Mittwoch, 27. September 2017

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du

Quelle: Pixabay/Pexels

Der Roman "Dann schlaf auch du" von Leïla Slimani beginnt mit dem entsetzlichen Ende. Es tritt das ein, was man sich als Eltern nicht vorstellen möchte, und das einem hoffentlich nie passieren wird: Die Kinder sind tot, Mila und Adam Massé, ermordet von der eigenen Nanny Louise. Wie es zu dem Verbrechen kam und was die fürsorgliche Louise, die ihr Leben für die Kinder gegeben hätte, am Ende dazu brachte, ihre Schützlinge zu töten, sind Fragen, auf die dieser Roman Antworten liefert.
"Seit sie geboren sind, hat Myriam Angst vor allem. Am schlimmsten ist die Angst, dass sie sterben könnten. Sie spricht nie darüber, weder mit ihren Freunden noch mit Paul, aber sie ist überzeugt, dass jeder von ihnen schon mal so etwas gedacht hat. Ganz sicher haben auch sie ihr Kind im Schlaf betrachtet und sich gefragt, wie es sich anfühlen würde, wenn dieser Körper dort ein Leichnam wäre, wenn diese Augen für immer geschlossen blieben." (S. 22)
Die Tragödie der Familie Massé beginnt mit der Suche nach einem Kindermädchen für Mila und Adam. Lange hat Myriam, die Mutter, überlegt, ob sie diesen Schritt wagen soll. Es ist nicht einfach, die eigenen Kinder in die Obhut einer Fremden zu geben. Man kann einem Menschen schließlich nur vor den Kopf gucken. Doch Myriams Wunsch, wieder zu arbeiten und an einer Welt fernab von Windeln, Spielplätzen und Müttergesprächen teilzuhaben, ist größer als ihre Bedenken. Sie hat sich seit Milas Geburt vor etwas mehr als 3 Jahren, ausschließlich um ihre Kinder und die Wohnung gekümmert. Doch dafür hat sie nicht studiert, um am Ende nichts aus ihrer Ausbildung zu machen. Das Jobangebot eines ehemaligen Kommilitonen erleichtert ihr die Entscheidung zwischen Familie oder Karriere.
Quelle: Randomhouse/Luchterhand

Die Eltern Massé entscheiden sich für Louise, um die 50, ein Kindermädchen mit viel Erfahrung und den besten Referenzen. Von Beginn an übernimmt Louise das Zepter im Haushalt der Massés. Sie kümmert sich nicht nur um die Kinder sondern sie kocht, sie wäscht, sie putzt, sie kauft ein. Anfangs hat Myriam ein schlechtes Gewissen, dass sie einen Großteil ihrer Pflichten als Hausfrau und Mutter abgibt. Doch relativ schnell siegt bei ihr die Bequemlichkeit. Louise ist einfach zu perfekt, in dem was sie tut. Ihre Anwesenheit bedeutet eine enorme Entlastung für die Familie. Dank Louise genießen die Massés endlich wieder ihr Familienleben. Und Myriam kann sich voll und ganz dem Neufanfang ihrer Karriere widmen, die sie seit der Geburt der Kinder erst mal auf Eis gelegt hat.
"Sie konnte die Tragweite dessen, was sie erwartete, nicht ermessen. Mit zwei Kindern wurde alles viel komplizierter: einkaufen, die Kleinen baden, zum Arzt gehen, der ganze Haushalt. Die Rechnungen häuften sich. Myriam fühlte sich immer elender. ... , und sie hatte Lust, mitten auf der Straße wie eine Verrückte zu schreien. 'Sie fressen mich bei lebendigem Leib auf', sagte sie sich manchmal." (S. 15)
Die Kinder lieben Louise. Mila, die 3-Jährige, scheint jedoch ihren eigenen Kopf zu haben. Sie testet ihre Grenzen gegenüber Louise aus. Am Ende sitzt die Erwachsene jedoch immer am längeren Hebel.

Alles könnte perfekt sein in der Familie Massé, wenn da nicht die kleinen, feinen Spuren wären, die die Autorin Leïla Slimani auslegt. Diese Spuren hinterlassen Risse in dem perfekten Bild von Louise, und man fragt sich, was hinter dieser Fassade steckt, und wer Louise tatsächlich ist, was sie macht, wenn sie keine Kinder hütet, welche Vergangenheit sie hat, wer ihre Freunde sind etc. etc. ... Fragen, die im übrigen so gut wie nie von Louises Arbeitgebern gestellt werden. Louise ist für sie Mittel zum Zweck und Bewahrerin des familiären Wohlfühlfaktors. Jemand, der einem das Leben erleichtert, weil er sich der meisten Alltagspflichten annimmt. Der Mensch Louise ist dabei uninteressant.

Mit der Zeit nimmt das Unbehagen über Louise zu. Durch einen stetigen Wechsel in den Erzählperspektiven lernt der Leser Louise kennen, aus welchen Verhältnissen sie kommt, wie die Nachbarn sie sehen, ja sogar, welches Verhältnis die eigene Tochter zu Louise hatte und hat.

Und von Louise entsteht das Bild einer Frau, der man am besten nicht seine Kinder anvertraut hätte. Sie wird von der perfekten und liebevollen Nounou zu einer seelisch gestörten Frau, die es nicht ertragen würde, nicht mehr gebraucht zu werden.

Dieser Gedanke setzt sich bei ihr fest. Insbesondere als sie feststellt, dass die anfängliche Sympathie der Eltern in Aversion umschlägt. Louise legt merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag, die nicht mit dem Bild der liebevollen Nanny, zu vereinbaren sind. Die Eltern ahnen, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Aber sie zögern den Moment, sich von Louise zu trennen, hinaus. Ein fataler Fehler!
"Louise wartet. Sie beobachtet die Kinder, wie man einen frisch geangelten Fisch mit blutigen Kiemen betrachtet, dessen Körper im Todeskampf zuckt. Den Fisch, der im Bootsrumpf zappelt und erschöpft nach Luft schnappt, den Fisch, der keine Chance hat, davonzukommen." (S. 47)
Leïla Slimani hat mit diesem Roman einen Psychothriller geliefert, der unter die Haut geht und dabei fast ohne Blut auskommt. Hier wird mit der Urangst von Eltern gespielt, nämlich der Angst, dass dem eigenen Kind etwas zustößen könnte. Trotzdem man durch den Romananfang weiß, was passieren wird, begleitet den Leser während der kompletten Lektüre ein gewisses Unbehagen. Man schwankt zwischen Verständnis und Unverständnis für die Eltern. Jede Frau, die in ihrem Beruf aufgegangen ist und sich entschieden hat, aufgrund der Kinder Hausfrau und Mutter zu sein, wird sich fragen, ob diese Entscheidung richtig war. Daher ist es prima, wenn die Möglichkeit besteht, Karriere und Kind miteinander zu vereinbaren. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man sein Kind in fremde Hände zur Betreuung gibt. Dass diese fremden Hände dem Kind jedoch schaden könnten, ist nichts, woran man zu denken wagt. Und in diesem Roman denkt man permanent daran.

Fazit:
Ein sehr intensiver Thriller, der unter die Haut geht, weil er mit den Ängsten von Eltern spielt und solchen, die noch Eltern werden wollen. Hier ist Hochspannung garantiert!


