Montag, 24. Juli 2017

Rebecca Hunt: Everland

Quelle: Pixabay / Mariamichelle
Sommer, Sonne, Portugal bei 36 °C. Ich schwitze und suche Abkühlung bei einem Buch: "Everland" von Rebecca Hunt. Mehr Kälte geht fast nicht mehr. Denn dieser Roman führt mich in die Antarktis, auf eine kleine Insel namens Everland.

Everland ist das Ziel zweier Antarktisexpeditionen. Die erste Expedition findet 1913 statt und scheitert. Die Zweite findet 100 Jahre später als Jubiläumsexpedition statt. Auch sie scheitert.

1913
Das britische Schiff Kismet ist damit beauftragt, die Tier- und Pflanzenwelt der Antarktisinsel zu erforschen. Die Expedition wird von 3 Besatzungsmitgliedern durchgeführt: Ned, 1. Offizier und somit Anführer der Gruppe; Millet-Bass, ein erfahrener Matrose sowie Dinners, ein Wissenschaftler, ohne jegliche Erfahrungen auf dem Gebiet der Feldforschung.
Die drei Männer legen in einem Beiboot der Kismet die letzten Meilen zur Insel zurück. Dabei geraten sie in einen Sturm, der das Boot kurz vor der Küste Everlands zum Kentern bringt. Die Männer schaffen es mehr tot als  lebendig auf die Insel und warten nun auf ihre Rettung. Doch die Kismet ist aufgrund des Packeises, das sich in der Zwischenzeit gebildet hat, nicht mehr in der Lage, die Männer zurückzuholen. Man bedenke: Eisbrecher hatten damals noch nicht die Kraft, die sie heute haben. Funkgeräte gab es noch nicht. Es gibt also keine Kommunikation zwischen den Männern auf der Insel und der Kismet. Stattdessen setzt das lange zermürbende Warten auf Rettung ein, in einer unbarmherzigen Umgebung und mit einer Ausrüstung, die herzlich wenig mit dem Hightec-Equipment der heutigen Zeit zu tun hat.
"Alles war aschgrau, pechschwarz, lehmbraun und rostrot in unterschiedlichen Abstufungen, bis auf den Himmel, der die Farbe von schmutziger Wolle hatte. Der Vulkan, der siebzig Prozent der Insel für sich beanspruchte, war aus der Nähe betrachtet ein trister Schlackehügel. Everland war still, leblos und auf brutale Weise unspektakulär. Mehr als trostlos, es war hässlich." (S. 34)
Quelle: Randomhouse / Luchterhand
Der erste Offizier Ned entwickelt sich nicht nur aufgrund seiner Funktion zum Alphatier in der Gruppe. Er ist willensstark, eine Kämpfernatur, jegliche Zeichen von Schwäche sind ihm zuwider. Womit wir bei Dinners wären. Denn der verkörpert genau diese Schwächen. Er ist unerfahren, ungeschickt, kaum allein überlebensfähig in der Situation, in der sich die drei Männer befinden. Seine Gesundheit hat bei dem Kentern vor der Insel am meisten gelitten. Auf der Insel ist er den anderen Männern ein Klotz am Bein. Für die Drei werden Tage zu Wochen, Wochen zu Monaten, und es ist keine Rettung in Sicht. Die scheinbar ausweglose Situation, in der die Männer sich befinden, verändert sie. Der Aufenthalt auf der Insel entwickelt sich zum Psychodrama. Mit der Zeit lassen sie die schreckliche Gewissheit zu. Wenn sie sich nicht selbst helfen, sind sie verloren.

