicht. Weil es sein muss. Einfach so. Ich lebe, bedeutet für mich, wir leben. Vielleicht ist dieses "Wir" das Problem? Wie ein Blutegel hat es sich an meiner Zunge festgesaugt und ich werde es nicht los. Es lässt mich nicht in der Einzahl reden, nicht mit mir allein sein, es lässt mich nicht leben .... " (S. 9 f.)
Dieses Buch macht betroffen. Die sehr persönlichen Tagebucheinträge der Mädchen machen deutlich, wie sehr sie es gehasst haben, mit der Schwester auf ewig verbunden zu sein und kein "normales" Leben führen zu können. Unvorstellbar, niemals im Leben eine Rückzugsmöglichkeit zu haben und niemals allein sein zu können. Doch genau das hatte das Leben für die siamesischen Zwillinge vorgesehen.

Ekaterine Togonidze gelingt es, die Persönlichkeiten der beiden Mädchen in den Vordergrund zu stellen. Würde man das Handicap der beiden nicht kennen, hätte man zwei pubertierende Schwestern vor Augen, die sich gern in die Haare kriegen. Die Gefahr bei einem Roman über dieses Thema ist, dass man sich als Leser in der Rolle des Voyeurs wiederfindet. Doch indem die Autorin sich auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten der beiden Schwestern konzentriert, wird die Behinderung zur Nebensache. Vielmehr tritt die Gefühlsebene in den Vordergrund: das Unglücklichsein der Mädchen, die Angst vor der Außenwelt, die Träume von einem "normalen" Leben, das Ausgeliefertsein im Zirkus. Die Gefühlsebene überträgt sich auf den Leser, so dass man nicht anders kann, als mit Betroffenheit zu reagieren.

Ein großartiges Buch, über ein ungewöhnliches Thema, das mich teilweise sprachlos und betroffen gemacht hat und mich sicher noch lange beschäftigen wird. Leseempfehlung!

© Renie





Über die Autorin:
Ekaterine Togonidze wurde 1981 geboren. 2011 erschien ihre erste literarische Veröffentlichung. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrmals ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie 2012 den renommierten Saba-Preis. Ekaterine Togonidze war 2013 offizieller Gast der Leipziger Buchmesse, im gleichen Jahr war sie auch Stipendiatin des Literarischen Colloquiums Berlin. 
Ekaterine Togonidze prägt seit über fünf Jahren Georgiens Literaturlandschaft. Mit ihrem ersten Roman Einsame Schwestern war sie die erste Schriftstellerin, die das Thema »Körperliche Behinderung« in Georgien literarisch verarbeitete und zur Diskussion brachte. (Quelle: Septime)

Freitag, 2. März 2018

Jesmyn Ward: Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Quelle: Pixabay / RobVanDerMeijden

Der Titel von Jesmyn Wards Roman "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt" hat etwas Klerikales an sich, könnte durchaus die Zeile aus einem Choral sein. Der Titel geht nicht leicht von den Lippen und ist alles andere als gefällig. Doch damit passt er perfekt zu einem unbequemen Buch, das mir emotional einiges abverlangt hat.
"Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt" behandelt die Geschichte einer Familie in den Südstaaten der USA, wo das Thema Rassendiskriminierung heute immer noch den Alltag prägt.

Der 13-jährige Jojo lebt mit seiner kleinen Schwester Kayla im Haus seiner Großeltern, die er Mam und Pop nennt. Seine leibliche Mutter Leonie lebt ebenfalls in diesem Haushalt. Die Namensgebung deutet darauf hin: Mam und Pop sind ihm mehr Eltern als seine eigenen: Mutter Leonie und Vater Michael, der gerade im Gefängnis sitzt. Die farbige Leonie hat sich in jungen Jahren mit dem weißen Michael "eingelassen". Diese Beziehung sorgte für Zündstoff in der erzkonservativen und rassistischen Gegend. Kaum zu glauben, aber Michael hatte tatsächlich das Stehvermögen, gegen den Widerstand seiner strengen Eltern, mit Leonie zusammenzuleben, was sie fortan im Haus von Leonies Eltern auch getan haben. Praktisch für Leonie und Michael, wurde ihnen doch die Verantwortung für die Erziehung von Jojo und Kayla abgenommen, zumal sie eh nicht in der Lage gewesen wären, sich um die Kinder zu kümmern. Denn Leonie und Michael haben ein Drogenproblem.
Quelle: Kunstmann Verlag
"Es fühlt sich gut an, fies zu sein, an dem Baby, das ich nicht schlagen darf, vorbeizureden und meinen Zorn an jemand anderem auszulassen. An dem, für den ich nie gut genug bin. Nie Mama bin. Bloß Leonie, ein Name aus den gleichen drei enttäuschten Lauten, die ich auch von Mama, von Pop ... höre, schon mein ganzes verfluchtes Leben lang." (S. 159)
Jojo und Kayla reagieren mit Ablehnung auf Leonie. Insbesondere Jojo, der mit seinen 13 Jahren bereits das Verständnis eines Erwachsenen hat, verachtet seine Mutter. Baby Kayla hängt an ihrem großen Bruder, und er kümmert sich liebevoll um die kleine Schwester. Er lässt ihr die Fürsorge und Nähe zuteil werden, die eigentlich von den Eltern zu erwarten gewesen wären.
Als Michael aus dem Gefängnis entlassen werden soll, beschließt Leonie, ihn abzuholen. Plötzlich entdeckt sie einen bisher nicht da gewesenen Familiensinn und nimmt die beiden Kinder mit auf die mehrtägige Reise. Während der Fahrt zeigt sich, dass sie mit den Kindern völlig überfordert ist. Die Kinder sind für sie nicht wichtig, manchmal sogar lästig. Wichtig ist, dass sie wieder mit ihrem Mann zusammen sein kann.