© Renie




Über die Autorin:
Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gilt als die aufregendste literarische Stimme Frankreichs. Slimani wurde 1981 in Rabat geboren und wuchs in Marokko auf. Nach dem Studium an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po arbeitete sie als Journalistin für die Zeitschrift »Jeune Afrique«. »Dann schlaf auch du« wurde mit dem höchsten Literaturpreis des Landes, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet und erscheint in 32 Ländern. Ihr ebenfalls preisgekröntes literarisches Debüt »Dans le jardin de l’ogre« wird derzeit verfilmt. Leïla Slimani ist verheiratet und Mutter zweier Kinder. Sie lebt in Paris. (Quelle: Randomhouse/Luchterhand)

Sonntag, 24. September 2017

Hédi Kaddour: Die Großmächtigen

Quelle: Pixabay/ patrikhaecki
"..., während Madame Doly ihnen erklärte, was das Wort Großmächtige bedeute, nicht einfacher als das, wir sind einfach zivilisierter als all die Eingeborenen, wir haben viel mehr Gewicht, deshalb haben wir die Pflicht, sie zu führen, auf sehr lange Zeit, denn sie sind sehr langsam, und wir schließen uns zusammen, um es so gut zu machen wie nur möglich, wir sind die größte Vereinigung, die mächtigste Organisation des Landes!" (S. 20)
Die Großmächtigen - damit sind in Hédi Kaddours gleichnamigen Roman die französischen Besatzer gemeint, die nach dem ersten Weltkrieg, Nordafrika unter ihr Protektorat gestellt haben. "Afrique du Nord" - zu diesem Teil Afrikas (auch Maghreb genannt) gehörten damals Algerien und Tunesien sowie Teile von Marokko und Libyen. Der Roman führt uns in die Stadt Nahbès, die in zwei Hälften geteilt ist: diejenige, der französischen Kolonialherren und diejenige, der "Eingeborenen". Eines Tages schlägt hier mit viel TamTam ein amerikanisches Filmteam auf, um einen Hollywoodstreifen zu drehen. Und schon ist die Welt von Nahbès in Unordnung geraten. Die Amerikaner benehmen sich, als ob ihnen die Welt gehört. Die Franzosen scheinen eine angeborene Aversion gegen  Amerikaner zu haben. Und die meisten Maghrebiner lehnen generell alles ab, was nicht der wahren Religion angehört. 
Im Verlauf der ersten hundert Seiten kristallisieren sich einige Charaktere als Hauptprotagonisten heraus: 
Raouf - Sohn eines maghrebinischen Oberen, der eine französische Schulausbildung genossen hat und daher sowohl in der orientalen als auch der westlichen Kultur zuhause ist. 
Seine Kusine Rania, verwitwet, die es geschafft hat, sich eine Nische in der von Männern dominierten Kultur zu schaffen, in der sie ein geringes Maß an Selbstbestimmung erlangen konnte. 
Kathryn, amerikanische Schauspielerin, verheiratet, die sich an den deutlich jüngeren Raouf heranschmeißt. 
Die Pariser Journalistin Gabrielle sowie der Kolonialist Ganthier, der sich ein Leben in Nahbès aufgebaut hat.

Nach 6 Monaten bricht die Filmcrew zunächst einmal ihre Zelte ab, um nach ein paar Monaten wiederzukommen und die Dreharbeiten fortzusetzen.
Quelle: Aufbau Verlag
"Raouf hatte verstanden, David Chemla, sein Jugendfreund, hatte recht, sobald man diesen Amerikanern nicht nach der Pfeife tanzte, ließen sie einen stehen, das war Kapitalismus in seiner ganzen Überheblichkeit." (S. 31)
In der Zwischenzeit verlagert sich die Handlung nach Europa und konzentriert sich dabei auf Raouf und Kathryn sowie Ganthier und Gabrielle. Die vier reisen durch das kriegsgebeutelte Europa. Der erste Weltkrieg ist gerade beendet, der nächste Weltkrieg steht bereits vor der Tür.  Die Sieger des Krieges feiern sich, die Verlierer leiden und werden "bestraft". Im Großen sind es Reparationszahlungen, die zu leisten sind, im Kleinen sind es Verachtung und Schikanen der Sieger gegenüber den Menschen der Verlierernationen. Dem Leser zeigt sich das Bild eines zerrissenen Europas, ein guter Nährboden für Hitlers Gedankengut, der bereits als zukünftiger Machthaber in den Startlöchern steht.
Am Ende werden die vier Protagonisten wieder nach Nordafrika zurückgehen. Doch auch hier befindet sich die politische Situation im Wandel. Denn die Großmächtigen bleiben nicht ewig großmächtig.
"Manchmal lachen Menschen beim Arbeiten, ein Zeichen dafür, dass das Elend nicht gewonnen hat, ... wenn sie lachen, spüren sie dass die Welt besser sein könnte, und dann bekommen sie vielleicht Lust, sie zu verändern." (s. 219 f.)
Hédi Kaddour schildert hier eine Epoche, die die eigentliche Hauptrolle in diesem Roman spielt: die Franzosen als Besatzungsmacht in Nordafrika, unter dem Einfluss der 2 Weltkriege. Er spart dabei nicht mit Humor. Nicht nur Franzosen und Amerikaner bekommen hier ihr Fett weg. Auch die einheimische Bevölkerung Nordafrikas wird mit sämtlichen Klischees, was die arabische Kultur angeht, versorgt. Viel Potenzial zur Komik bietet dabei das Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Kulturen. 
Der Sprachstil des Autors ist dabei gewöhnungsbedürftig. Hédi Kaddour scheint ein Freund von laaangen Sätzen zu sein. Hier werden Nebensätze in rekordverdächtiger Länge aneinandergereiht. 2-Zeiler sind da eher die Ausnahme.
Und trotzdem hat mir sein Sprachstil gefallen. Denn der Autor schreibt sehr bildhaft. Insbesondere diejenigen Passagen, die die islamischen Zeitgenossen behandeln, erinnern ein bisschen an 1001 Nacht.

Fazit:
Ein Lesevergnügen, das mich in eine Epoche zurückversetzt, der ich bisher nur wenig Beachtung geschenkt habe. Ich mag Bücher, die einen geschichtlichen Hintergrund haben und dabei noch viel Humor an den Tag legen. Bei "Die Großmächtigen" bin ich voll auf meine Kosten gekommen.

© Renie

ISBN: 978-3-351-03681-2


Über den Autor:

Hédi Kaddour, 1945 als Sohn eines Tunesiers und einer Französin in Tunis geboren, ist Professor für Französische Literatur, Dramaturgie und journalistisches Schreiben, außerdem selbst Journalist, Autor von Romanen, Essays und Gedichten, sowie Übersetzer aus dem Deutschen, Englischen und Arabischen. Für seine Romane „Waltenberg“, „Savoir-vivre“ und „Die Großmächtigen“ wurde er in Frankreich von Publikum und Kritik gefeiert und hat zahlreiche Preise erhalten. (Quelle: Aufbau Verlag)

Dienstag, 19. September 2017

Nina Jäckle: Stillhalten

Quelle: Pixabay / StockSnap
Die Autorin Nina Jäckle hatte eine Oma, was an sich nicht ungewöhnlich ist. Denn jeder hat (te) mindestens eine Oma. Aber die wenigsten Omas waren in jungen Jahren Tänzerin, und die wenigsten Enkel schreiben ein Buch über ihre Oma. Nina Jäckles Oma war die Tänzerin Tamara Danischewski. Insofern ist der Roman "Stillhalten" ein sehr persönliches Buch, schildert er doch einen Großteil des Lebens eines Familienmitgliedes der Autorin.  Tamara Danischewski wäre wahrscheinlich schon längst in Vergessenheit geraten, wenn nicht dieser Roman und ein besonderes Gemälde wären.