2013
Einhundert Jahre später wird eine 3-köpfige Crew mit einer Hightec-Ausrüstung per Flugzeug auf Everland abgesetzt. Die mehrwöchige Expedition soll sich mit der Erforschung der Tierwelt befassen. In erster Linie ist diese Aktion jedoch als Gedenkfahrt an die gescheiterte Expedition von 1913 zu sehen. Es gibt einige Parallelen zu der ersten Expedition - teilweise beabsichtigt, teilweise dem Zufall geschuldet. Auch hier besteht das Team aus 3 Personen: Chester, ein erfahrener Antarktisforscher, Jess, die ehrgeizige Feldassistentin und Brix, die Wissenschaftlerin, unerfahren auf dem Gebiet der Feldforschung, die ihren Platz in dem Team durch Beziehungen und einen reichen Onkel ergattert hat. Chester und Jess haben unter der Unerfahrenheit und Unsicherheit von Brix zu leiden. Denn Brixs Schwäche birgt ein ständiges Risiko. Insbesondere Chester ist anfangs permanent damit beschäftigt, die Fehler und Missgeschicke von Brix auszubügeln. Auch wenn sich 100 Jahre später die Ausrüstung erheblich verbessert hat, sind die Gefahren, mit denen die Crew zu kämpfen hat, die Gleichen. Kälte, Schneestürme, Erfrierungen, Verletzungen, die nicht behandelt werden können, weil die Mitglieder auf sich allein gestellt sind.... die Natur ist mörderisch und stellt sich gegen den Menschen. Es passiert das, was passieren muss. Auch diese Expedition wird scheitern. 
"'Die Schwachen werden nicht von den Starken getragen, sonder reißen sie mit in die Tiefe.'" (S. 68)
Rebecca Hunt erzählt die Geschichte der beiden Expeditionen, in dem sie 3 Handlungsstränge parallel verlaufen lässt. Handlungsstrang 1 behandelt die Zeit nach der Rettung von Dinners. Damit beginnt dieser Roman. Die Kizmet hat es geschafft, nach Everland zurückzukehren. Dinners wird gerettet, was mit den anderen beiden Expeditionsmitgliedern passiert ist, bleibt offen. Kapitän, Schiffsarzt und die Crew der Kismet spekulieren, was auf der Insel passiert ist und versuchen auch Ned und Millet-Bas aufzuspüren.
Handlungsstrang 2 schildert den Überlebenskampf der 3 Männer auf Everland (1913). Mit Handlungsstrang 3, der Gedächtnisexpedition schließt sich der Kreis.

Sehr gelungen fand ich die Verknüpfungen zwischen den beiden Expeditionen. So stößt das Team um Chester bei seinen Forschungen auf Überbleibsel und Spuren der ersten Expedition. Spuren, die zunächst Rätsel aufgeben. Da diese Spuren und Überbleibsel auch in Handlungsstrang 2 eine Rolle spielen, ergibt sich dadurch zumindest für den Leser des Rätsels Lösung.
"Es gab Dinge, die Everland verlassen würden, und andere, die zurückblieben und darauf warteten, entdeckt zu werden. Ein Rucksack, der im Eis abgestellt worden war, oder eine Sammlung von sechs Amethysten. Die Geschichte dieser Gegenstände und ihrer Lage würde man eines Tages verstehen oder auch nicht." (S. 410)
Der Sprachstil von Rebecca Hunt ist bildgewaltig. Dadurch lässt sie den Leser den Überlebenskampf der beiden Teams fast schon körperlich spüren. Insbesondere die Beschreibungen der Naturgewalten lassen Bilder im Kopf entstehen, die den Leser ganz klein vor Überwältigung und Ehrfurcht werden lassen. Allein diese Bilder im Kopf sind es wert, diesen spannenden Roman zu lesen.

Fazit:
Ein atemberaubender Abenteuerroman, der nicht nur durch die besondere Geschichte sondern auch durch den bildgewaltigen Sprachstil von Rebecca Hunt überzeugt. Leseempfehlung!

© Renie




Über die Autorin:

Rebecca Hunt wurde 1979 in Coventry geboren und hat am Central Saint Martin's College, einer bekannten Londoner Hochschule für Kunst und Design, studiert. Rebecca Hunt ist Malerin und lebt in London. Ihr erster Roman „Mr. Chartwell“ stand auf der Longlist des Guardian First Book Award und auf der Shortlist des Galaxy National Book Award, ihr zweiter Roman „Everland“ kam auf die Shortlist des Encore Award 2014. (Quelle: Randomhouse/Luchterhand)

Mittwoch, 19. Juli 2017

Gerd Pfeifer: Ana und die Fische (Erzählungen aus Brasilien)

Quelle: Pixabay / sasint

Gerd Pfeifer ist nicht unbedingt ein typisch brasilianischer Name. Bei brasilianischen Namen denke ich an Ronaldo, Rivaldo, Roberto oder Neymar. (Der portugiesisch-affine Leser wird feststellen, dass mein Repertoire an brasilianischen Vornamen sehr begrenzt ist und ich meine Weisheit aus der Welt des Fußballs habe) Wie kommt der Autor mit dem Namen Gerd Pfeifer also dazu, brasilianische Geschichten zu erzählen? Weiß er, wovon er schreibt? Natürlich weiß er das. Denn Gerd Pfeifer hat einige Jahre in Brasilien gelebt, so dass er in seinen Erzählungen aus dem Nähkästchen plaudert.

