Dienstag, 17. Oktober 2017

Im Gespräch mit Raquel J. Palacio

Raquel J. Palacio (rechts im Bild) und Renie
auf der Frankfurter Buchmesse

Die amerikanische Bestseller-Autorin Raquel J. Palacio ist in Deutschland durch ihren Kinderroman "Wunder" bekannt geworden, den sie 2012 erstmalig veröffentlicht hat, und der 2 Jahre später mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Mittlerweile ist dieser Roman weltweit in mehr als 7 Sprachen erschienen und hat sich millionenfach verkauft. Gerade ist in Amerika die Romanverfilmung in den Kinos angelaufen, u. a. mit Julia Roberts und Owen Wilson. In Deutschland erscheint der Film im Januar 2018. Der Film-Trailer ist bereits veröffentlicht. 

In "Wunder" geht es um den 10-jährigen August Pullman, genannt Augie, der aufgrund einer Erbkrankheit und daraus resultierender Operationen ein missgestaltetes Gesicht hat.
Jetzt soll er zum ersten Mal eine öffentliche Schule besuchen. Der Roman schildert Augies Erlebnisse während seines ersten Jahres an dieser Schule.
"Ich heiße übrigens August. Ich werde nicht beschreiben, wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt - es ist schlimmer." (aus "Wunder")
Das Interview
Ich hatte nun die Gelegenheit, die wundervolle und sympathische Raquel J. Palacio - geistige Mutter von Augie - auf der Frankfurter Buchmesse 2017 zu treffen und ein Interview mit ihr zu führen. Das Ergebnis war ein energiegeladenes und sehr persönliches Gespräch. Raquel hat meine Fragen mit einer Engelsgeduld und sehr viel Begeisterung beantwortet.

Renie: Raquel, zunächst habe ich eine Frage zu Ihrer Karriere. Sie haben über 20 Jahre als erfolgreiche Grafikdesignerin und Art Director gearbeitet. Was brachte Sie dazu, das Metier zu wechseln und einen Kinderroman zu schreiben?
Raquel J. Palacio: Während meiner Zeit als Grafik Designerin habe ich mich immer wieder schriftstellerisch versucht. Ich habe viel für mich geschrieben, meistens Kurzgeschichten, die ich oft angefangen habe, aber selten zu Ende gebracht habe. Man kann also sagen, dass ich eher im Geheimen und nur für mich geschrieben habe. Und dann war da eines Tages dieses Erlebnis, das ich mit meinen Söhnen hatte: Während eines Ausflugs sahen wir diesen kleinen Jungen, der ein missgestaltetes Gesicht hatte und natürlich von allen angestarrt wurde. Das hat in mir etwas ausgelöst. Ich habe mich gefragt, wie es sich in einer Welt lebt, in der du permanent angestarrt wirst. Was macht das mit dir? Ich hatte das Bedürfnis eine Geschichte über dieses Thema zu schreiben.
Aus diesem Erlebnis heraus ist also die Idee für meinen Roman „Wunder“ entstanden. Und so wurde ich zur Schriftstellerin.

Renie: Hatten Sie bei diesem Roman Unterstützung von Ihren Kindern?
Raquel J. Palacio: Nein, hatte ich nicht. Mein jüngster Sohn war zu diesem Zeitpunkt 3 Jahre alt, mein Ältester war 12 und hat mit Büchern nichts zu tun haben wollen. (Mittlerweile hat sich das geändert ;-))
Daher stand für mich fest, ein Buch zu schreiben, das ihn zum Lesen bringt. Ich habe den Aufbau von „Wunder“ sowie ein paar Aspekte des Buches bewusst auf ihn angepasst: kurze Kapitel, witzige Szenen, wie die "pupsende Krankenschwester", Elemente aus Star Wars etc.. Ich wusste, dass mein Buch nicht mit anderen Büchern konkurrieren musste - er hat schließlich nicht gelesen - sondern eher mit Computerspielen, Handy und TV.
Um einen Jungen zum Lesen zu bringen, musst du seine Neugierde wecken. Du brauchst einen schnellen Einstieg in die Geschichte und musst ihn gedanklich beschäftigen, damit er dabei bleibt. Und das ist mir gelungen.