Schlägt man das Buch auf, blickt man auf das Porträt "Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris", gemalt von Otto Dix, in der Zeit als sie als junges Mädchen ihre Leidenschaft - das Tanzen - lebte. Und sofort existiert eine Verbindung zwischen dem Leser und Tamara.
"Ein Duplikat des Bildes hängt über Tamaras Schreibtisch. In diesem Bild ist alles enthalten, was an Bedeutendem geschehen ist, gleichsam alles das, was daraus noch hätte entstehen können, jedoch nicht entstanden ist." (S. 10 f.)
Auf dem Bild ist Tamara 21 Jahre alt. Entstanden ist es in den 30er Jahren in Dresden, wo sie Tanz studierte. Der Anfang ihrer tänzerischen Laufbahn war vielversprechend. Sie galt als sehr talentiert. Das Tanzen war ihr Leben und ihre Leidenschaft. Der Maler Otto Dix war von dem Mädchen und ihrer Ausstrahlung fasziniert. Er schien zu erkennen, dass Tamara die Verkörperung des Ausdruckstanzes war. Abends trat Tamara in einem Kabarett auf, um Studium und Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter zu finanzieren. Einen Ehemann und Vater schien es in dem Leben von Mutter und Tochter nicht zu geben. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, sah sich der Maler Dix gezwungen, das Land zu verlassen. Die Bilder des Kriegsgegners Dix wurden schnell zur entarteten Kunst erklärt.

Durch die politische Entwicklung in Deutschland, geriet Tamara an einen Scheideweg. Sie musste sich entscheiden zwischen Versorgung in politischen Zeiten der Unruhe und glanzvoller Karriere einer Tänzerin. Der Versorgungsgedanke siegte, wozu ihre Mutter einen großen Teil beigetragen hatte. Tamara heiratete einen Mann, der Verbindungen zur neuen Macht in Deutschland hatte. In der Ehe mit ihm wurden ihr und ihrer Mutter ein sorgenfreies Leben ermöglicht, auch wenn die Welt um sie herum fast unterging. Jahre später, fast schon im letzten Abschnitt ihres Lebens angelangt, findet sich Tamara in einem großen Haus, irgendwo auf dem Land in der Einsamkeit wieder. Und sie wird bis an ihr Lebensende die Entscheidung, die sie in jungen Jahren getroffen hat, bedauern.
"Immer wieder stellt sich Tamara die Frage, ob dieses Stück Himmel, dieser kleine Ausschnitt vom Ganzen, der sich ihr vom Fenster ihres Zimmers aus bietet, ausreichend gewesen ist, ob er am Ende ausreichend gewesen sein wird, ob sie nicht mehr vom Himmel, mehr vom Leben verdient hätte." (S. 16 f.)
Die Beziehung zu ihrem Ehemann ist von großer Distanz geprägt. Der Mann geht seiner eigenen Wege. Mal ist er zuhause, mal nicht. In dem großen und reichen Anwesen, in dem das Ehepaar lebt, scheint sie nur ein weiterer kostbarer Gegenstand  zu sein. Den einzigen Kontakt zur Außenwelt hat sie über die Haushälterin und den Gärtner. Der einzige Freund, den sie hat, ist ein alter, unbrauchbarer Jagdhund, der dank Herrchens Gunst sein Gnadenbrot erhält. Ich konnte mir nicht helfen, aber ich habe während der Lektüre dieses Romanes immer eine Symbolik in dem Hund gesehen. Fast schien es, als ob das Dasein des Hundes ein Spiegelbild des Lebens von Tamara darstellt.

In einem Interview mit der Autorin Nina Jäckle habe ich gelesen, dass sie das Buch als Schriftstellerin und nicht als Enkelin geschrieben hat. Nun ja, diese beabsichtigte Trennung ist glücklicherweise nicht ganz gelungen. Denn in dieser melancholischen Geschichte schwingt viel Zärtlichkeit mit. Die Darstellung des Charakters der Tamara - insbesondere in den späteren Jahren - kann man fast schon als liebevoll bezeichnen. So kann man einen Menschen nur beschreiben, wenn man eine enge Beziehung zu ihm hat. Natürlich entwickelt sich beim Leser dadurch viel Empathie für Tamara. Die Handlung wechselt zwischen Szenen der Vergangenheit und dem Jetzt, unterbrochen von Erinnerungen und Gedankengängen von Tamara. Schnell wird klar, dass die ehemalige Tänzerin in der Vergangenheit gelebt hat und im Jetzt nur noch existiert.
"Genauso wird Grausamkeit erst möglich, denn sobald man das Leid verschweigt, ist Mitleid nicht mehr erforderlich." (S. 167)
Das Porträt, das Otto Dix seinerzeit von ihr gemalt hat, ist mittlerweile berühmt und reist durch die Welt, von Ausstellung zu Ausstellung, von Museum zu Museum. Tamara erhält regelmäßig Ansichtskarten von den Museen, in denen ihr Bild gerade ausgestellt wird. So "lebt" das Bild dasjenige Leben, das sich Tamara einst erträumt hat. Die Ansichtskarten machen ihr einmal mehr deutlich, dass ihr Leben auf falschen Entscheidungen und vertanen Chancen aufgebaut ist.

Fazit:
Dieser wunderschöne stille Roman strahlt viel Melancholie aus. Nina Jäckle hat einen sehr poetischen Sprachstil, der einfach nur gut tut. Es ist ein sehr persönliches Buch über eine Frau, die eine falsche Entscheidung getroffen hat und dadurch ihr Leben in die falsche Bahn gelenkt hat. Leseempfehlung!

© Renie






Über Nina Jäckle:
1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris, wollte eigentlich Übersetzerin werden, beschloss aber mit 25 Jahren lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. 
Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: »Es gibt solche«, »Noll«,»Gleich nebenan« und »Sevilla«. Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung »Nai oder was wie so ist«, 2011 ihr Roman »Zielinski« und 2014 der Roman »Der lange Atem«. Sowohl »Zielinski« als auch »Der lange Atem« wurden ins Spanische übersetzt.
Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, beispielsweise den Karlsruher Hörspielpreis, das große Stipendium des Landes Baden-Württemberg, das Heinrich-Heine-Stipendium, das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds. Sie erhielt im Dezember 2014 den Tukan-Preis der Stadt München, 2015 den Italo-Svevo-Preis für ihr Gesamtwerk und den Evangelischen Buchpreis für ihren Roman »Der lange Atem«. Nina Jäckle ist Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17. (Quelle: Klöpfer und Meyer)

Freitag, 15. September 2017

Sorj Chalandon: Mein fremder Vater

Photo by Dimon Blr on Unsplash
Das ist jetzt mein dritter Roman innerhalb kurzer Zeit, in denen es um Protagonisten mit einer schwierigen Kindheit geht. Wobei "schwierig" noch harmlos ausgedrückt ist. Ich weiß nicht, woran es liegt, dass mir solche Romane in diesem Jahr vermehrt in die Finger fallen. Entweder ist das Muttertier in mir besonders empfänglich für derartige Literatur, oder das Angebot dieser Bücher ist größer als in den Jahren zuvor. Steigt etwa die Anzahl derjenigen an, die Grund und Bedürfnis haben, ihre Kindheit zu verarbeiten?

In dem Roman "Mein fremder Vater" des Franzosen Sorj Chalandon, geht es um den Jungen Émile, der während seiner Kindheit unter dem gestörten Vater zu leiden hatte.
Der Autor hat, nachdem er diesen Roman veröffentlicht hat, folgende Sätze gesagt:
"Jedes meiner Bücher entspricht einer Wunde (...) Mein Vater war meine letzte Wunde. Ich brauchte dreiundsechzig Jahre, um dieses Buch zu schreiben. Ich weiß nicht, ob ich weitere schreiben werde." (Klappentext)
Dieser autobiografische Hinweis hat mich betroffen gemacht. Ich ahne, dass Schreckliches in seiner Kindheit geschehen ist. Und trotzdem war ich nicht auf den Schmerz vorbereitet, der sich in jeder Zeile dieses Romanes finden lässt.