Die Geschichten, die dabei entstanden sind, sind bunt. Gerd Pfeifer präsentiert eine Vielfalt, die einen besonderen Eindruck von diesem exotischen Land vermittelt. Brasilien wird klischeehaft als der Inbegriff der Lebensfreude angesehen: brasilianischer Karneval und leicht-bekleidete Damen, die zu Samba-Rythmen tanzen. In dem vorliegenden Erzählband findet weder Karneval noch Samba statt. Stattdessen präsentiert der Autor unterschiedliche Aspekte einer Gesellschaft, die herzlich wenig mit diesem Klischee zu tun haben. In den Geschichten finden sich Unmenschlichkeit und Wut, aber auch Liebe, Zauber und Mystik.
"In einem Land, das jedem Ehemann mindesten eine Geliebte gestattete und jede Frau entweder Geliebte oder Ehefrau oder beides zugleich war, herrschte strengste Prüderie." (aus "Ana und die Fische", S. 43)
"Ein Paar Turnschuhe" sind das Objekt der Begierde für João, einem Jungen aus den Favelas. Am Ende werden ihm die Turnschuhe zum Verhängnis. 

"Ana und die Fische" erzählt die Geschichte einer Frau, die nach 11 Monaten ein Kind zur Welt bringt, das jedoch keiner außer ihr zu Gesicht bekommt. Merkwürdig ist, dass sie jede Nacht mit einem Bündel im Arm ins Meer hinausschwimmt und erst Stunden später wiederkommt. Diese Geschichte ist sehr mystisch und erinnert an ein Märchen.

"Die Muse des Malers" ist das Hausmädchen Dalva. Entgegen aller Vorurteile und Standesdünkel heiratet sie den Maler Serge und lebt mit ihm auf einer kleinen Amazonasinsel. Eines Tages verschwindet der Maler unter mysteriösen Umständen. Er wird für tot erklärt. Jahre später taucht Serge wieder auf.
"Ihre Kindheit verlebte sie auf dem Lande in einem Dorf ohne Namen. Als sie fünf Jahre alt war, half sie ihrem Vater auf den Feldern. Mit sieben war sie eine vollwertige Arbeitskraft, die nach der Feldarbeit die bescheidene Hütte der Familie in Ordnung hielt, ihre jüngeren Geschwister erzog und ihrer Mutter bei der Geburt der alljährlich und frohgemut ins Leben tretenden Jüngsten zur Hand ging." (aus "Die Muse des Malers", S. 73)
"Enkelin Tassia und ihr Großvater" haben ein inniges Verhältnis zueinander. Doch Tassia verändert sich auf einmal, wird verschlossen und ablehnend. Dahinter verbirgt sich ein schreckliches Geheimnis.

Fazit:
Ein bemerkenswerter Erzählband, der einen Einblick in ein Land gewährt, der nicht viel mit der klischeehaften Samba-Romantik gemein hat, die gerne mit Brasilien in Verbindung   gebracht wird. Seine Geschichten sind vielfältig, jede für sich ist einzigartig. Ein Buch, das verzaubern, aber auch verstören kann.

© Renie




Über den Autor:
Gerd Pfeifer war weltweit als Investmentbanker tätig, bevor er nach seinem Rückzug ins Privatleben mit dem Schreiben begann. Für »Geneviève – Ein französischer Sommer« erhielt er den Preis der Vontobel-Stiftung in Zürich. (Quelle: Ripperger und Kremers)



Freitag, 14. Juli 2017

Jürgen Vogel: Bittersüße Wahrheiten

Quelle: Pixabay / IWMedien

Endlich kommt die Auflösung eines Rätsels, auf die ich lange gewartet habe. Mit dem Roman "Bittersüße Wahrheiten" endet Jürgen Vogels Trilogie um David Adolphy und seinem geheimnisvollen Doppelgänger.