Renie: Der Aufbau Ihres Romans ist sehr besonders. Sie lassen die Handlung in Augies erstem Jahr an einer Schule aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Natürlich bekommt Augie viel Raum, aber auch Mitschüler oder seine Schwester kommen zu Wort.
Warum haben Sie sich für einen derartigen Aufbau entschieden?
Raquel J. Palacio: Es ist wichtig für Kinder, dass sie mit den Charakteren in einem Buch mitfühlen können. Nicht jeder kann sich in Augie hineinversetzen. Aber aufgrund der Vielzahl der Charaktere in diesem Buch, findet jedes Kind mindestens eine Person, zu der es eine Verbindung herstellen kann.
So hat sich z. B. mein jüngster Sohn mit Jack, Augies Freund, identifiziert. Und tatsächlich war er am Boden zerstört, als Augie in dem Buch von Jack verraten wurde. Er wollte unbedingt wissen, warum Jack das getan hat. Die Erklärung kommt später in dem Buch. Damit hat sich mein Sohn dann zufrieden gegeben. 
Quelle: dtv

Renie: Hatten Sie Einfluss auf die Gestaltung des Buches? Ich denke da insbesondere an das Buchcover, wobei ich leider nur die deutsche Version kenne.
Raquel J. Palacio: Viele denken immer, dass ich als Art Director nur schwer zufrieden zu stellen bin. Das stimmt  aber gar nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bin immer wieder erstaunt, was die Illustratoren aus meinem Buch machen. Bei der amerikanischen Variante hatte ich Mitspracherecht. Die deutsche Version habe ich erst gesehen, als das Buch veröffentlicht wurde. Und ich bin von dieser Version wirklich angetan. Ich würde nichts daran ändern wollen.

Renie: Kurz nach dem Erscheinen von „Wunder“ haben Sie weitere Bücher veröffentlicht, die in Bezug zu diesem Roman stehen, z. B. "Wunder - Wie Julian es sah", oder "Wunder - Charlottes Auftritt". Julian und Charlotte sind Kinder, die an Augies Schule waren. Julian war sozusagen der Ober-Mobber und Augies Gegner.  Aber erst in den nachfolgenden Büchern haben diese Charaktere Gelegenheit, die Geschichte um Augie aus ihrer Sicht zu schildern. Warum?
Raquel J. Palacio: Anfangs wollte ich den Roman ausschließlich aus der Sicht von Augie schreiben. Aber dann wurde ich neugierig und habe mich gefragt, welche Motivation andere Charaktere in dem Buch haben, so zu handeln, wie sie handeln. Und wenn ich neugierig auf die Motivation der Figuren bin, sind es meine Leser auch.

Wenn ich darüberhinaus wissen möchte, welche Wirkung Augie auf die anderen hat, muss ich seine Perspektive verlassen und in die Gedanken der anderen eintauchen und deren Sichtweise kennenlernen.

Renie: Haben Sie die Absicht noch weitere Charaktere zu Wort kommen zu lassen? Ich denke da insbesondere an die Erwachsenen, also die Eltern oder Lehrer?
Raquel J. Palacio: Meine Leserschaft besteht in erster Linie aus Kindern, und das soll auch so bleiben. Diese Kinder nehmen die Erwachsenen und Eltern aus ihrer Sicht war und haben dadurch ein ganz bestimmtes Bild von ihnen. Eltern wollen ihre Kinder schützen, sie wollen ihre kindliche Unschuld bewahren. Sie fluchen z. B. nicht vor ihren Kindern - naja, meistens nicht - , sie nehmen sich zurück, versuchen die Fassung zu bewahren. Augies Eltern zeigen sich ihm gegenüber immer optimistisch und positiv. Sie wollen nicht, dass er sie deprimiert und traurig erlebt. Natürlich haben sie Sorgen, sind manchmal am verzweifeln und vertrauen sich höchstens ihren Freunden an.
Ich denke nicht, dass Kinder diese Seiten eines Erwachsenen sehen sollten. Man möchte die kindliche Unbeschwertheit und Freude erhalten und nicht durch Sorgen und negative Stimmungen zerstören.

Renie: Augie ist doch sicherlich Teil Ihrer Familie geworden?
Raquel J. Palacio: Oh ja. Er ist wie ein weiterer Sohn für mich. Sogar mein Jüngster sieht Augie als seinen kleinen Bruder an und meinte neulich, dass alles in unserer Familie irgendwie mit „Wunder“ zu tun hat.