Quelle: dtv
Das Buch beginnt mit der Beerdigung des Oberhaupts der Familie Choulans. Bereits hier stellt sich heraus, dass in dieser Familie einiges nicht stimmte. Die Sätze
"Sie sah nichts, meine Mutter. Nie hatte sie etwas gesehen." (S. 7)
lassen direkt am Anfang ein ungutes Gefühl entstehen. Was ist also in der Kindheit von Émile Choulans (alter ego Sorj?) geschehen?

Zu Beginn dieses Romans werden die familiären Verhältnisse geschildert: Émile lebt mit seinen Eltern in einer Mietwohnung in Lyon. Mutter und Sohn leiden unter der Tyrannei des Vaters, der mit großer Brutalität über seine Familie herrscht. Der Vater scheint nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Er leidet unter einem übergroßen Geltungsbewusstsein. Tatsächlich ist er eher der Verlierertyp. Er scheint keiner Arbeit nachzugehen. Die Wertschätzung, die ihm in der Gesellschaft verwehrt bleibt, erzwingt er sich bei seiner Familie. Entweder durch Brutalität oder durch Lügengespinste, die er seinem Sohn erzählt. 
Momentan hat sich der Vater eine Karriere als Geheimagent angedichtet. Er verkauft seine Lügengeschichten äußerst glaubwürdig. Sein 8-jähriger Sohn glaubt ihm diese Geschichten. Denn der Vater erzählt sie nicht nur, er lebt sie auch. Beschattungen, Verfolgungen, verschlüsselte Nachrichten, Kontakte zum CIA, Verschwörungstheorien, … nichts lässt der Vater aus. 
"Ich wohne am Quai des Soyeux, im zweiten Stock, und mein Zimmer geht zum Fluss hinaus, erzählte ich. Und dass mein Vater ein Spion sei. Ein ehemaliger Compagnon de la Chanson, Judolehrer, Fallschirmjäger und amerikanischer Pastor. Und für eine Geheimorganisation arbeite. Und dass mein Pate Kennedys Leibwächter sei, damit beauftragt, die Berliner Mauer niederzureißen." (S. 78)
Émile wird als Mitverschwörer von seinem Vater rekrutiert und muss sich einer harten Agentenausbildung unterwerfen. Hat man anfangs den Eindruck, dass der Vater die Geschichten nur erfindet, um seinen Sohn zu beeindrucken, wird man mit der Zeit feststellen, dass der Vater selbst an die Geschichten glaubt. Er bindet den Sohn komplett in sein vermeintliches Agentenleben und seine Verschwörungstheorien ein. Und Émile hat zu funktionieren. Jedes Versagen wird mit unvorstellbarer Brutalität bestraft. Ein Wunder, dass niemand in der Schule oder Nachbarschaft bemerkt, welche Qualen Émile erdulden muss. Die Mutter trägt dazu bei, die Misshandlungen zu vertuschen. Immer wieder ruft sie ihrem Mann bei seinen Gewaltausbrüchen zu „Nicht ins Gesicht“. Émile überlebt seine Kindheit irgendwie. 
"Ich kannte das schon. Auf Knien, die Hände im Nacken, das Gesicht zur Wand, die Tür im Rücken. Dann sperrte er die Tür zu. Zweimal. Es war dunkel. Er misshandelte mich nicht, sagte kein Wort. Räumte mich nur weg, wo ich hingehörte. ... Ich weinte vor Schmerz, wenn er mich geschlagen hatte. Auch vor Wut. Aber nie aus Verzweiflung. Die gehörte nicht zur Strafe." (S. 142)
Im 2. Teil des Buches sind bereits einige Jahre verstrichen. Émile ist mittlerweile verheiratet und hat selbst einen Sohn. Er wird seine Eltern noch ein paar Mal wieder treffen. Bei dem Versuch, Erklärungen zu den Vorfällen in seiner Kindheit zu finden, wird er jedoch scheitern.

Dieser Roman enthält ganz viel Schmerz und ein wenig Tragikkomödie.
Die Tragikkomödie zeigt sich unweigerlich bei der Geheimagentenfarce, die der Vater seinem Sohn auftischt. Teilweise gibt es völlig blödsinnige Situationen, die peinlich berühren. Der Vater kommt in seinem Geheimagentendasein auf Ideen, die man einem erwachsenen Menschen nicht zutrauen möchte. Er lebt am Rand der Gesellschaft. Er, der Looser und Querulant, hat in seinem Leben nichts Nennenswertes erreicht. Stattdessen baut er sich eine Scheinwelt auf, in der er über seine Familie herrscht und in der sein Sohn eine wichtige Rolle spielt - die des bewundernden Untertanen. Und der Vater sonnt sich dabei in dessen Bewunderung und gibt sich mit diesem bisschen Glanz zufrieden. Zu mehr wird es in seinem Leben auch nicht reichen.
"Ich hatte mich schon immer gefragt, was in unserem Leben falsch lief. Nie luden wir Leute zu uns ein. Mein Vater wollte das nicht. Wenn jemand an der Tür klingelte, hob er die Hand, um uns zum Schweigen zu bringen. Wartete bis derjenige aufgab, und horchte auf seine Schritte im Treppenhaus. Trat ans Fenster und beobachtete, hinter dem Vorhang versteckt, siegreich dessen Abzug über die Straße." (S. 47)
Bei diesem Roman schwankt man zwischen Unglauben, Fassungslosigkeit und Wut. Der körperliche und seelische Schmerz, dem Émile permanent ausgesetzt ist, kommt in jeder Zeile durch. Sorj Chalandons Schreibstil zeichnet sich durch vorwiegend kurze Sätze aus, die die Gefühlslage von Émile sehr intensiv vermitteln. Als Leser wird man kaum Gelegenheit haben, das Gelesene zu verarbeiten. Denn hier berichtet ein Kind mit einer Selbstverständlichkeit von seinen Misshandlungen, die sprachlos machen.
Und dann ist da noch Émiles Mutter, die ihren Sohn nicht vor dem Vater beschützt hat.  Stattdessen hat sie sich mit den familiären Verhältnissen arrangiert und sich eine Nische geschaffen, in der sie einigermaßen unbeschadet die Jahre mit ihrem Mann überstanden hat. "Nichts sagen, nicht auffallen und machen, was er sagt" - dies waren für sie die probaten Mittel im Umgang mit ihrem Mann. Dass ihr Familienleben nicht normal war, hat sie vor sich selbst geleugnet. Dieses Leugnen der Realität wird bei ihr bis ins hohe Alter reichen. Daher weiß ich nicht, über wen ich mich mehr aufregen soll. Über den seelisch gestörten Vater, oder über die seelisch gestörte Mutter.
"In mir war nichts mehr. Kein Zorn. Kein Schmerz. Mein Körper hat seine Fäuste überlebt. Mein Kopf war heil geblieben." (S. 225)

Fazit:
Wenn ich rückblickend daran denke, dass dieser Roman autobiografische Züge trägt, wird mir Angst und Bange. Wie kann ein Mensch, der als Kind solchen Grausamkeiten ausgesetzt war, ein normales Leben führen? Doch Émile, dem Hauptcharakter dieses Romanes ist es gelungen. Daher steckt in seiner Geschichte am Ende doch noch ein bisschen Hoffnung.
Ein intensiver Roman, der schmerzhaft berührt, und der sprachlos vor Entsetzen macht.