Inhalt der Trilogie:
Die Geschichte beginnt in Barcelona, auf einem Markt (Band 1). Der Zufall lässt David und Silvia aufeinandertreffen. Es stellt sich heraus, dass David Silvias verstorbenem Manne Philippe zum Verwechseln ähnlich sieht. Auch charakterlich lassen sich die beiden Männer nicht voneinander unterscheiden. Es gibt keinerlei verwandschaftliche Beziehung zwischen den Beiden. Und doch ähneln sie sich wie eineiige Zwillinge. David freundet sich mit Silvia und ihren fast erwachsenen Kindern an. Dem Geheimnis um die Ähnlichkeit von David und Philippe kommen sie jedoch nicht auf die Spur. 
Der zweite Band "Erinnerungen an Philippe" führt die Protagonisten nach Paris - der Ort, an dem Philippe durch ein Verbrechen ums Leben gekommen ist. Silvia ist von den Behörden, die sich mit der Aufklärung des Verbrechens befassen, nach Paris gebeten worden. Sie bittet David, ihr in dieser Situation beizustehen. Dabei lernt David auch die Eltern von Philippe kennen, die genauso erschrocken über seine Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Sohn sind, wie zuvor Silvia und die Kinder. Der 2. Band konzentriert sich dabei auf die Erinnerungen von Silvia an ihren Mann.
Der dritte Band "Bittersüße Wahrheiten", um den es hauptsächlich in meiner Buchbesprechung geht, führt uns an die Heim- und Wirkungsstätte von David: Köln. Hier erhält er Besuch von Cassius, Philippes Sohn. Er kommt in der festen Absicht nach Köln, um endlich Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Gemeinsam kommen David und Cassius dem Geheimnis auf die Spur. Die Dinge, die sie dabei herausfinden, sind insbesondere für David schmerzhaft und verwirrend. Und damit beginnt der Aufarbeitungsprozess um Davids und Philippes Vergangenheit.
"Kurz nachdem ich Silvia kennengelernt und von der Existenz von Philippe erfahren hatte, träumte ich häufig von ihm. Es begann zunächst mit Tagträumen, schon bald waren es eher Visionen oder auch Erscheinungen des Nachts. Stets konnte ich mich haargenau an die Träume erinnern. Zudem schienen sie mir derart real, dass ich beinahe das Gefühl hatte, Philippe wolle hierdurch Kontakt zu mir aufnehmen." (S. 29)
Der Autor Jürgen Vogel ist in "Bittersüße Wahrheiten" seiner Linie treu geblieben. Genau wie in den ersten beiden Bänden wählt er einen Schauplatz aus, den er mit großem Charme und sehr intensiv beschreibt. Der Leser fühlt sich in die Rolle des neugierigen Touristen versetzt, der mit den Protagonisten durch eine beeindruckende Stadt schlendert und dadurch das Flair dieser Stadt auf sich wirken lässt. In "Bittersüße Wahrheiten" ist es Köln. Und obwohl ich selbst schon häufig in Köln unterwegs war, habe ich mich von den Beschreibungen verzaubern lassen. Allein dieser Aspekt macht diesen Roman schon lesenswert.

Hinzu kommt das Wiedersehen Wiederlesen mit bekannten Charakteren, die einem schon in den ersten beiden Bänden ans Herz gewachsen sind. Allen voran natürlich David. Er und alle anderen zeichnen sich durch Tiefgründigkeit aus. Der Leser entwickelt sehr schnell große Sympathien für die Protagonisten.

Ein besonderes Charakteristikum der Trilogie ist die Sprache. Der Autor Jürgen Vogel hat einen ganz eigenen Sprachstil. Er wählt die Worte mit Bedacht, scheint lange an Sätzen zu feilen, bis er endlich zufrieden mit dem Ergebnis ist. Da wird kein Ausdruck leichtfertig verwendet, egal wie banal eine Situation auch sein mag. Auffällig ist seine Vorliebe für die indirekte Rede. Das nimmt manchmal das Tempo aus dem Lesefluss, weil man an vielen Sätzen hängen bleibt. Darauf muss man sich einlassen und diesen Stil als den von Jürgen Vogel akzeptieren.
"Da erzählte ich ihm von den zuvor geführten Telefonaten mit meinem Vater und Silvia. Ich sagte ihm, wie schwer er mir gefallen sei, meinen Vater nicht direkt auf die Verdächtigungen von Cassius anzusprechen. Ich berichtete ihm außerdem, dass ich glaubte, dass ...." (S. 51)
Fazit:
Der Roman "Bittersüße Wahrheiten" vereint den Zauber einer Stadt, sympathische und tiefgründige Charaktere sowie einen Sprachstil, den man fast schon als Jürgen Vogel-Stil bezeichnen kann. Ein schöner Abschluss einer Trilogie, der endlich des Rätsels Lösung präsentiert.