Renie: Mittlerweile gibt es zu Ihrem Roman einen Kinofilm, der bereits in Amerika angelaufen ist. Im Januar kommt der Film „Wunder“ in die deutschen Kinos, u. a. mit Julia Roberts und Owen Wilson in der Rolle der Eltern. Wie groß war Ihr Einfluss auf die Dreharbeiten. Sind Sie einbezogen worden?
Raquel J. Palacio: Ich wurde tatsächlich intensiver einbezogen, als ich vorher angenommen hatte. Ich konnte bei vielen Dingen mitreden - nicht bei allen - aber doch so viel, dass ich das Gefühl hatte, Einfluss nehmen zu können. Ich war am Set, habe die Schauspieler kennengelernt. Es war eine interessante Erfahrung. Ich habe den Film mittlerweile gesehen, und er ist fantastisch geworden.

Renie: Ich werde leider häufig von Buchverfilmungen enttäuscht. Das liegt meistens daran, dass die Schauspieler, die gezeigt werden, nie den Bildern der Charaktere entsprechen, die beim Lesen in meinem Kopf entstanden sind.
Raquel J. Palacio: Das stimmt. Und das wird auch bei Augie der Fall sein. Die Filmemacher mussten sich entscheiden. Sie wollten den Film für Menschen in jedem Alter machen. Daher haben sie sich für ein moderates Aussehen von Augie entschieden. Sie wollten ganz einfach den Horror-Effekt vermeiden. 
Ich habe diese Entscheidung akzeptiert, auch wenn der Film-Augie nicht dem Augie meiner Fantasie entspricht. Aber es funktioniert trotzdem. Denn seien wir doch mal ehrlich. Oft reicht schon ein Muttermal im Gesicht, um den Effekt zu erzielen, den Augie auf andere Menschen hat. Gestarrt wird immer. Insofern ist es nicht wichtig, dass der Film-Augie harmloser aussieht als der Augie aus meiner Fantasie.
Es lohnt sich, den Film anzusehen. Die Filmemacher haben sich eng an das Buch gehalten und nur dort Änderungen vorgenommen, wo sie nicht zu vermeiden waren. Julia Roberts in der Rolle der Mutter wird Ihnen das Herz brechen.
© Russell Gordon
Quelle: dtv

Renie: Nun meine letzte Frage: An welchem Projekt arbeiten Sie gerade?
Raquel J. Palacio: Ich habe vor einiger Zeit einen Roman für Kinder begonnen, aber wieder abgebrochen. Denn die Präsidentschaftswahlen in Amerika kamen dazwischen. Und ich hatte auf einmal das Bedürfnis etwas zu schreiben, das einen aktuellen Bezug zu unserer Vergangenheit und unserem Leben hat. Die Nachrichten, die wir jeden Tag im Fernsehen sehen, sind einfach zu besorgniserregend. In "Wunder - Wie es Julian sah" gibt es ein Kapitel, in dem Julians jüdische Großmutter von ihrem Leben in Frankreich während des 2. Weltkrieges erzählt.
Ich arbeite nun an einer Graphic Novel für Kinder, die diese Geschichte zum Thema hat. Ich hoffe, dass die Leser Parallelen sehen, zwischen dem, was damals passiert ist, und dem was heute in Amerika los ist. Nazis marschieren heutzutage durch die amerikanischen Städte. Ich kann das nicht glauben. Es ist verrückt …. unter den Blicken der Regierung von Trump …. Das macht mich traurig. Ich hoffe, dass die Leute eine Verbindung zu unserer Vergangenheit sehen, sich erinnern und dafür sorgen, dass diese Zeiten sich nicht wiederholen werden.
Deutschland ist da weiter als Amerika. In deutschen Schulen werden die Kinder über die Vergangenheit aufgeklärt. So sollte es auf der ganzen Welt sein. Doch leider ist es nicht so, insbesondere nicht in den USA. Die Amerikaner leiden unter Gedächtnisschwund und beschäftigen sich nicht mit der Vergangenheit. Sie leugnen einfach, was passiert ist.

Und deshalb schreibe ich diese Graphic Novel, mit der Absicht meinen Lesern die Vergangenheit näher zu bringen. Ich hoffe, es funktioniert.

Renie: Raquel, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch. Ich wünschen Ihnen alles Gute. Genießen Sie noch die Messe und kommen Sie gut zurück nach Hause in die USA.

© Renie


Ich habe Raquel Palacios Roman "Wunder" vor ca. einem halben Jahr zusammen mit meinem Sohn gelesen und besprochen. Hier geht es zu unserer Buchbesprechung.


(Eine Neuauflage des Buches erscheint im Dezember 2017.)