© Renie





Über den Autor:
Sorj Chalandon war Journalist bei der Zeitung ›Libération‹. Seine Reportagen über Nordirland und den Barbie-Prozess wurden mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane ›Le petit Bonzi‹ (2005), ›Une promesse‹ (2006, ausgezeichnet mit dem Prix Médicis) und ›Mon traître‹ (2008). Sein vierter Roman ›La légende de nos pères‹ (2009) erschien 2012 als erstes Buch in deutscher Übersetzung u.d.T. ›Die Legende unserer Väter‹. Der folgende Roman ›Retour à Killybegs‹ (2011; dt. ›Rückkehr nach Killybegs‹, 2013) wurde mit dem Grand Prix du roman de l’Académie francaise 2011 ausgezeichnet und war für den Prix Goncourt 2011 nominiert. Auch der Roman ›Le quatrième mur‹ (2013; dt. ›Die vierte Wand‹, 2015) war für den Prix Goncourt nominiert. (Quelle: dtv)

Samstag, 9. September 2017

Nadja Losbohm: Die Tagebücher des Michael Iain Ryan

Pixabay/Hans
Bei der Auswahl meiner Lektüre verlasse ich mich oft auf mein Bauchgefühl. Dadurch bekommen auch Bücher eine Chance, die zu Genres gehören, die ich nicht so häufig lese, wie z. B. Fantasy. Bei "Die Tagebücher des Michael Iain Ryan" von Nadja Losbohm sagte mir mein Bauch, dieses Buch könnte etwas sein. Ich musste die Leseprobe nicht bis zum Ende lesen, damit klar war, dass dieses Buch mich packen wird. Und genauso war es, mein Bauch hatte mal wieder Recht gehabt.

Der Prolog dieses Romanes präsentiert dem Leser einen eigenartigen Mann: Michael Iain Ryan, Priester, 998 Jahre alt. Er lebt in der St. Marys Kirche, irgendwo auf dieser Welt. Hier bildet er Jäger aus, die die Kreaturen der Nacht bekämpfen. Er selbst kann selten in den Kampf eingreifen, denn er kann und darf die Kirche nicht verlassen. Würde er sich länger als eine Stunde außerhalb der Kirche aufhalten, würde er sterben. Wie ist er nun zu dem geworden, der er ist? Antwort auf diese Frage liefern seine Tagebücher.
Quellennachweis*

Band 1 der Tagebücher führt den Leser in Michaels Kindheit zurück. Seine ersten Lebensjahre verbringt Michael mit seiner Mutter und dem Vater in Frankreich. Michael hat einen engen Bezug zu seiner Mutter. Das Verhältnis zu seinem Vater ist von Distanz und Respekt, sogar Angst geprägt. Als Michael 8 Jahre alt ist, endet seine bisher friedliche Kindheit. Das Schicksal hat es so gewollt. Er kommt als Novize in ein Kloster, wo er die Jahre bis zum Erwachsenenalter verbringen wird. Das Kloster ist ein feindseliger Ort für einen Jungen wie Michael. Er, der dank seiner liebevollen Mutter eine glückliche Kindheit verbracht hat, wird auf einmal mit Hass und Grausamkeit konfrontiert. Novizen sind in diesem Kloster Menschen zweiter Klasse. Sie sind der Willkür der Mönche ausgesetzt, die ihre unterschiedlichsten Neigungen an den Novizen ausleben, immer unter dem Deckmantel des Glaubens. Insbesondere Michael wird zum bevorzugten Ziel der Grausamkeiten. Er ist den Oberen des Klosters hilflos ausgeliefert. Bei den anderen Novizen stößt er auf Ablehnung. Zu groß ist deren Angst, dass sie sich den Unwillen der Oberen zuziehen, wenn sie sich mit ihm abgeben.
"Ein Kloster gilt als eine Gemeinschaft, ein Verbund. Aber im Kloster von Gourin nahm man es damit nicht so genau. Im Gegenteil, jeder war sich selbst der Nächste." (Zitat aus dem Buch)
Dank der Erziehung durch seine Mutter, hat er die Religion anders erlebt als sie in dem Kloster vermittelt wird. An diesen Erinnerungen hält er fest. Sein Glaube hilft ihm, die Zeit in dem Kloster zu überstehen.

Das erste Tagebuch des Michael Iain Ryan konzentriert sich auf die Anfangszeit im Kloster und endet mit dem Ende der Novizenzeit. Nadja Losbohm hat dabei einen sehr atmosphärischen Roman geschaffen, der den Leser in das dunkelste „Mittelalter“ führt. Interessant ist dabei der Kontrast, der durch den Wechsel zwischen zwei Handlungssträngen entsteht: der damaligen und der heutigen Zeit, die Michael als 998-Jährigen zeigt. Michael ist natürlich mit der Zeit gegangen. So hat er die Vorzüge des Internets und der modernen Technologie schätzen gelernt und die Kirche, in der er lebt, entsprechend ausgestattet.
"Wie erleichtert man ist, einen weiteren Tag überlebt zu haben? Wenn man am Morgen den Tag scheut, weil man voller Angst ist vor dem, was vielleicht kommt und dann einfach nur froh ist, einen Tag hinter sich gebracht zu haben? So ist man nicht lebendig. So existiert man nur. Und genauso fühlte es sich für mich an." (Zitat aus dem Buch)
Nadja Losbohm muss einen enormen Recherchenaufwand betrieben haben. Die Beschreibung der damaligen Zeit und dem Leben im Kloster sind sehr detailliert und tragen zur atmosphärischen Stimmung dieses Roman bei. Spannung ist in diesem Buch von Anfang an gegeben und bleibt bis zum Schluss auf einem sehr hohen Niveau.

Der Leser wird am Ende dieses Romanes nicht erfahren, wie Michael es geschafft hat, das stolze Alter von 998 Jahren zu erreichen. Er wird jedoch immer wieder über Andeutungen stolpern, die auf ein dämonisches Geheimnis von Michael hinweisen, von dem er selbst als Kind nichts geahnt hat und das unter Umständen dazu beigetragen hat, dass die Mönche ihn so behandelt haben, wie sie es taten. 
" ... und man mich selbst dann bestrafte, wenn ich keinen Fehler begangen hatte. Sie taten es einfach, weil ich der war, der ich war, und weil ich das in mir trug, von dem der Prior meine, es wäre in mir." (Zitat aus dem Buch)
Stattdessen erwartet den Leser ein fieses Ende - fies, weil der Roman an einer Stelle aufhört, die den Leser aus der Handlung herausreißt. Mit dem Ende zeichnet sich eine interessante Entwicklung im Leben des Michael Iain Ryan ab, die man jedoch in diesem Roman nicht mehr erleben darf. Den Hinweis „Fortsetzung folgt“ wird man daher hassen, weil man unbedingt wissen möchte, wie das Leben des Michael Iain Ryan weitergehen wird. Aber die mittlerweile 998 Lebensjahre von Michael deuten darauf hin, dass es noch ein paar Tagebücher von ihm geben wird, denen ich jetzt schon entgegenfiebere.

Fazit:
Ein Fantasyroman, der mich von der ersten Seite an gefesselt hat und die Geschichte eines ungewöhnlichen Mannes erzählt. Die Fantasyelemente halten sich in Grenzen, stattdessen konzentriert sich die Autorin in dem ersten Band der Tagebücher auf die historischen Aspekte. Ich schätze, dass sich diese Verteilung in den nachfolgenden Büchern ändern wird. Ein Roman, der mich neugierig auf weitere Bände aus dieser Reihe macht. Leseempfehlung!