© Renie





Weitere Titel der Trilogie sind





Über den Autor:
Jürgen Vogel, geboren 1967 in Merzig, wuchs unter anderem in Spanien, Australien und Südostasien auf. Als aufmerksamer und sensibler Beobachter sammelte er im Laufe der Jahre zahlreiche Geschichten und Erfahrungen, die er heute mit seinen Lesern teilen möchte. Seit den 90er-Jahren lebt und arbeitet der Autor im Rheinland. (Quelle: tredition)

Sonntag, 9. Juli 2017

Gaye Boralioglu: Der Fall Ibrahim

Ausschnitt aus "Die sieben Todsünden" von Hieronymus Bosch (1450 - 1516)

Viele meiner Bekannten, Freunde und Nachbarn sind türkischer Abstammung. Der beste Freund meines 12-jährigen Sohnes kommt aus einer türkischen Familie. Ganz ehrlich: wenn die Türken, die ich kenne, auch nur einen Hauch der Mentalität zeigen würden, die die Charaktere in Gaye Boralioglus Roman "Der Fall Ibrahim" an den Tag legen, hätten ich und meine Familie nichts mit ihnen zu tun. Denn die türkische Autorin und Journalistin zeichnet ein derart erschreckendes Bild der türkischen Gesellschaft, auf das man als Leser nur mit Ablehnung reagieren kann. 

Der Roman "Der Fall Ibrahim" ist nach einer wahren Begebenheit entstanden und beschäftigt sich mit dem Geheimnis um das mysteriöse Verschwinden des jungen Türken Ibrahim.
"'Wenn ich nichts sage und die ganze Welt die Augen schließt, dann kann niemand, aber auch gar niemand auf der Welt wissen, ob es mich gibt oder nicht.'" (S. 61)

Eine Journalistin reist durch die Türkei und versucht der Spur von Ibrahim zu folgen. Sie beginnt ihre Recherche im Heimatort von Ibrahim. Hier wird zunächst die Familie befragt. Von da aus führt sie die Spur über mehrere Stationen bis hin nach Istanbul.
Der Roman ist eine Ansammlung von Interviews mit Menschen, die Ibrahim gekannt haben.  Die Interviews sind aufgenommen worden. In dem Roman werden lediglich die Antworten der Befragten wieder gegeben. Die Fragestellung ergibt sich für den Leser aus den jeweiligen Antworten der Protagonisten. Dabei fühlt sich der Leser in die Rolle eines Kameramannes versetzt. Man sieht förmlich, wie die Befragten sich drehen und winden, sich bei unangenehmen Fragen herausreden. Denn die Befragten haben alle eines gemeinsam: Sie sind nicht ganz aufrichtig, haben scheinbar viel zu verbergen. Mit jedem weiteren Zeugen entdeckt der Leser Widersprüche in den Aussagen.

Mit der Zeit eröffnet sich das ganze Ausmaß um die Tragödie des Lebens von Ibrahim, der scheinbar ein sehr sensibler und tiefsinniger Mensch ist, von Zweifeln geplagt und immer auf der Suche nach Antworten. Er stellt Fragen, die verstören können und die Weltanschauung seiner türkischen Mitmenschen in Frage stellt. Das kommt in der, von Männern dominierten türkischen Gesellschaft nicht gut an.
"Man konnte ihm nicht längere Zeit ins Gesicht schauen. Vielleicht wusste er das ja und hielt darum seine Augenlider halb geschlossen. Er war wie ein Engel. Genau wie ein Engel. Einem Engel können sie ja auch nicht länger in die Augen schauen, sonst kriegen sie Angst, werden vom Gefühl erfasst, es könnte ihnen etwas passieren. Sie zittern innerlich. So einer war er." (S. 90)
Was tatsächlich mit Ibrahim geschah, lässt dieser Roman offen, so dass der Leser das Buch mit einer Mischung aus Betroffenheit und Hoffnung beenden wird. 