Der Roman wird zunächst aus zwei Perspektiven erzählt: Jojos und Leonies. Das Leben, das diese Familie führt, aus der Sicht eines Kindes geschildert zu bekommen, ist nicht leicht. Es tut weh, wenn Jojo die Abneigung, die er gegen seine Mutter hat, in Worte fasst. Es wühlt auf, wenn er erzählt, wie er versucht, sich und seine kleine Schwester auf der Fahrt zu versorgen, weil seine Mutter es nicht macht. Es macht fassungslos, wenn Jojo am eigenen Leib die Schikane durch rassistische Weiße erfährt und seine Mutter tatenlos dabei zusieht.
Parallel zu Jojos Sicht wird die Geschichte durch Leonie erzählt. Und dieser Teil macht mehr als deutlich, wie überfordert Leonie mit der Verantwortung für sich selbst ist, geschweige denn für zwei Kinder. Als Mutter ist sie ein Totalausfall. Sie ist sich dessen bewusst, kann jedoch nicht über ihren Schatten springen.
"'... Aber sie hat den Mutterinstinkt nich. Ich hab's gesehn, als du noch klein warst und wir beim Einkaufen warn, da hat sie sich was zu essen gekauft und es vor deinen Augen gegessen, und du saßt hungrig da und hast geweint. Da wusste ich's.'" (S. 246)
Im Verlauf der Geschichte wird sich noch ein zweiter Handlungsstrang auftun: Auch der Großvater hat einige Jahre im Gefängnis verbracht, in einer Zeit, in der die Rassengesetze noch schärfer waren als heute und das kleinste Vergehen ausgereicht hat, um für lange Zeit eingebuchtet zu werden. Der Großvater erzählt Jojo von seinen damaligen Erlebnissen, in denen ein damals 12-jähriger Junge eine wichtige Rolle spielte: Richie, der im Verlauf der Handlung des Romans die dritte Erzählperspektive übernimmt. Und mit dem Auftauchen von Richie nimmt der Roman eine metaphysische Wendung an. Die Vergangenheit des Großvaters und die Gegenwart um Jojo vermischen sich. Jojo kann Richie sehen und mit ihm sprechen. Dabei erfährt der Leser, dass Richies gewaltsamer Tod der Grund ist, warum Richie nicht mit dem Leben im Diesseits abschließen kann. Auf den metaphysischen Aspekt dieser Geschichte musste ich, die rational Denkende, mich erstmal einlassen, was anfangs nicht leicht war.
"'... Die Alten haben immer erzählt, wenn jemand auf schlimme Art stirbt, is das manchmal so furchtbar, dass selbst Gott es nicht mitansehn kann, und dann bleibt der Geist zur Hälfte da und wandert herum, sehnt sich nach Frieden wie ein durstiger Mann nach Wasser.'" (S. 249)
Was mich an diesem Roman völlig fasziniert hat, ist der wandelbare Sprachstil von Jesmyn Ward. Es gibt Momente, da erscheint der Sprachstil "grell" - passend zur Hitze und den Sümpfen der Südstaaten. Sie schildert Szenen mit einer Unbarmherzigkeit, die fast schon weh tut. Dabei verwendet sie eine sehr bildhafte Sprache, die sie farblich ausschmückt. Und dann gibt es wieder Szenen, in denen ihre Sprache sehr zärtlich und einfühlsam ist. Sie nimmt sich an diesen Stellen zurück. Ihre Sensibilität kann einem dabei die Tränen in die Augen treiben.
Ich habe selten eine Autorin erlebt, die mich durch ihren Sprachstil emotional dermaßen berührt hat. 

Jesmyn Ward hat mit "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt" (Sing, unburied, sing) im letzten Jahr den National Book Award gewonnen - neben dem Pullitzer Preis der renommierteste Literaturpreis in den USA -, womit die Amerikaner in diesem Fall eine gute Wahl getroffen haben.

Mit diesem Buch bin ich Fan von Jesmyn Ward geworden.

© Renie