© Renie





Über Nadja Losbohm:
1982 in Hennigsdorf geboren, zog es die Autorin im Alter von 6 Jahren nach Berlin, wo sie noch heute lebt & arbeitet. Zu ihren bisherigen Werken zählen der Fantasy-Roman "Alaspis – Die Suche nach der Ewigkeit", die Fantasy-Romance-Buchreihe "Die Jägerin", das Kinderbuch „Hamster Stopfdichvoll & seine Freunde“ und die für den Deutschen Phantastik Preis 2017 nominierte Anthologie „Die Magie der Bücher“. „Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1)" ist Nadja Losbohms zehntes Buch. (Quelle: neobooks)





*Quellennachweis Buchcover:
Coverdesign: Tom Jay – www.tomjay.de
Fotos:
Titelbild: © FernandoCortes- Shutterstock.com
Rahmen: © KatyaKatya - Fotolia.com
Hintergrund: © lava4images - Fotolia.com

Arturo Pérez-Reverte: Der Preis, den man zahlt

Quelle: Wikimedia commons
Spätestens mit seinem Roman "Der Club Dumas" ist Arturo Pérez-Reverte zumindest unter den Bibliophilen zum Kult-Autor geworden, sind doch Bücher in diesem Thriller, der erstmalig 1993 erschienen ist, das bestimmende Element. Leider gehöre ich zu den wenigen Bibliophilen, die nicht von diesem Roman "umgehauen" worden sind. Doch Bücher, die das Siegel "Perez-Reverte" tragen, verdienen immer Aufmerksamkeit. Denn der spanische Autor ist einer der meistgelesenen in seinem Land. In seinem aktuellen Roman "Der Preis, den man zahlt", erschienen im Insel Verlag, geht es diesmal nicht um Bücher, sondern um einen Helden, Typ James Bond, der auf geheimer Mission in Spanien zur Zeit des Bürgerkrieges unterwegs ist.
"Die Damenwelt pflegte Gefallen zu finden an seinem eleganten Auftreten in Kombination mit dem attraktiven Profil und dem gewinnenden, kühlen Lächeln, das er, tausend Mal geprobt und auf den Millimeter genau austariert, Frauen gegenüber einsetzte wie eine Visitenkarte." (S. 35)
Den Vergleich zu James Bond habe ich bewusst gewählt. Denn Lorenzo Falcó kann locker mit 007 mithalten. Der gleiche Typ Mann: charismatisch, mordsgefährlich, kaltblütig, skrupellos (falls erforderlich) und natürlich ein Womanizer. Ian Fleming hätte seine Freude an Falcó gehabt. Einen kleinen Unterschied - abgesehen von der Nationalität - gibt es zwischen den beiden: James gehört zu den Guten; Falcó gehört zu denjenigen, die am meisten zahlen. Im Moment sind dies die Falangisten, Mitglieder der faschistischen Bewegung in Spanien, die ihre Anfänge in den 30er Jahren hatte.
Quelle: Suhrkamp/Insel

Der Inhalt ist schnell zusammengefasst: Mitten im spanischen Bürgerkrieg erhält Falcó die Aufgabe, den Gründer der Falange, so ganz nebenbei Francos Bruder, aus dem Gefängnis in Alicante zu befreien. Alicante gehört zu der militärischen Zone der Republikaner. Insofern kann ein Angehöriger der Falange - also die Gegenseite - nicht einfach in diese Zone reinspazieren und einen der Lieblingsgefangenen der Republikaner befreien. Falcó erhält also den Auftrag zu einer geheimen Mission. Vor Ort soll er von Angehörigen der Republikaner unterstützt werden. Dies sind Ginès Montero, seine Schwester Cari sowie Eva Brengel, eine Deutsche mit spanischen Wurzeln. Während Falcó nur einen Job macht, gehen die drei Anderen mit viel Idealismus an die Aufgabe heran. Sterben für die gute Sache, ist eine Option, die die Drei durchaus in Betracht ziehen, natürlich mit einer gehörigen Portion Bürgerkriegsromantik, die die Unerfahrenheit der drei deutlich macht. 
"... Falangisten, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, die sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit gegenseitig umbrachten. Mutige, entschlossene junge Leute, die einen wie die anderen, die sich oftmals kannten und sogar Kommilitonen oder Kollegen gewesen waren, miteinander getanzt, Kinos und Cafés besucht, Freunde und sogar die Liebste geteilt hatten. Er hatte gesehen, wie sie mordeten, wie sie äußerst methodisch einen Vergeltungsschlag nach dem anderen landeten. Manchmal voller Hass und manchmal mit dem kalten Respekt vor einem Gegner, den man kannte und schätzte, auch wenn er aus dem falschen Schützengraben schoss. Er oder ich, das war die Devise. Das Leitmotiv. Entweder sie oder wir." (S. 102 f.)
Der Angriff auf das Gefängnis wird vorbereitet. An der Aktion sind auch die Deutschen sowie die Italiener beteiligt. Der 2. Weltkrieg ist im Übrigen noch nicht ausgebrochen. Deutschland sortiert noch seine Unterstützer innerhalb Europas. Der Angriff verläuft natürlich nicht wie ursprünglich vorgesehen. Stattdessen gerät Falcó in Verwicklungen und Kompetenzgerangel zwischen den einzelnen Organisationen der Franco-Anhänger.

Dieser Roman ist sehr spannend gemacht, was nicht nur an der Geschichte sondern auch an dem Sprachstil von Arturo Pérez-Reverte liegt. Die Kaltblütigkeit, die sein Charakter Falcó an den Tag legt, findet sich auch in dem Sprachstil des Autors wieder. Mit wenig Leidenschaft, fast schon abgeklärt und gelassen, beschreibt er Szenen, die dem Leser die Nackenhaare hochstehen lassen. Hier wird einmal mehr deutlich, dass Töten ein Handwerk ist. 
"Aufs Geratewohl oder im Affekt zu töten, das bekam jeder Trottel hin. Oder weil man sich für unantastbar hielt, was in diesen Zeiten sehr häufig vorkam. Auf angemessene Weise, fehlerfrei, professionell zu töten war jedoch nicht dasselbe. Eine andere Kategorie. Dazu brauchte man ein hohes Maß an Zielstrebigkeit, Gespür für die richtige Gelegenheit, Urteilsvermögen und einen gewissen Grad an Übung." (S. 82)
Interessant ist die Entwicklung von Falcó. Erscheint er anfangs als kaltblütiger Profi-Agent, der über Leichen geht, entdeckt er zum Ende seine schwache und loyale Seite. Über Leichen geht er aber immer noch. Nicht unschuldig an seiner Wandlung ist dabei Eva, die Deutsche.
Ja, "Bond-Girls" gibt es in diesem Roman auch. Die beiden wichtigsten sind Cari und Eva. Ok, von Cari lässt Falcó die Finger (noch ein Unterschied zu 007, der ja bekanntlich nichts anbrennen lässt), auf Eva lässt er sich jedoch ein. Und Eva ist ein Bond-Girl der besonderen Güte. Sie ist nicht nur schön sondern erweist sich auch als gefährlich.

Der Roman "Der Preis, den man zahlt" präsentiert eine Episode der spanischen Geschichte. General Franco war mir natürlich ein Begriff, wer kennt ihn nicht. Aber was seinerzeit in Spanien los wahr, und wer gegen wen und warum gekämpft hat, wusste ich nicht mehr. Mein Geschichtsunterricht liegt schon zulange zurück. Daher habe ich die Lektüre dieses Romans als Auffrischkurs genutzt, um mich mit der jüngsten spanischen Geschichte auseinanderzusetzen, allerdings nicht ohne Unterstützung von Wikipedia, das mir einiges über die Bürgerkriegsparteien verraten hat.

Fazit:
Ich habe diesen Roman mit großem Vergnügen gelesen. Es ist ein spannender Agententhriller, der durch die Kaltblütigkeit des Protagonisten sowie durch den Sprachstil des Autors besticht. Konnte mich der legendäre Roman "Der Club Dumas" nicht ganz so abholen wie andere Bibliophile, dieser Roman konnte es. Mit "Der Preis, den man zahlt" bin ich zum Fan von Arturo Pérez-Reverte geworden.

© Renie



Über den Autor:
Arturo Pérez-Reverte, geboren 1951 im spanischen Cartagena, ist einer der erfolgreichsten Autoren Spaniens. Sein Werk wurde in 41 Sprachen übersetzt, sein Roman Der Club Dumas ist ein Weltbestseller und wurde von Roman Polanski mit Johnny Depp in der Hauptrolle unter dem Titel Die neun Pforten verfilmt. Arturo Pérez-Reverte arbeitete 21 Jahre als Kriegsreporter. Seit 2003 ist er Mitglied der Real Academia Española. (Quelle: Suhrkamp/Insel)




Donnerstag, 7. September 2017

Birgit Vanderbeke: Wer dann noch lachen kann

Quelle: Pixabay/Alexas_Fotos
"Wer lachen kann, dort wo er hätte heulen können, bekommt wieder Lust am Leben."
Dies ist ein Zitat von Werner Finck, einem deutschen Kabarettisten, Schauspieler und Schriftsteller (*1902 - † 1978).
Man sollte meinen, dass sich die Protagonistin des Romanes "Wer dann noch lachen kann" von Birgit Vanderbeke, dieses Zitat zueigen gemacht hat. Denn trotzdem ihre Kindheit ein einziger Grund zum Heulen war, hat sie es doch geschafft, wieder Lust am Leben zu finden.

Über den Roman
Vor einigen Jahren hatte die Ich-Erzählerin (ohne Namen) des Romanes einen Autounfall. Die Schmerzen, die sie durch die Verletzungen erlitten hat, ist sie nie losgeworden, obwohl die Wunden schon lange verheilt sind. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an Monsieur Mounier, einem Therapeuten, den man aufgrund seiner ungewöhnlichen Methoden durchaus als Wunderheiler bezeichnen könnte. Der erste und einzige Termin dauert lediglich eine Stunde. Auf wundersame Weise sind ihre Schmerzen verschwunden. Zwischen der Erzählerin und Monsieur Mounier scheint es eine Verbindung zu geben, die sich nicht logisch erklären lässt. Allein durch sein Handauflegen hat er erkannt, dass ihr Schmerz viel tiefer sitzt und eine andere Ursache hat als der Unfall, der schon lange zurück liegt.
"Ich hätte gern gesagt, das ist lange her, aber plötzlich dachte ich, Mounier hat vielleicht recht, vielleicht ist das gar nicht so lange her und vorbei, vielleicht tun alle nur so, als ob das alles vergangen wäre, und in Wirklichkeit ist es gar nicht weit weg, sondern hier und jetzt." (S. 83)
Und die Erzählerin erinnert sich. Ich nenne sie von jetzt an der Einfachheit halber Karline. Die Erinnerungen sind die Gedanken eines Kindes und machen einen Großteil dieses Romanes aus. Dem Leser wird eine Kindheit offenbart, die tiefe seelische Wunden bei Karline hinterlassen hat.

Quelle: Piper
Der Roman beginnt kurz nach der Flucht der Familie in den Westen, unmittelbar nach dem Bau der Berliner Mauer. Die erste Zeit verbringt die Familie - Vater, Mutter und Karline - in einem Auffanglager, siedelt später in eine Mietwohnung um und baut sich mit der Zeit eine neue Existenz in der BRD auf. Der Vater macht Karriere in der Pharmaindustrie. Die Mutter kümmert sich um Kind und Haushalt. Man wird nicht verstehen, warum, aber die Mutter entdeckt Pharmazeutika als probates Mittel zur Kindererziehung. Karline erhält regelmäßig Medikamente, die sie in erster Linie ruhig stellen sollen. Was bringt die Mutter nur dazu, ihrem Kind die Tabletten zu verabreichen? Karline macht nicht den Eindruck, als ob sie die Mittel nötig hat. Sie ist ein lebhaftes Kind, steckt voller Fantasie. Doch nichts deutet darauf hin, dass sie eine Erkrankung hat. Hinzu kommt, dass die Mutter dem Kind die Medikamente in Eigeninitiative verabreicht. Es gibt keinen Arzt weit und breit, der die Medikamente verschrieben hat. Das Urteil der Mutter über Karline verwundert und verstört: Das Kind gehört in die Klapse! Sehr schnell stellt sich die Frage, ob die Mutter nicht versucht, ihre Tochter ruhig zu stellen, um sie vor dem cholerischen und gewalttätigen Vater zu schützen, der mit seiner Dominanz sowohl Mutter als auch Tochter permanent einschüchtert und bedroht.
"Das Kind dort unten hört auf zu schreien. Es ist wieder kein Indianer gewesen, aber es hat erst ganz zum Schluss angefangen zu schreien. ... Ein Schlag für die richtige Antwort, zwei Schläge für die falsche. Das Kind dar nichts sagen außer Ja oder Nein." (S. 14 f.)
Karline wächst also in dem Glauben auf, dass sie nicht normal ist, und dass sie tatsächlich in die Klapse gehört. Einzig ihre Fantasie und ihr Humor bewahren sie davor, dass sie zu einem seelischen Wrack wird. Sie tröstet sich damit, Fantasiefiguren zu erschaffen, mit denen sie sich nachts unterhält und die ihr in ihrem Kummer beistehen. In ihrer Fantasie wird sie von diesen Figuren Karline genannt.

Die Handlung des Romanes findet auf 2 Ebenen statt: Zum Einen wird der Leser mit den Kindheitserinnerungen konfrontiert; zum Anderen präsentiert sich dem Leser eine mittlerweile erwachsene Karline, die verheiratet ist und selbst Kinder hat. Die seelischen Schäden, die sie durch ihre Kindheit erlitten hat, sitzen sehr tief und sie wird ein Leben lang damit beschäftigt sein, diese Kindheit zu verarbeiten. Trotzdem hat sie eine optimistische Ausstrahlung. Und indem sie versucht, über ihre Geschichte zu lachen, lebt sie weiter mit "viel Lust am Leben".
"Es gibt nur einen einzigen Menschen, der auf Sie aufpassen kann. Das sind Sie. Sonst niemand." (S. 7)
Birgit Vanderbeke hat mit diesem Roman das Bild einer gestörten Familie gezeichnet. Die seelischen Grausamkeiten, die zum Alltag der Familie gehören, sind verstörend. Man ist sich nicht sicher, wem man die größeren Vorwürfe machen soll: dem cholerischen Vater, der sein Kind derartigen Grausamkeiten aussetzt; oder der Mutter, die ihr Kind nicht vor dem Vater geschützt hat.

Die Autorin hat sich bei der Darstellung der Kindheitserinnerungen auf eine kindliche Sprache eingelassen, die unbeschwert wirkt und voller Sprachwitz steckt. Das macht das tatsächliche Geschehen in dieser Familie umso fürchterlicher. Man freut sich mit der erwachsenen Karline, dass sie es endlich geschafft hat, einen großen Schritt zur Verarbeitung ihrer Kindheit zu machen. Umso verstörender ist daher das Ende des Romanes, das wie ein Paukenschlag im Sinne von "Schlimmer geht immer" daher kommt.

Fazit:
Dies ist ein Roman, der sich nicht schnell verarbeiten lässt und der lange in Erinnerung bleiben wird. Bewundernswert ist dabei der Optimismus, den die Autorin Birgit Vanderbeke, mit ihrem Sprachwitz vermittelt. Kaum zu glauben, dass jemand, der so gelitten hat, immer noch lachen kann. Aber es scheint zu funktionieren.

© Renie







Über die Autorin:
Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität. Mehr Infos zur Autorin unter www.birgitvanderbeke.com (Quelle: Piper)










Freitag, 1. September 2017

Rodrigo Hasbún: Die Affekte

Quelle: Pixabay/Kaniri
Hans Ertl war in den 30er/40er Jahren Kriegsberichterstatter und Kameramann, gern gebucht von Leni Riefenstahl und Generalfeldmarschall Erwin Rommel. Das hat ihn nach dem Krieg nicht beliebt gemacht. Mit Einmarsch der Alliierten in Deutschland wurde er vorübergehend mit einem Berufsverbot belegt, das ihn von da an nur noch als Fotograf arbeiten ließ. In Deutschland als Nazi-Sympatisant abgelehnt, entschließt er sich mit seiner Familie 1952 nach Bolivien auszuwandern. Er zieht mit seiner Frau und den 3 Töchtern nach La Paz. Seine Tochter Monika wird sich später dem bolivianischen Untergrund anschließen, und in Deutschland als "Che Guevaras Rächerin" bekannt sein, die bei dem Versuch den ehemaligen SSler und BND Mitarbeiter Klaus Barbie zu entführen, scheitern wird.
Von der behüteten Tochter eines Auswanderers zur gesuchten Terroristin. Wie konnte es dazu kommen? "Die Affekte" von Rodrigo Hasbún, ein Roman über die Auswandererfamilie Ertl, sucht nach Erklärungen.
" ..., sie, das unverstandene Kind, die chaotische, rebellische, Jugendliche, die Frau, die später alles Augenmaß verlor und sich nicht mehr im Griff hatte und am Ende sich selbst und anderen Leid zufügte." (S. 41)
Der Roman wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. In erster Linie sind es die Töchter, die über ihr Leben in Bolivien berichten und die Auswirkungen, die die Auswanderung auf ihre Familie hatte. 
Der Roman beginnt mit der Rückkehr Hans Ertls von einer der unzähligen Expeditionen, die er als Kameramann mitgemacht hat. Eine weitere Expedition steht an: die Erforschung der verschollenen Stadt Paititi im Urwald von Bolivien.
Monika, die Älteste der 3 Schwestern, war bereits als Kind psychisch labil. Hans Ertl beschließt, Monika und Heidi (die Mittlere der drei Schwestern), mit auf die Expedition zu nehmen. Er erhofft sich dadurch, Monika bei der Bewältigung ihrer psychischen Probleme zu unterstützen. Trixi, die jüngste Tochter, bleibt zuhause in La Paz bei ihrer Mutter. Mutter Ertl scheint die ewig Daheimgebliebene zu sein. Was sie mit ihrem Mann Hans verbindet, bleibt unklar. Zumindest ist sie immer da, wenn er von seinen Expeditionen zurückkehrt. Aber glücklich und zufrieden mit ihrem Leben scheint sie nicht zu sein.

Quelle: Suhrkamp
Es gibt keinen kontinuierlichen Handlungsstrang in diesem Roman. Der Handlungsstrang wird zwischenzeitlich unterbrochen und setzt an anderer anachronistischer Stelle wieder ein. Das Bild, das sich von den Familienmitgliedern ergibt, setzt sich daher zusammen wie ein Puzzle. Im Verlauf des Romanes ergeben sich einzelne Facetten, die am Ende ein großes Ganzes ergeben, wobei der Focus eindeutig auf der Entwicklung von Monika liegt.
"An den Tagen, wo sie gut drauf war, beneidete ich die Leichtigkeit meiner Schwester, ihre Fähigkeit, mit jedem gut auszukommen. Wie es sein konnte, dass diese gute Laune eine so fürchterliche Kehrseite hatte, war etwas, das mir nicht in den Kopf wollte. Es wollte mir nicht in den Kopf, dass das fröhliche und das verzweifelte Mädchen ein und dieselbe Person sein sollten." (S. 23 f.)
Monika ist unverkennbar das Kind ihres Vaters. Mit der gleichen Leidenschaft und fast schon Besessenheit verfolgt sie ihre Ziele. Beide sind Charakterköpfe, die sich für die Dinge aufreiben, die ihnen wichtig sind. Anfangs hatte ich den Eindruck, dass Monika Papas Liebling ist. Doch je älter sie wird, umso häufiger und heftiger prallen Vater und Tochter aufeinander, so dass sie am Ende nicht mehr miteinander können.
Sie schließt sich irgendwann einer Hilfsorganisation in Bolivien an. Hier setzt sie sich mit viel Engagement und Vehemenz für die Armen in Bolivien ein. Aber alles, was sie bei ihrer Wohltätigkeit erreicht, scheint immer zu wenig im Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit. Der Weg von der gemäßigten Hilfsorganisation in die Radikalität ist daher für sie nicht weit. Es dauert nicht lange, und Monika wird Mitglied einer bolivianischen Terrormiliz, die sich nicht davor scheut, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Und so ist aus der behüteten Tochter des Kameramannes Hans Ertl eine militante Terroristin geworden, rebellisch und unverstanden bis an ihr Lebensende.

Der Autor Rodrigo Hasbún widmet sich einem kleinen Kapitel der deutschen und bolivianischen Geschichte, das für viele in Vergessenheit geraten ist, so auch für mich. Als ich diesen Roman begonnen habe, war mir nicht bewusst, dass die Familie Ertl wirklich existent war. Doch mit fortschreitender Seitenzahl in diesem Buch packte mich die Neugier und eine Ahnung, dass es bei dieser Geschichte einen Bezug zur Realität gibt, den ich natürlich recherchiert habe. Und siehe da, auf einmal bekam die Handlung einen ganz anderen Stellenwert für mich. Was vorher so fantastisch erschien, so z. B. die Expedition im bolivianischen Urwald, die für mich zwangsläufig mit einer Indiana Jones-Romantik verknüpft war, wurde auf einmal Wirklichkeit.
"Es stimmt nicht, dass die Erinnerung ein sicherer Ort ist. Auch dort werden Dinge unkenntlich und gehen verloren. Auch dort entfernen wir uns am Ende von den Menschen, die wir am meisten lieben." (S. 135 f.)
Rodrigo Hasbún hat einen bemerkenswerten Sprachstil. Völlig schnörkellos und nüchtern beschreibt er die Auswanderung und den Niedergang der Familie Ertl. Die Auswanderung stellt die Familie vor eine harte Bewährungsprobe, die sie am Ende nicht bestehen wird. Es ist dabei erstaunlich, wie es dem Autor allein durch seinen Sprachstil gelingt, diese extreme Emotionalität, denen die einzelnen Charaktere unterworfen sind, völlig emotionslos wiederzugeben. Das ist sprachlich gesehen ganz großes Kino.

Fazit:
Ein hochinteressantes Buch, das einen Einblick in ein Stück Zeitgeschichte gewährt, die bei vielen in Vergessenheit geraten ist. Der Bezug zur Realität und die Entwicklung der Charaktere macht die erzählte Familiengeschichte um einiges eindringlicher als sie ohnehin schon ist. Hinzu kommt der bemerkenswerte Sprachstil des Autors. Also rundum ein Buch, das ich gerne weiterempfehle!

© Renie




Über den Autor:
Rodrigo Hasbún ist Jahrgang 1981, Bolivianer palästinensischer Herkunft mit Wohnsitz im texanischen Houston. Die Zeitschrift Granta nennt ihn einen der besten spanischsprachigen Nachwuchsautoren seiner Generation. Die Affekte ist Hasbúns preisgekrönter zweiter Roman, sein erster in deutscher Übersetzung. (Quelle: Suhrkamp)