Auffällig ist, wie ich bereits erwähnte, das Bild, das die Autorin von der Türkei transportiert. Am treffendsten lässt sich dieses Bild mit den "7 Todsünden" der katholischen Theologie beschreiben. Es mag merkwürdig erscheinen, ein Buch aus dem islamischen Kulturkreis mit einem Begriff der katholischen Kirche in Verbindung zu bringen. Aber ich konnte einfach nicht anders, da sich mir der Begriff der "7 Todsünden" zwischendurch immer wieder aufdrängte (auch, wenn ich nicht sehr gläubig bin) und nicht mehr aus dem Kopf ging. Die "7 Todsünden" sind: Hochmut, Geiz, Wollust, Jähzorn, Völlerei, Neid, Faulheit. Diese Eigenschaften finden sich in unterschiedlicher Ausprägung in den Charaktere dieses Romanes wieder. Gäbe es noch eine 8. Todsünde, wäre es wohl das bedingungslose Festhalten an dem türkischen Ehrbegriff. 

Der Islam wird in diesem Roman durch einen Scheich vertreten. Dieser berichtet von Ibrahim und den Eindruck, den er bei ihm hinterlassen hat. Er gibt eine detaillierte Zusammenfassung der Gespräche wieder, die zwischen den beiden stattgefunden haben. Dabei offenbart sich eine islamische Weltanschauung, die in Zeiten von IS und Terror einen empfindlichen Punkt beim Leser trifft.
"Was für ein Unterschied besteht zwischen dem Gedanken an ein vereintes Europa und Hitlers Traum von einem Groß-Deutschland? Der verfaulende Gestank des Westens ist bis hierher zu riechen. Ein schwerer, intensiver, säuerlicher Geruch, das bedauernswerte Ende einer großen Zivilisation, die im Todeskampf liegt." (S. 122)
Die Journalistin ist auf ihrer Reise durch die Türkei von einem armenischen Fotografen begleitet worden. Die eindrucksvollen Fotos, die dabei entstanden sind, finden sich in diesem Roman wieder. Die Schwarz-Weiß Fotos beschönigen nichts und dokumentieren die Fremdartigkeit. Sie vermitteln eine düstere und bedrohliche Stimmung. Es gibt kaum ein lachendes Gesicht, stattdessen Ernsthaftigkeit. Es werden Alltagsszenen gezeigt, die den Anschein vermitteln, dass die Fotografierten den Fotografen nicht wahrnehmen (wollen).

Fazit
"Der Fall Ibrahim" ist ein beeindruckendes Buch, das von der Spannung her mit jedem guten Thriller mithalten kann. Es liefert mit seiner Ansammlung von Interviews und den Schwarz-weiß Fotografien leider ein sehr düsteres Bild der türkischen Gesellschaft. 
Der Roman macht fassungslos und zeigt, wie fremd die Türkei uns Europäern ist. Aber eines ist klar. Die von Männern dominierte Gesellschaft, geprägt von Gewalt und Missbrauch, hat herzlich wenig mit den türkischstämmigen Menschen zu tun, die in Deutschand leben. Und das ist gut so.

Leseempfehlung!

© Renie




Über die Autorin:
Gaye Boralıoğlu, 1963 in Istanbul geboren, studierte Philosophie und arbeitete lange Zeit als Journalistin, Werbetexterin und Drehbuchautorin. Unter dem Titel »Hepsi Hikâye« erschien 2001 ihr erster Erzählband gefolgt von ihrem Romandebüt »Meçhul« (2004). Für ihren 2009 veröffentlichten Roman »Aksak Ritim« wurde sie mit dem Literaturpreis Notre Dame de Sion ausgezeichnet, 2013 erschien das Werk unter dem Titel »Der hinkende Rhythmus« im binooki Verlag auf Deutsch. Für den Band »Mübarek Kadınlar« erhielt sie 2015 den Yunus Nadi Preis für Kurzgeschichten, der Band erschien auf Deutsch unter dem Titel »Die Frauen von Istanbul« (Größenwahn Verlag, 2015)