Sonntag, 28. August 2016

Connie Palmen: Du sagst es

Connie Palmen verleiht dem Schriftsteller Ted Hughes in ihrem Roman "Du sagst es" eine Stimme, um auf seine Ehe mit Sylvia Plath zurückzublicken. Man kann nicht gerade behaupten, dass Ted und Sylvia eine harmonische Ehe geführt haben. Und doch haben sie sich geliebt, auch wenn die Liebe etwas Zerstörerisches an sich hatte, und mindestens einer von ihnen am Ende auf der Strecke geblieben ist.


Quelle: Diogenes

Klappentext:
Sylvia Plath und Ted Hughes sind das berühmteste Liebespaar der modernen Literatur - und das tragischste: Denn nach Sylvias Suizid im Jahr 1963 galt sie als Märtyrerin, hingegen ihr Mann als Verräter - eine Schuldzuweisung, zu der er sich zeitlebens nie äußerte. In dieser fiktiven Autobiographie bricht er sein Schweigen. Palmen lässt ihn auf seine leidenschaftliche Ehe zurückblicken und eine Liebe neu beschreiben.


Auf der Rückseite des Buches findet sich der Ausspruch
"'Es ist als würde man eine Nacht lang den intimen Bekenntnissen eines engen Freundes zuhören. ...'" (De Morgen Brüssel)

Ein sehr treffender Satz. Man kann es sich buchstäblich vorstellen. Ein zutiefst verzweifelter Ted Hughes, der auch lange Jahre nach dem Selbstmord von Sylvia Plath nicht über ihren Tod hinwegkommt. Der immer noch nicht versteht, was sie in den Tod getrieben hat, der sich bis jetzt mit den Vorwürfen, die an ihn gerichtet wurden, nicht auseinandersetzen wollte ... und bei dem heute der Punkt erreicht ist, an dem er sein Schweigen brechen möchte.

Genauso kommt dieser besondere Roman von Connie Palmen rüber. Man nimmt ihr die Geschichte ab. Man möchte nicht glauben, dass es sich bei diesem Roman um Fiktion handelt. Was man liest, ist eine Autobiografie von Ted Hughes, in der er die Wahrheit über die sehr spezielle Beziehung zwischen ihm und Sylvia Plath erzählt. 
"Biographen führen sich auf, als könnten sie Besitzansprüche auf dein Leben geltend machen, als wäre es ein Produkt. Ich fand mein gestohlenes Leben in den Büchern wieder, sah meine Liebe, meine Ehe, meine Gefühle, Gedanken und Handlungen von Freunden und Fremden für mich interpretiert, las, wie Fakten geleugnet oder verdreht wurden, wie mir Worte in den Mund gelegt wurden, die ich nie gesagt habe, mir Charaktereigenschaften angedichtet wurden, die ich nicht habe." (S. 270)
Sylvia Plath und Ted Hughes - zwei Seelenverwandte, die sich Anfang 1956, während des Studiums in Cambridge erstmalig begegnen. Innerhalb von 4 Monaten sind sie verheiratet. Im Verlauf ihrer Ehe stellt sich bei Ted Hughes langsam der schriftstellerische Erfolg ein. Doch Sylvia Plaths Literatur stößt eher auf Ablehnung. Es scheint, als ob der Literaturbetrieb noch nicht reif genug für ihr schriftstellerisches Talent ist.

Von Anfang an war Ted bewusst, dass die Liebe zu Sylvia etwas Zerstörerisches hat. Sylvia ist schwer depressiv, dabei unberechenbar und launisch in ihren Handlungen. Wenn Sylvia liebt, liebt sie mit Haut und Haar. Sie opfert sich für ihren Partner auf und erwartet im Gegenzug die gleiche Hingabe. Anderen Frauen misstraut sie, ihre Eifersucht ist fast krankhaft.
Wenn sie schreibt, legt sie eine Besessenheit an den Tag, die sie alles um sich herum vergessen lässt. Jede Zeile, die sie zu Papier bringt, spiegelt ein Stück ihrer Persönlichkeit wieder. Dadurch finden sich viele autobiografische Ansätze in ihren Texten.

Ted Hughes scheint der Ruhepol in dieser Ehe zu sein. Er schafft es immer wieder, Sylvia zeitweise aus ihrem Gefühlschaos zu befreien. Was ich als merkwürdig empfunden habe - ich bin ein Kopfmensch - war seine esoterische Veranlagung. So versucht er, sie z. B. mittels Hypnose zu beruhigen. Und beide scheinen daran zu glauben. Zumindest lässt sich Sylvia auf seine esoterischen Versuche ein.

Das Leben mit Sylvia ist anstrengend und bewegt sich am Limit. Die Beziehung verlangt beiden viel ab. Liebe und Leidenschaft wechseln sich ab mit Aggression und Misstrauen. Irgendwann bricht Ted aus der Ehe aus. Er kann einfach Sylvia's Vereinnahmungen seiner Person nicht mehr ertragen. Dies ist auch der Punkt, warum die Öffentlichkeit davon ausgeht, dass er Sylvia in den Tod getrieben hat.
"Auf der Suche nach einem Seelenverwandten las ich eines Tages Arthur Millers After the Fall, das Theaterstück, mit dem er den Selbstmord von Marilyn Monroe zu verarbeiten versucht. Als ich auf den Satz stieß: 'Wer Selbstmord begeht, will immer zwei töten', wusste ich, dass er damit recht hatte." (S. 272)
Sylvia und Ted haben sich in den Schriftstellerkreisen und der Intellektuellen-Szene der 50er/60er Jahre in England und Amerika bewegt. Als Leser erhält man einen Einblick in die schriftstellerische Arbeit der damaligen Zeit. So kommen z. B. Sylvias Gedichte sehr bedeutungsschwer rüber. Man spürt ihren Anspruch, ein Stück von sich selbst in ihren Texten zu verarbeiten. Es scheint, als ob sie sich nicht einfach damit begnügen wollte, eine gute Geschichte zu erzählen, sondern in erster Linie ging es ihr darum, dem Leser eine Botschaft zu vermitteln.

Der Sprachstil Connie Palmens spiegelt dieses ungeheuerliche Gefühlschaos von Sylvia Plath wieder. Sehr kurze Sätze wechseln sich mit extrem langen Sätzen ab. Das macht das Lesen nicht einfach, bringt aber das Seelenleben der Sylvia Plath und die verstörende Beziehung zwischen Ted und Sylvia sehr authentisch rüber. Sie setzt sich sehr sensibel mit den beiden Figuren auseinander und vermittelt somit dem Leser einen enormen Respekt vor ihren Protagonisten und deren Liebe zueinander.
"Ihr Schmerz war mein Schmerz, ihre Ängste waren meine Ängste, nur reagierte ich anders darauf. Im Nachhinein, nach ihrem Tod, habe ich mich in den schwärzesten Momenten gefragt, ob sie dem Leben vielleicht besser gewachsen gewesen wäre, wenn ich weniger Geduld für die Launen, das strafende Schmollen, die stummen Kriege aufgebracht hätte und wiederständiger, unnachgiebiger gewesen wäre. Solange wir zu zweit waren, ungesehen, abgeschirmt von den Beschauern, die unsere Liebe körten, liebte ich sie urteilsfrei." (S. 157 f.)
Ted Hughes und Sylvia Plath waren 7 Jahre verheiratet. Im Alter von 30 Jahren nimmt Sylvia Plath sich das Leben. Erst nach ihrem Tod gelangen ihre Texte zu posthumen Erfolg. Texte, in denen sie sich bereits zu Lebzeiten mit ihrem Selbstmord auseinandergesetzt hat. Connie Palmen gelingt es mit ihrem Roman, den Leser zu berühren. Denn obwohl man weiß, worauf die Geschichte hinauslaufen wird, ist man am Ende doch zutiefst erschüttert und mitgenommen über die Todesnachricht von Sylvia Plath.

Fazit
Ein sensibler Roman, der das verstörende Gefühlchaos im Eheleben des Paares Ted Hughes und Sylvia Plath widerspiegelt. Connie Palmen beschreibt in einer besonderen Sprache das leidenschaftliche Beziehungsdrama um die beiden Schriftsteller, in dem Schmerz und Liebe sehr dicht beieinander lagen. Klare Leseempfehlung!

© Renie


"Du sagst es" von Connie Palmen, erschienen im Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum: 24. August 2016
ISBN: 978-3-257-06974-7




Über die Autorin:
Connie Palmen, geboren 1955, wuchs im Süden Hollands auf und kam 1978 nach Amsterdam, wo sie Philosophie und Niederländische Literatur studierte. Ihr erster Roman, ›Die Gesetze‹, erschien 1991 und wurde gleich ein internationaler Bestseller. Sie erhielt für ihre Werke zahlreiche Auszeichnungen, so wurde sie für den Roman ›Die Freundschaft‹ 1995 mit dem renommierten AKO-Literaturpreis ausgezeichnet. Connie Palmen lebt in Amsterdam. (Quelle: Diogenes)

Mittwoch, 24. August 2016

Leon de Winter: Geronimo

Im Mai 2011 fand in Abbottabad, Pakistan, die "Operation Neptune's Spear" statt - die erfolgreiche Erstürmung des Verstecks des Terroristenführers Osama bin Laden, Codename Geronimo. Bei dieser Operation ist bin Laden ums Leben gekommen. Die Umstände seiner Erschießung sind jedoch fragwürdig. Auch wenn die Nachricht über die Tötung bin Ladens von der Öffentlichkeit mit Erleichterung gern akzeptiert worden ist, tauchen doch viele Zweifel an den Umständen seines Todes auf. Immer wieder erscheinen Publikationen, u. a. von Teilnehmern der Operation, die die offizielle Darstellung der US-Regierung in Frage stellen.
Warum ist ein Terrorist mit einem unerschöpflichen Wissensschatz über Al Kaida und die internationale Terrorismusszene liquidiert worden, ohne die Gelegenheit zu ergreifen, sich sein Wissen zunutze zu machen? Warum ist bin Laden umgebracht worden? Hat die Erstürmung tatsächlich so stattgefunden, wie es der Öffentlichkeit Glauben gemacht wurde? Galt es, damals sowie heute ein Geheimnis zu verbergen, von dem bin Laden wusste? Alles ist möglich. Leon de Winter greift diese Fragen auf und entwickelt in seinem Roman eine gar nicht mal so abwegige Verschwörungstheorie. Und am Ende kann man sich sehr gut vorstellen, dass damals alles etwas anders gelaufen ist.

Quelle: Diogenes
Klappentext:
"Geronimo" lautet das Codewort, das die Männer vom Seals Team 6 durchgeben sollten, wenn sie Osama bin Laden gefunden hatten. Doch ist die spektakuläre Jagd nach dem meistgesuchten Mann der Welt wirklich so verlaufen, wie man uns glauben macht?
Ein atemberaubender Roman über geniale Heldentaten und tragisches Scheitern, über die Vollkommenheit der Musik und die Unvollkommenheit der Welt, über Liebe und Verlust. Spannend wie ein Thriller und berührend wie eine Liebesgeschichte, bringt Geronimo die Grenzen zwischen Realität und Phantasie ins Wanken. (Quelle: Diogenes)

"Leute wie ich sehen in dieser offiziellen Geschichte nichts als Lücken. Und ich bin mir sicher, Hope, dass Leute wie du auch Fragen gestellt haben, als sie die Geschichte hörten, als der Präsident der Welt triumphierend erzählte, dass sie UBL abgemurkst hätten. Sie hatten ihn nicht lebend, sondern tot. Es gab praktisch keine Gegenwehr, und trotzdem mussten sie ihn eliminieren. Warum? Warum musste UBL zum Schweigen gebracht werden?" (S. 318)

Was bei Leon de Winter als Polit-Thriller beginnt, entwickelt sich im weiteren Verlauf zu einem mitreißenden Roman, der die Schicksale unterschiedlicher Charaktere zum Mittelpunkt hat, die mehr oder weniger mit dem Tod bin Ladens zu tun hatten. Erzählt wird aus unterschiedlichen Perspektiven, hauptsächlich aus der Sicht von Osama bin Laden, Tom - einem Agenten der CIA - sowie Jabbar, einem Jungen aus der Nachbarschaft bin Ladens in Pakistan. Seine Familie gehört dem Christentum an.

Osama bin Laden
Die Darstellung Osama bin Ladens ist gewöhnungsbedürftig. Leon de Winter zeigt einen der gefürchtetsten Terroristen der damaligen Zeit mit menschlichen Seiten. Er dichtet ihm Eigenschaften wie Mitgefühl an. Das liest sich eigenartig. Es fällt schwer, jemandem, der den Tod 1000er Menschen zu verantworten hat, Menschlichkeit zuzusprechen. Als Leser ist man irritiert und will gar nicht so recht glauben, was man über bin Laden liest. Doch Leon de Winter bekommt noch rechtzeitig die Kurve. Bevor der Leser Mitgefühl für bin Laden empfindet, lässt der Autor auch die bösartigen Seiten des Terroristenführers durchklingen. Und schon ist man als Leser wieder versöhnt.
"Wie sie am 11. September 2010 von UBL mitgenommen worden war, als wie fürsorglich sich UBL erwiesen hatten - die Fürsorglichkeit eines Ungeheuers. Sogar UBL konnte menschlich sein. Ein unerträglicher Gedanke." (S. 392)
Tom Johnson
Tom ist Mitglied der CIA, seine Karriere begann in der US Army. Eigentlich war er gar nicht an dem Angriff auf das Versteck bin Ladens beteiligt. Da er jedoch einen engen Kontakt zu den Männern der Einheit hatte, die mit diesem Auftrag betraut waren, hat er Kenntnis von dem Plan erhalten. Die Spezialkräfte der US Army, die derartige Sonderaufgaben übertragen bekommen, scheinen in einer Parallelwelt zu leben. Töten ist ein Job, Tötungsaufträge werden mit einer routinierten Selbstverständlichkeit durchgeführt. Dass die Mitglieder dieser Spezialkräfte selbst ständig der Gefahr ausgesetzt sind, ermordet zu werden, gehört zu deren Dasein dazu. Ihr Alltag ist von Misstrauen und Vorsicht geprägt, selbst wenn sie mittlerweile schon längst aus der Army ausgetreten sind und einen Job in einer privaten Sicherheitsfirma angenommen haben. Einmal Soldat, immer Soldat.

Während seiner Zeit in Afghanistan baut Tom eine Beziehung zu einem kleinen muslimischen Mädchen auf. Beide verbindet die Leidenschaft zur klassischen Musik, insbesondere die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit saugen sie Musik förmlich in sich auf. Diese Momente der Begeisterung und Harmonie erscheinen merkwürdig in dieser kriegsgebeutelten Umgebung. Die Liebe zur Musik wird dem Mädchen in dem islamischen Land zum Verhängnis. Tom fühlt sich verantwortlich für ihr Schicksal.
"Sie trat ein paar Schritte auf mich zu, nein, sie schritt, muss ich sagen, und dann blieb sie minutenlang reglos stehen, als hätte sie Angst, als sträubte sie sich gegen etwas, was sie mitriss, dieses dünne Mädchen, dunkel wie ihr Vater, glänzend gebürstetes schulterlanges Haar, lange Wimpern, gelbe Strickjacke über wadenlangem geblümten Kleid, leichte Hose, schmutzige weiße Pantoffeln - eine kleine afghanische Version von Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring. Schutzlos stand sie in Bachs Universum, in dem sich eine Note wunderbar natürlich zur anderen fügte und einen harmonischen Fluss bewirkte, der über die Natur hinausragte." (S. 133)
Jabbar
Ein Jugendlicher, der mit seiner Mutter in Abbottabad in Pakistan lebt. Eine christliche Familie unter Muslimen. Jabbar träumt davon, mit seiner Familie nach Amerika auszuwandern. Doch leider fehlen die Mittel, um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Eines Tages tut sich ein Hoffnungsschimmer auf.


Anfangs scheint es kaum Verbindungen zwischen den einzelnen Charakteren zu geben. Erst mit der Zeit beginnen sich ihre Wege zu kreuzen, und ihre Schicksale verflechten sich zu einem logischen Ganzen.

Leon de Winter konzentriert sich zu Beginn seines Romanes auf bin Ladens Tage vor dem Angriff sowie auf den Angriff selbst. Dabei schildert er diese Operation mit all ihrer militärischen Präzision. Man ist versucht, diesen Roman als Politthriller einzuordnen. US Army, CIA, Terroristen, das Weiße Haus, alles deutet darauf hin. Der damalige (und jetzige) Präsident der USA wird im Übrigen von Leon de Winter mit sehr unfeinen Eigenschaften ausgestattet, allen voran Skrupellosigkeit und Machthunger. Das ist  amüsant, zumal seinem Pendant in der Terrorismusbranche menschliche Eigenschaften angedichtet worden sind. Hier lässt Leon de Winter die Grenzen zwischen den guten Jungs und den bösen Jungs geschickt verwischen.
"Im Frühjahr 2011 war Obama in Militärkreisen keine sonderlich beliebte Figur. Wir wählten zwar nicht alle die Republikaner, in unseren Augen befassten sich nur Weicheier mit Politik, aber wir fanden, der jetzige Präsident sei ein elitärer Universitätsprofessor, der kein Feeling für die Machtverhältnisse in der Welt habe und auch kein Feeling dafür, welche Opfer wir, die Kämpfer und ihre Familien, für das Land brächten." (S. 64)
Mit der Zeit entwickelt sich der vermeintliche Politthriller zu einem Roman über menschliche Schicksale. Der Charakter bin Laden gerät in den Hintergrund und auf einmal stehen die berührenden Schicksale einer christlichen Familie und eines muslimischen Mädchens im Mittelpunkt.

Dies war der erste Roman, den ich von Leon de Winter gelesen habe, aber mit Sicherheit nicht der letzte. Ich war von Anfang an gefesselt. Der niederländische Schriftsteller ist ein Meister der Spannung, wobei es keinen Unterschied macht, ob er über militärische Aktionen schreibt oder über den Alltag in einem islamischen Land und dem Schicksal eines kleinen Mädchens. Es fällt nicht leicht, diesen Roman aus der Hand zu legen, insbesondere durch die unvorhergesehenen Wendungen, die die Handlung nimmt. Einmal begonnen, will man wissen, wo die literarische Reise hinführt. Genauso muss spannende Unterhaltung sein!

Fazit
Ein Roman, der es in sich hat: ein menschlicher Topterrorist, eine militärische Parallelwelt, Johann Sebastian Bach im Krieg, Christen in Pakistan, eine Verschwörungstheorie. Es ließe sich bestimmt noch mehr finden. Man kommt als Leser aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Fantasie des Autors ist grenzenlos. Und er versteht es, seine Geschichte glaubhaft zu verkaufen. Und am Ende bleiben die Zweifel an dem, was damals in Pakistan geschehen ist. De Winters Version erscheint nicht abwegig. Genauso könnte es gewesen sein.

Klare Leseempfehlung!


© Renie


Geronimo von Leon de Winter, erschienen im Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum: 24. August 2016
ISBN:978-3-257-862980



Über den Autor:
Leon de Winter, geboren 1954 in 's-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, begann als Teenager, nach dem Tod seines Vaters, zu schreiben. Er arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher in Holland und den USA. Seine Romane erzielen nicht nur in den Niederlanden überwältigende Erfolge; einige wurden für Kino und Fernsehen verfilmt, so ›Der Himmel von Hollywood‹ unter der Regie von Sönke Wortmann. Der Roman ›SuperTex‹ wurde verfilmt von Jan Schütte. 2002 erhielt de Winter den Welt-Literaturpreis für sein Gesamtwerk, und 2006 wurde er mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet. (Quelle: Diogenes)




Donnerstag, 18. August 2016

Stewart O'Nan: Westlich des Sunset

Romane, deren Protagonisten bekannte Persönlichkeiten sind, üben eine große Faszination auf mich aus. Der Reiz liegt für mich darin, dass diese Persönlichkeiten mit all ihren Schwächen dargestellt werden, wobei es mir egal ist, ob diese Schwächen angedichtet sind oder tatsächlich vorhanden sind. Es ist doch immer ein gutes Gefühl zu wissen, dass Berühmtheiten auch nur Menschen wie du und ich sind. 

In dem vorliegenden Roman "Westlich des Sunset" von Stewart O'Nan geht es um den Schriftsteller F. Scott Fitzgerald, Autor von "Der große Gatsby". Fitzgerald konnte mit seinem Ruhm nicht umgehen und ist daran fast zerbrochen. O'Nan versetzt seinen Helden in die 30er/40er Jahre. Fitzgerald, mittlerweile pleite, alkoholabhängig und tablettensüchtig, versucht sein Glück als Drehbuchautor in Hollywood.

Quelle: Rowohlt
Auszug aus dem Klappentext:
Hollywood, 1937. Als der amerikanische Schriftsteller Francis Scott Fitzgerald mit eindundvierzig als Drehbuchschreiber nach Hollywood gerufen wird, scheint seine Alkoholsucht unbezähmbar, seine Frau Zelda lebt in einer psychiatrischen Klinik, das Verhältnis zu seiner Tochter ist schwierig. Mit "Der große Gatsby" hat er Weltruhm erlangt, doch das ist lange her. Nun sieht er in der Traumfabrik Hollywood die Chance eines Neuanfangs. ... 


Hollywood - ein hartes Pflaster für einen Schriftsteller, der seine besten Zeiten bereits hinter sich hat. Fitzgerald gibt sich der Illusion hin, immer noch einen Namen in Hollywood zu haben. Er baut auf seinen Ruf, der ihm bei den Filmgesellschaften viele Türen öffnen soll. Doch man hat den Eindruck, dass er die Jobs, die er erhält, nur aus Mitleid angeboten bekommt. Man nimmt ihn nicht mehr ernst, wozu auch seine Unbeständigkeit als Folge seiner Alkoholsucht beiträgt. Doch Fitzgerald will sein gesunkenes Ansehen nicht wahrhaben. Noch immer vergleicht er sich mit alten Weggefährten, allen voran Ernest Hemingway, mit dem er sich nie ganz grün war. Hollywood ist ein Dorf. Zwangsläufig begegnet man sich auf Parties und öffentlichen Veranstaltungen. Aber Hollywood ist auch eine Zweiklassengesellschaft. Es gibt diejenigen, die auf der Erfolgswelle reiten und im Rampenlicht stehen. