Mittwoch, 26. Februar 2020

Peter Zantingh: Nach Mattias

Es gibt Fragen, die möchte man sich nicht stellen. Es sind "Was wäre, wenn"- Fragen wie "Was wäre, wenn ich morgen vom Auto überfahren werde?"; "Mit dem Flugzeug abstürze?"; "Oder einem Terroranschlag zum Opfer falle?"; "Oder jemand, der mir nah steht, von einem Moment auf den anderen nicht mehr da ist?" Oder, oder, oder ...

Diese aufwühlenden Fragen und damit verbundenen Gedanken verursachen großes Unbehagen. Denn wer beschäftigt sich schon gern mit dem Tod. Dennoch kann man sich nicht von diesen Gedanken freisprechen, denn sie sind immer latent vorhanden - mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Und irgendwann kommt jeder in die Situation, in der er sich mit der Frage konfrontiert sieht: "Was wäre, wenn ich oder jemand, der mir nah steht, nicht mehr wäre?" 
Und um diese und ähnliche Fragen geht es in dem Roman "Nach Mattias" des niederländischen Autors Peter Zantingh.

Derjenige, der hier gerade gestorben ist, ist Mattias. Wir wissen nicht, wie alt Mattias war, als er starb, können aber den Aussagen über ihn entnehmen, dass er in den Zwanzigern oder Dreißigern war. Wir wissen auch zunächst nicht, warum oder woran Mattias gestorben ist. Das ist auch nicht wichtig. Die Konsequenz für Mattias ist dieselbe. Viel wichtiger ist, was sein Tod bei den Leuten auslöst, die ihn liebten, die ihm zumindest nah waren oder auch nur flüchtig mit ihm zu tun hatten. 
Quelle: Diogenes

"Ein guter Freund liest mit gesenktem Blick etwas vom Blatt ab. Immer voller Pläne, sagt er. Er hatte immer was Großes vor. Vielversprechendes, Termine. Immer wieder mit was Neuem befasst.
Ein Zweiter übernimmt, als dem Ersten die Stimme versagt. Er liest: Er wollte was. Wenn es ihm zu lange dauerte, wurde er ungeduldig. Scharrte mit den Hufen. Kommt, ihr Loser. ...
Sie möchte sich erheben. Nein. So war er nicht." 
Am Beispiel von acht Charakteren, denen jeweils ein oder zwei Kapitel in diesem Buch gewidmet sind, erleben wir, wie diese Menschen mit dem Verlust von Mattias umgehen bzw. was die Trauer mit ihnen macht. Wir erfahren, welches Leben sie führen oder geführt haben - mit und ohne Mattias. Allen voran sind dies Mattias' Lebensgefährtin, sein bester Freund, seine Großeltern und seine Mutter, aber auch irgendjemand, den Mattias irgendwoher kannte. Natürlich überwiegen in diesem Buch Traurigkeit und Betroffenheit. Doch gleichzeitig wird man hier auch Hoffnung finden. Denn ein Verlust kann auch einen Neuanfang bedeuten.

Die zentralen Fragen, die sich bei der Lektüre dieses Romans stellen, sind:
Welche Spuren hinterlässt ein Mensch? Welche Erinnerungen an diesen Menschen bleiben bestehen? Was bewirkt der Verlust eines Menschen bei den Hinterbliebenen? 

Dies sind Fragen, die sich unmöglich allgemeingültig beantworten lassen. Anhand der Art und Weise wie Peter Zantinghs Protagonisten gelebt haben und "Nach Mattias" leben werden, entwickeln sich jedoch Denkansätze, die den Leser zur Selbstreflexion bewegen. Und dadurch wird dieser Roman zu einem sehr persönlichen und aufwühlenden Buch für den Leser. 

Dieses Buch kann wehtun, denn die Geschichten der einzelnen Charaktere kratzen an der eigenen Seele. Peter Zantingh hat mit seinen unterschiedlichen Protagonisten einen Querschnitt aus dem sozialen Umfeld eines jeden Lesers geschaffen. Daher ist es fast nicht zu vermeiden, dass man sich selbst anstelle des einen oder anderen Charakters sieht. Und man stellt sich die "Was wäre, wenn"- Fragen, die man am liebsten nicht stellen würde, weil sie einen Tabu-Bereich des eigenen Inneren betreffen. Und allein die Vorstellung des Verlusts eines lieben Menschen ist unerträglich.
"Nein, das Schwerste von allem, ..., sei der Verlust von Erinnerungen. Weil ich heute mit dem Akt des Erinnerns den schwarzen Schleier der Gegenwart über sie legte. Und der bleibe: Beim nächsten Mal sei es schon eine Erinnerung an diese Erinnerung, eine Kopie einer Kopie. Bis eines Tages alle Formen und Farben weg seien."
Und jetzt werde ich persönlich, was ich sonst in meinen Buchbesprechungen vermeide. Aber hier geht es nicht anders:
Mich hat dieser Roman bis ins Mark erschüttert. Ich bin in einem Alter, das man optimistisch als die zweite Hälfte des Lebens bezeichnet (pessimistisch gesehen ist es wohl eher das letzte Drittel). Hinzu kommt, dass mir meine Gesundheit vor ein paar Jahren einen üblen Streich gespielt hat, was mir damals die eigene Sterblichkeit mehr als bewusst gemacht hat. (Zurückgeblieben sind Gott sei Dank nur ein paar seelische Narben). Daher taucht die Frage ohne Antwort, wieviel Zeit mir mit meinen Lieben "theoretisch" noch bleiben "könnte" (ein Hoch auf den Konjunktiv!), immer wieder auf. Doch ein Gutes hat diese Frage. Gepaart mit meiner persönlichen Erfahrung ist sie ist für mich eine Mahnung, bewusster zu leben und ich sehe mich in der Pflicht - sowohl mir, auch meinen Lieben gegenüber -, jede Minute des Lebens zu genießen, als wäre es die Letzte.

Und diesen Gedanken nehme ich auch aus "Nach Mattias" mit.

Mein Fazit:
Ein Buch, das wehtut, auf das man sich einlassen muss, das aber am Ende sehr viel zu geben hat! Leseempfehlung!

© Renie
Buchbotschafterin (aus Überzeugung) für den Roman "Nach Mattias"




Samstag, 22. Februar 2020

Alex North: Der Kinderflüsterer

Quelle: Pixabay

"Wenn die Tür halb offen steht, ein Flüstern zu dir rüberweht.
Spielst du draußen ganz allein, findest du bald nicht mehr heim. 
Bleibt dein Fenster unverschlossen, hörst du ihn gleich daran klopfen. 
Denn jedes Kind, das einsam ist, holt der Flüsterer gewiss."
Das beschauliche englische Örtchen Featherbanks wird die neue Heimat von Schriftsteller Tom Kennedy und seinem Sohn Jake (6). Jakes Mutter Rebecca ist im Jahr zuvor gestorben. Tom ist mit der alleinigen Erziehung seines Sohnes überfordert. In Featherbanks wollen Vater und Sohn neu anfangen und ins Leben zurückfinden.
Auch Featherbanks blickt auf eine traurige Vergangenheit zurück:
Vor etwa 20 Jahren ging hier der Kinderflüsterer um: ein sadistischer Serienmörder tötete mehrere kleine Jungs. Der Polizeibeamten Pete Willis konnte den Kinderflüsterer damals zur Strecke bringen. Der Mörder wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Kurz bevor Tom und Jake nach Featherbanks ziehen, verschwindet wieder ein kleiner Junge, Neil. Es gibt eine Gemeinsamkeit zum damaligen Fall: das Flüstern. Wochen vor seinem Verschwinden erzählte Neil, dass nachts vor seinem Fenster ein Monster war, das ihm durch die Dinge, die er ihm zugeflüstert hat, schreckliche Angst gemacht hat. Was als Albtraum eines Kindes abgetan wurde, scheint nun Wirklichkeit zu werden.
Auch diesmal wird Pete Willis in den Fall eingebunden. Die Ähnlichkeiten zu dem damaligen Fall des Kinderflüsterers sind einfach zu groß.
Quelle: blanvalet
"Es war unbeschreiblich. Er hatte eine Tür aufgeschoben, die er nie mehr würde schließen können, und eine Erfahrung gemacht, die nur wenige andere auf diesem Planeten je machten. Auf diese Reise konnte man sich weder vorbereiten, noch gab einem jemand praktische Tipps - es gab keine Landkarte, die einen hier hindurchmanövrierte. Die konkrete Tötungshandlung hatte ihn hinaus in ein unkartiertes Meer aus Emotionen katapultiert, in dem er jetzt dahintrieb."
In der Handlung findet ein ständiger Wechsel in der Erzählperspektive statt: Witwer Tom, Söhnchen Jake und der Polizeibeamte Pete Willis führen uns durch die Geschichte. Aber auch der anonyme Mörder gewährt dem Leser einen Einblick in seine dunkle Seele, was an diesen Stellen natürlich besonders unheimlich ist.
Nervenkitzel ist in diesem Thriller daher garantiert.

Neben dem Thrill steht auch die Vater-Sohn-Beziehung von Tom und Jake im Fokus. Tom muss trotz seiner Trauer als Vater funktionieren. Plötzlich muss er lernen, Jakes Alltag allein zu organisieren. Er ist überfordert mit dieser Aufgabe. Leider macht Jake es ihm nicht leicht. Der Kleine ist verschlossen, zeigt Verhaltensweisen, die Tom irritieren und mit denen er nur sehr schlecht umgehen kann. Jake hat eine Fantasiefreundin. Ein kleines Mädchen, das scheinbar nur in seinem Kopf existiert, ist seine enge Vertraute. Jake tut sich schwer damit, Kontakt zu anderen Kindern zu knüpfen. Sei es aus Trauer oder aus anderen Gründen. Nichtsdestotrotz versuchen Vater und Sohn zusammenzuhalten. Denn egal wie irritierend Jakes Verhalten manchmal für Tom ist, die beiden lieben sich abgöttisch.

Durch die Perspektive des Polizeibeamten Pete Willis blicken wir in die Vergangenheit und auf den damaligen Fall des Kinderflüsterers. Pete ist ein disziplinierter Mensch, dessen Leben von Routinen bestimmt ist. Er steht kurz vor der Pensionierung und ist trockener Alkoholiker. Er hat mit Ereignissen aus seiner Vergangenheit zu kämpfen, die ihm Albträume bescheren und sein Leben immer noch beeinflussen. Der damalige Fall des Kinderflüsterers lässt ihn nicht los. 
"Jake und ich liefen durch das Haus, rissen Türen und Schränke auf, schalteten Lampen an und wieder aus, zogen Vorhänge auf und zu. Unsere Schritte hallten von den Wänden wider; davon abgesehen herrschte immer noch Stille. Noch während wir uns von Zimmer zu Zimmer vorarbeiteten, wurde ich das Gefühl nicht los, als wären wir nicht allein. Als würde irgendwer um einen Türrahmen spähen, wenn ich mich nur im richtigen Moment umdrehte. Es war ein blödsinniges, irrationales Gefühl, aber es war nun mal da."
Alex North beherrscht das Thriller-Handwerk par excellence. Denn die Handlung dieses Romans wird von Anfang bis zum Ende von einem unterschwelligen Grusel begleitet. Es gibt diese großartigen Thriller-Momente, die andeuten, dass schreckliche Dinge passieren werden und mich beim Lesen in eine angespannte Lauerstellung versetzten. Das ist genau das, was ich von einem guten Thriller erwarte.

Was ich bei einem guten Thriller nicht benötige, sind blutrote plakative Gewaltorgien. Die findet man hier auch nicht. Bevor ich mich für diesen Roman entschieden habe, war ich mir nicht sicher, ob ich mit Morden und Gewalt an Kindern umgehen kann. Darin geht es schließlich in diesem Roman. Doch Alex North verzichtet auf die Beschreibung der Todesumstände der Kinder. Das hat er nicht nötig. Er deutet nur dezent an, der Rest spielt sich im Kopf des Lesers ab. Daher bleibt jedem selbst überlassen, wieviel Raum er seinen Fantasien geben möchte.

Fazit:
Unglaublich spannend, das Kopfkino läuft auf Hochtouren. Leseempfehlung!

© Renie

Mittwoch, 19. Februar 2020

Abbas Khider: Palast der Miserablen

Quelle: Pixabay/mikecook1
Im Irak herrscht Krieg. Das ist nichts Neues. Denn im Irak herrscht immer Krieg. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob sich die Aggression gegen andere Länder oder eigene Bevölkerungsgruppen richtet. Der Irak ist und bleibt ein hochexplosives Pulverfass. Wie es sich auf bzw. in diesem Pulverfass leben lässt schildert Abbas Khider in seinem Roman „Palast der Miserablen“.

Der Schriftsteller weiß, wovon er spricht. Schließlich hat er bis zu seinem 23. Lebensjahr im Irak gelebt. Der irakische Alltag, geprägt von Kriegstreiberei und Verfolgung ist ein Teil seines Lebens.
Quelle: Hanser
"' ... Erst acht Jahre Krieg gegen den Iran, dann eine kleine Pause, bis Kuwait dran war. Das hat zum zweiten Golfkrieg geführt, der wiederum den Aufstand im Süden und Norden zur Folge hatte. Davor, danach oder dazwischen noch unzählige weitere Kampfhandlungen: Regierung gegen Opposition, Opposition gegen Opposition, Araber gegen Kurden, Araber gegen Araber, Muslime gegen Christen, Volk gegen Volk und so weiter. Die Liste an Kriegen, Schlachten und Massakern ist endlos und wird jeden Tag länger.'"
Protagonist in Khiders Roman ist der junge Iraker Shams Husssein, der im Süden des Landes geboren wird und hier einen Teil seiner Kindheit verbringt. Irgendwann ist seine Familie, die der Bevölkerungsgruppe der Schiiten angehört, gezwungen, den Landstrich zu verlassen. Saddam Hussein lässt den Süden des Irak „säubern“. Die Schiiten stehen auf seiner „Abschussliste“.
Die Familie lässt sich in Bagdad nieder. Hier befinden sie sich zwar in unmittelbarer Nähe zu den Tyrannen, können jedoch im Großstadt-Völkergewirr untertauchen. 
Im sogenannten "Blechviertel" bauen sie sich ein neues Zuhause auf. Das "Blechviertel" ist ein Wildwuchs an Bebauungen inmitten der Müllhalden Bagdads. Die Familie ist hier über Jahre sicher und schafft es, zu einem geregelten Alltag zurückzufinden. Die Kinder - Shams hat noch eine ältere Schwester - gehen sogar in die Schule und haben die Möglichkeit, einen Abschluss zumachen. Shams träumt von einem Studium, das ihn auch davor bewahren würde, zum Militärdienst eingezogen zu werden.
"Die Schule war also keine Option, sondern ein Muss. Nur so konnte ich weiterarbeiten und Geld verdienen, ohne zum Militär gehen zu müssen oder mich verstümmeln zu lassen." 
Doch das Leben in Bagdad wird immer schwieriger. Dank der Kriegstreibereien von Saddam Hussein ist der Irak vom Rest der Welt isoliert. Ein Embargo sorgt dafür, dass die Versorgung der Bevölkerung mehr als erbärmlich ist.
Und mittendrin lebt Shams, der versucht, ein normales Leben zu führen, Geld zu verdienen, seine Familie zu versorgen, erwachsen zu werden. Er schöpft Kraft aus seiner Leidenschaft für Literatur und seinen heimlichen Treffen mit Gleichgesinnten. Es ist zwar schier unmöglich an Bücher zu kommen, die nicht der Zensur unterworfen sind, ganz zu schweigen von dem Embargo,  das wirklich alle Güter des täglichen Lebens betrifft. Doch Not macht bekanntlich erfinderisch.
"Es war herrlich, die Welt draußen für ein paar Stunden einfach vergessen zu können. Die Zeit in unserer kleinen Zuflucht fühlte sich jedoch immer weniger wie ein Teil unseres Lebens an und dafür mehr und mehr so, als wären wir mit Hilfe irgendeiner Zauberformel in eine Traumwelt getreten, die nichts mit Bagdad zu tun hatte. Wir entfernten uns aus unserer Gegenwart und wurden zu neuen Menschen mit ganz anderen Problemen als Hunger, Arbeitssuche oder Krankheit. Stattdessen debattierten wir über das richtige Versmaß, schräge Metaphern oder gackerten einfach herum."
Irgendetwas muss bei Shams Streben nach einem normalen Leben schief gelaufen sein. Das zeigt ein zweiter Handlungsstrang in diesem Roman. Denn gleich zu Beginn erfahren wir, dass Shams im Gefängnis sitzt. Während er sich also an seine Kindheit und Jugend erinnert, bangt er um sein Leben. Was ist also passiert, dass sein Schicksal diese Richtung angenommen hat?

In Anbetracht des Ausgangs dieser Geschichte mag man es kaum glauben. Doch trotz allen Elends bedient sich Khider eines sehr quirligen und lebendigen Sprachstils. Er passt seine Sprache der jeweiligen Lebensphase seines Protagonisten an und vermittelt dadurch unterschiedliche Stimmungen: die Unbeschwertheit während Shams Kindheit in seinem Heimatdorf; Shams Verwirrung und Überforderung mit dem neuen Leben in Bagdad - erschwerend kommen in dieser Phase noch die Irrungen und Wirrungen der Pubertät hinzu; später der junge Erwachsene, der mit großer Ernsthaftigkeit durchs Leben geht und sich Gedanken über seine Zukunft macht; und letztendlich der Gefangene, der voller Verzweiflung und Angst kurz davor ist, mit dem Leben abzuschließen.
Diese "Stimmungsschwankungen" im Erzählstil nehmen der Geschichte den Schwermut und machen das Schreckliche, das Shams widerfährt, für den Leser einigermaßen erträglich. 

Aufgrund der persönlichen Geschichte von Abbas Khider, der selbst mehrfach im Irak inhaftiert war, liegt natürlich die Frage nach dem autobiografischen Anteil in diesem Roman auf der Hand.

In einem Interview, das er vor einigen Jahren mit der Zeitschrift "Zenith" geführt hat, antwortete der Schriftsteller auf die Frage, wie autobiografisch seine Romane seien:
"Ich schreibe über Themen, die real sind, aber wenn ich meine Autobiografie schreiben würde, bräuchte ich 1.000 Seiten. Außerdem schreibe ich Literatur, versuche aber die Stimmung meiner Zeit, meiner Generation wiederzugeben. Es ist also alles autobiografisch, selbst das Erfundene."

Auf "Palast der Miserablen" angewandt bedeutet dies für mich: Das Thema ist real. Khider gibt definitiv die Stimmung seiner Generation wieder. Die Frage nach dem autobiografischen Anteil ist für mich jedoch nicht relevant. Denn es ist eine Geschichte, die das Leben im Irak geschrieben hat, egal, ob es Khiders eigene oder eine fiktive Geschichte ist. Fesselnd ist sie auf jeden Fall. Und so, oder so ähnlich wird es gewesen sein.
Leseempfehlung!

© Renie


Donnerstag, 13. Februar 2020

Isabelle Autissier: Klara vergessen

Quelle: Pixabay/Free-Photos
Drei Menschen, drei Generationen, Verrat, Mord, ein unbarmherziges Regime, Meer und mehr ...
Das ist Isabelle Autissiers Roman "Klara vergessen".

Den russischstämmigen Ornithologen Juri erreicht in seiner Wahlheimat USA die Nachricht, dass sein Vater Rubin im Sterben liegt. Mit seinem Vater verbindet ihn nur die Vergangenheit. Das Vater-Sohn-Verhältnis ist zerrüttet. Die Beiden haben seit Juris Kindheit keinen Kontakt mehr zueinander. Dennoch macht er sich auf den Weg ins russische Murmansk, in dem er aufgewachsen ist und das er vor 25 Jahren verlassen hat. Am Sterbebett seines Vaters trägt dieser ihm auf, den Verbleib von Klara aufzuklären.
Klara war Rubins Mutter. Als ihr Sohn 4 Jahre alt war, wurde sie von den Stalinisten verschleppt. Ihr Schicksal ist bis heute ungeklärt.
"Sein Vater, der immer nur vom Siegen gesprochen hatte, war nun selbst besiegt. Der reglose Körper war Ausdruck der unausweichlichen Niederlage angesichts von Krankheit und Tod. Juri dachte daran, dass auch er eines Tages so daliegen würde, und er hatte Angst. Naturgemäß war er als Nächstes an der Reihe." 
Der Roman "Klara vergessen" ist in mehrere Teile gegliedert. Während Juri sich in Murmansk bei seinem sterbenden Vater aufhält, gibt es mehrere Rückblenden in die Vergangenheit. Zunächst konzentrieren sich diese Rückblenden auf Juris Kindheit inmitten eines Murmansk, das noch unter den Nachwehen des Kommunismus leidet, aber dennoch bereits vorsichtig optimistisch in die Zukunft blickt. Denn Gorbatschows Perestroika kündigt sich an. Vater Rubin ist Kapitän auf einem Fischtrawler und daher Wochen und Monate lang unterwegs. Juri gegenüber präsentiert er sich als brutaler und grausamer Vater, dem der Sohn nie gut genug ist. Rubin hat den Anspruch, aus Juri einen echten Mann zu machen, egal, welche vorstellbaren und unvorstellbaren Mittel dafür notwendig sind. Vaterliebe hat da keinen Platz. Als Juri alt genug ist, ergreift dieser die Chance, die ihm ein Auslandsstudium bietet und flieht aus dem Einflusskreis seines Vaters. Er geht nach Amerika und bricht den Kontakt zu seinem alten Leben völlig ab.

In einer weiteren Rückblende geht es um Rubin. Auch er ist in Murmansk aufgewachsen. Doch zu seiner Zeit wehte ein anderer politischer Wind. Das russische Volk litt unter  Stalin und dem Kommunismus. Rubins Mutter wird verschleppt, als dieser 4 Jahre alt ist. Von da an erfährt er die Grausamkeiten und den Einfluss des politischen Systems am eigenen Leib. Als Kind einer Delinquentin hat er im stalinistischen Russland kaum eine Chance, aus seinem Leben etwas zu machen. Und auch sein Aufwachsen ist von Brutalität geprägt - wie der Vater, so der Sohn. Nur bei ihm ist es nicht der Vater, der ihm das Leben zur Hölle macht, sondern die Anderen - Kinder, Lehrer, Ausbilder etc. Durch Zufall entdeckt er seine Leidenschaft für die Seefahrt und schafft es, den Beruf des Kapitäns von der Pike auf zu erlernen und sich hochzuarbeiten.

Der Titel des Romans "Klara vergessen" ist Programm. Denn spätestens mit der Geschichte über Rubin hat man das Schicksal von Klara völlig aus den Augen verloren. Sie ist die große Unbekannte in diesem Roman. Denn zunächst wissen wir nur, dass sie verschwunden ist. Doch was für ein Mensch sie war, bzw. welches Schicksal sie erdulden musste, ist bis zu diesem Zeitpunkt in dem Buch völlig in den Hintergrund gerückt. Denn die Geschichten über ihren Sohn und Enkel sind viel zu eindringlich und mitreißend, als dass man einen Gedanken an Klara verschwendet. Sie gerät also in Vergessenheit.

Doch mit einem Mal taucht sie in dem Roman wieder auf: Im letzten Teil erfährt Juri schließlich - und somit auch der Leser -, welches Schicksal seiner Großmutter widerfahren ist. Aus der Perspektive von Klara erfahren wir, was es mit ihrem Verschwinden auf sich hatte. Klara wurde zum Opfer eines willkürlichen Systems. Sie verbrachte mehrere Jahre in Gefangenschaft und berichtet schonungslos aus dieser Zeit und ihren Erlebnissen.

Jeder Teil dieses Romans hätte für sich genommen den Stoff für ein eigenes Buch ausgemacht. Doch Isabelle Autissier verknüpft die Schicksale dreier Generationen und macht daraus einen eindrucksvollen Familienroman. Anhand der Entwicklung von Rubin und Juri wird deutlich, dass ein Leben nicht losgelöst von der Vergangenheit geführt werden kann. Zumindest für Juri wird am Ende bewusst, dass die Vergangenheit - egal wie lange diese zurück liegt - ihn zu der Person gemacht hat, die er heute ist.
"'Ich habe sie nicht gekannt, und man hat mir fast nichts von ihr erzählt. Aber ich habe den Eindruck, dass die Sache wichtig für mich geworden ist. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, warum.'"
Hat mich die Geschichte dieser Familie schon beeindruckt, bin ich von dem Sprachstil der Autorin noch begeisterter. Isabelle Autissier scheint einen besonderen Bezug zur Natur zu haben, den sie in wundervolle Worte kleiden kann. Ihre Naturschilderungen sind atemberaubend. Sie spricht damit nahezu alle Sinne an. So fror ich in der unbarmherzigen Kälte des Polarmeers oder roch die Tundra während des Frühlings. Allein diese Naturbeschreibungen haben den Roman zu einem literarischen Hochgenuss gemacht. Ich war ein bisschen traurig, als ich am Ende des Buches angelangt war.
"Das arktische Hoch richtete sich dauerhaft ein. die Luft strömte langsamer und legte sich wie ein Daunenbett über die Insel. Höchstens eine kleine Nachmittagsbrise ließ die Staubwedel des Wollgrases wogen. Der Gesang der Vögel und das Surren von Millionen Mücken lösten das Jaulen der Windböen und das Knirschen des Reifes unter den Füßen ab. Wieder einmal gewann das Leben."

Mein Fazit:
Isabelle Autissiser ist eine Geschichtenerzählerin par excellence. Nicht nur der Inhalt ihrer Geschichten ist fesselnd, sondern auch die Art, wie sie sie erzählt. "Klara vergessen" ist daher ganz großes Erzählkino!

Leseempfehlung!

© Renie


Samstag, 8. Februar 2020

Isabela Figueiredo: Roter Staub - Mosambik am Ende der Kolonialzeit

Quelle: Pixabay/jeanvdmeulen
"Als Kolonialismus wird die meist staatlich geförderte Inbesitznahme auswärtiger Territorien und die Unterwerfung, Vertreibung oder Ermordung der ansässigen Bevölkerung durch eine Kolonialherrschaft bezeichnet. Kolonisten und Kolonialisierte stehen einander dabei kulturell in der Regel fremd gegenüber, was bei den Kolonialherren im neuzeitlichen Kolonialismus mit dem Glauben an eine kulturelle Überlegenheit über die sogenannten „Naturvölker“ und teils an die eigene rassische Höherwertigkeit verbunden war." (Quelle: Wikipedia)
"Kolonialismus" ist ein höchst unangenehmes Thema, an das die ehemaligen Kolonialmächte (wozu auch Deutschland gehört) nicht gern erinnert werden. Denn wer lässt sich gerne dabei ertappen, dass er sich als "kulturell überlegen" gegenüber anderen Völkern sah und dabei an die eigene "rassische Höherwertigkeit" glaubte?
Noch unangenehmer wird es, wenn jemand aus den eigenen Reihen dieses unrühmliche Thema zur Sprache bringt.
Isabela Figueiredo ist eine von denen, die den Finger in die Kolonialismus-Wunde legen.
In ihrem Buch "Roter Staub - Mosambik am Ende der Kolonialzeit" erzählt die Tochter einer portugiesischen Kolonistenfamilie von ihrer Kindheit und dem kolonialen Alltag in Mosambik in den 1960er/1970er-Jahren.
Quelle: Weidle
"Ein Weißer und ein Neger zählten nicht nur zu verschiedenen Rassen. Die Entfernung zwischen Weißen und Negern glich der, die zwischen verschiedenen Spezies besteht. Sie waren Neger, Tiere. Wir waren Weiße, als Menschen, rationale Wesen. Sie arbeiteten für die Gegenwart, für den Zuckerrohrschnaps von 'heute'; wir, um uns eines Tages die beste Urne leisten zu können, für die beste Zeremonie am Tag unseres Begräbnisses." 
In der Mitte des 20. Jahrhunderts suchten viele Portugiesen ihr Glück in Mosambik. In der Heimat lief es nicht besonders. Portugal war zu diesem Zeitpunkt politisch und wirtschaftlich instabil. Also zog es viele Portugiesen in die Kolonien, in der Hoffnung, hier zu Reichtum und Wohlstand zu gelangen. 
Dieses Motiv machte sie also zu kolonialistischen Wirtschaftsflüchtlingen. 
Steht ein Flüchtling in unserer heutigen Zeit am Rande der Gesellschaft, sah die Welt in Mosambik damals anders aus. Denn die portugiesischen Wirtschaftsflüchtlinge nahmen sich wie selbstverständlich das, was ihnen nicht zustand und setzten sich an die Spitze der Gesellschaft. Dies geschah unter dem Deckmantel der Kolonialpolitik. Die portugiesischen Wirtschaftsflüchtlinge ernannten sich zum Herrenvolk, machte sich die einheimische Bevölkerung untertan und setzten somit eine Tradition fort, die ihre Anfänge 1497 gefunden hatte, als ein portugiesischer Seefahrer erstmalig afrikanischen Boden betrat.

Wie der Kolonisten-Alltag aussah, erfahren wir von Isabela Figueiredo. Sie gibt unverblümt wieder, wie sie ihre Kindheit als Tochter einer wirtschaftsflüchtigen Kolonistenfamilie erlebt hat. Geboren wurde sie 1963 in Mosambik. Ihr Vater war Inhaber eines kleinen Elektro-Unternehmens. Seine Tätigkeit bezog sich hauptsächlich auf das Herumkommandieren und Ausbeuten seiner farbigen Arbeiter. Diese waren also für das sogenannte "Auskommen" der Familie zuständig. Die Ausbeutung beschränkte sich leider nicht nur auf seine Arbeiter. Auch in sexueller Hinsicht übte der Kolonialherr seine Macht aus. Was ihm gefiel, nahm er sich.
"Der Schwarze stand auf der Stufenleiter ganz unten. Er hatte keinerlei Rechte. Einzig vielleicht das auf Wohltätigkeit, wenn er sie denn verdiente. Sofern er demütig war. Wenn er lächelte und leise sprach, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt und die Hände gefaltet, als würde er beten."
Von klein auf lernte die Autorin also, dass die farbige Bevölkerung ausschließlich für das Wohlergehen der portugiesischen Bevölkerung zuständig war. Und wie dieser Anspruch im Alltag geltend gemacht wurde, beschreibt sie aus ihren kindlichen Erinnerungen heraus. Sie gibt einzelne Erinnerungsfragmente wieder, vermischt mit ihren Reflexionen zu dem Erlebten und ihrem Alltag in Mosambik. Dabei bedient sie sich stellenweise einer deftigen Sprache, wobei die Verwendung des Wortes "Neger" noch harmlos ist. Die "Hüter der Political Correctness" würden zwar bei diesem Wort Amok laufen. Doch man kann sicher sein, dass politische Sprachkorrektheit in diesem Buch nichts verloren hat. Hier sollte man sich auf ganz andere Dinge konzentrieren, die empörend und moralisch fragwürdig sind. Und diese Dinge dürfen sprachlich weder beschönigt noch verharmlost werden.

Isabela versteht sehr früh, welches Unrecht die Portugiesen, und ihr Vater im Besonderen, in Mosambik ausüben. Doch als Kind ist sie nicht in der Lage, ihren Standpunkt zum Ausdruck zu bringen. Hinzu kommt, dass sie ihren Vater abgöttisch liebt. Mit der Nelkenrevolution (1974) verabschiedet sich Portugal von der bisherigen Kolonialpolitik. Das Leben wird für Weiße in Mosambik gefährlich. Der Kampf um die Freiheit und Unabhängigkeit, den die Einheimischen bereits seit den 60er Jahren kämpften, eskaliert. Die Eltern schicken Isabela, die mittlerweile 12 Jahre alt ist, nach Portugal zu ihrer Großmutter zurück. Isabela wird fortan als eine von den "retornados" angesehen. Dies ist eine verächtliche Bezeichnung für Portugiesen, die es in der Fremde nicht geschafft haben und wieder zurückkehren.
Mosambik hat nach dem politischen Umschwung keinen Platz mehr für Kolonialherren. Daher sind auch Isabelas Eltern gezwungen, das Land zu verlassen.

Was sie als Kind nicht geschafft hat, schafft Isabela in späteren Jahren in Portugal. Sie geht auf Konfrontation mit ihrem Vater. Der Liebe zwischen den Beiden tut dies jedoch keinen Abbruch. Vermutlich wartete sie deshalb mit der Veröffentlichung ihrer Erinnerungen bis nach seinem Tod.
"Ich ertrug alle Haßreden meines Vaters. Ich hörte sie zwei Zentimeter vor seinem Gesicht an. Ich spürte den Speichel seines Hasses, der schwerer wiegt als der Speichel der Liebe, und ich bot ihm die Stirn, Auge in Auge, seinem Zorn, seiner Frustration, seiner so abstoßenden Ideologie. Solange ich ihn anhörte, sagte ich nichts, keinerlei Zustimmung, keine Regung, ich selbst aber war ein felsenfestes Nein."
Mit ihrem Buch erweist sich Isabela Figureido als "Nestbeschmutzerin" (ein Begriff aus dem Buch), wobei in Isabelas Fall das "Nest" nicht nur Portugal ist, sondern insbesondere ihre eigene Familie. 
Mit der Veröffentlichung von "Roter Staub" bezieht sie nicht nur Front gegen den portugiesischen Patriotismus sondern stellt auch noch postum den eigenen Vater bloß, indem sie ihn als Paradebeispiel des portugiesischen Kolonialherren zur Schau stellt.

Fazit:
"Roter Staub" ist ein mutiges und wichtiges Buch. Selten findet man Bücher über den Kolonialismus, die von Kolonialherren geschrieben wurden. Und wenn, driften diese schnell in die Schilderung einer romantischen Traumwelt ab, die bestenfalls für eine Hollywoodverfilmung geeignet wäre.
Isabela Figureido erzählt die schmutzige Wahrheit und scheut sich dabei nicht, sich selbst und ihre Familie zu beschmutzen. Ich habe großen Respekt vor diesem Mut und dieser Offenheit.

Leseempfehlung!

Mittwoch, 5. Februar 2020

Ulf Schiewe: Der Attentäter

Quelle: Wikimedia Commons

Das Attentat am 28. Juni 1914 auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger und seine Frau in Sarajevo war der Auslöser für den 1. Weltkrieg. Wie es dazu gekommen ist und insbesondere, was in der Woche zuvor passiert ist, schildert der historische Thriller "Der Attentäter" von Ulf Schiewe.
Der Autor, der schon einige historische Romane geschrieben hat, ist mir für seine akribische Recherchearbeit bekannt. Daher haben seine Bücher einen besonderen historischen Stellenwert, sind sie doch so dicht wie es nur irgendwie geht an der Realität dran.

Auch in "Der Attentäter" findet sich wenig Fiktion, dafür umso mehr Tatsachen, die zu einem extrem spannenden Roman verknüpft sind.

Die weltpolitische Situation der Zeit vor dem 1. Weltkrieg deutet darauf hin, dass die Machthaber auf ein kriegerisches Gerangel um die Neuverteilung der Machtpositionen in der Welt aus waren. Auf dem Balkan war die Hölle los. Die Europäer trieben die Osmanen vom Balkan, waren sich aber untereinander auch nicht grün. Das Volk der Serben fühlte sich von den Österreichern unterdrückt, was diese aber nicht wahrhaben wollten. Schließlich waren sie diejenigen, die erheblich zur Befreiung des Balkans beigetragen haben. Außerdem war der Balkan durch seine Nähe zu Europa und zum Meer strategisch reizvoll für die Russen. Daher war Österreich ein strategischer Störfaktor. Der Balkan war somit ein Pulverfass und es brauchte nur einen einzigen Funken, um die Explosion - sprich den ersten Weltkrieg - auszulösen. Und das war das Attentat eines Serben auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand.
(An dieser Stelle entschuldige ich mich für meine rudimentären Geschichtskenntnisse. Aber so ungefähr wird es gewesen sein.)
Quelle: Bastei Lübbe
"' ... Wir leben in Europa gefährlich nahe am Randes eines großen Krieges. Frankreich, England und Russland sind gegen uns verbündet. Auf Italien kann man sich nicht verlassen. Natürlich bin ich froh, dass wir mit den Deutschen einen starken Verbündeten im Rücken haben. Aber machen wir uns nichts vor: Die Machtbalance in Europa steht auf der Kippe. Eine Kleinigkeit könnte genügen, die Katastrophe auszulösen. ..."
Man beginnt "Der Attentäter" also mit dem Wissen, wie die Story ausgehen wird. Am Ende sterben Thronfolger Franz-Ferdinand und seine Frau Sophie im Kugelhagel des Attentäters Gavrilo Princip, Tatort: Sarajevo. Ulf Schiewe beantwortet jedoch mit seinem Roman die Frage, was in den Tagen vor dem Attentat passiert ist bzw. passiert sein könnte, wobei Spekulationen hier nur sehr wenig Raum haben.

Der Roman ist in 7 Kapitel sowie Prolog und Epilog aufgeteilt. Einem Countdown gleich behandelt jedes Kapitel einen Tag der Woche vor dem Attentat, angefangen mit Montag, dem 22. Juni 1914.

Die Charaktere in diesem Roman sind größtenteils reale Personen, einige wenige sind fiktiv. Ein Personenverzeichnis am Ende des Buches gibt Auskunft darüber, welcher Charakter welchem Kreis zuzuordnen ist. Die Handlung wird aus wechselnden Perspektiven geschildert, allen voran die des Attentäters Gavrilo sowie seines Opfers Franz-Ferdinand, oder aber Markovic, einem fiktiven Major des österreichisch-ungarischen Geheimdienstes.

Trotzdem man weiß, dass der Ausgang dieser Geschichte unvermeidlich ist, ertappt man sich doch dabei, dass man völlig irrational auf eine Wendung in der Handlung hofft. Man zittert also mit den Charakteren und möchte sie manches Mal schütteln und sie in ihren Handlungsweisen beeinflussen können. Denn Ulf Schiewe macht deutlich, dass das Attentat auf das Thronfolger-Ehepaar auch eine Folge von Verkettungen blöder Zufälle und falscher Entscheidungen gewesen ist. Hätte der Zufall nicht geholfen, könnte man vermuten, dass die Geschichte anders ausgegangen wäre.
"Am Ende ist vielleicht gar nichts, und sie machen sich hier umsonst verrückt. Dann wird Potiorek recht gehabt haben, und beim Besuch des Erzherzogs hat es nichts als schwülstige Reden gegeben, begeistert winkende Menschen, Blumen für die Herzogin und einen Kinderchor, der den beiden ein Ständchen bringt. Am Ende reisen die Herrschaften dann wohlbehalten ab, und sie können endlich wieder aufatmen."
Besonders gut hat mir in diesem Roman die Schilderung des damaligen Zeitgeistes gefallen. Für mich war die Zeit vor dem 1. Weltkrieg nie wirklich greifbar. Viele Ereignisse und Zeitgenossen aus dieser Zeit waren mir lediglich voneinander losgelöst bekannt. Doch in "Die Attentäter" werden sie in einen Kontext gebracht. Das kann bspw. eine Berta von Suttner sein, Cousine der Frau des Thronfolgers und eine Figur in diesem Roman, die nur am Rande Erwähnung findet. Heutzutage ist Berta von Suttner vielen als Schriftstellerin und Friedensforscherin ein Begriff. In "Die Attentäter" wird deutlich, mit wieviel Widerstand die Dame zu kämpfen hatte, und unter welchen schwierigen Verhältnissen sie ihren Standpunkt vertreten musste, was ihre Arbeit rückblickend noch um einiges bemerkenswerter macht.
Genauso sind es auch die kleinen Dinge, die für den damaligen Zeitgeist stehen und dem Roman einen großen Charme verleihen. Mir war bspw. nicht bewusst, dass Mineralwasser in Glasflaschen damals eine aufsehenerregende Neuerung war und als Getränk den Reichen und Adeligen vorbehalten war. Es gibt also einige Aha-Erlebnisse in diesem Buch, die mir sehr viel Lesefreude bereitet haben.

Fazit:
Ein historischer Roman mit wenig Fiktion, dafür umso mehr Fakten, die zu einem hochkarätigen und spannenden Thriller verwoben sind.
Daher: Willst Du wissen, wie es früher war, lies einen Schiewe.

© Renie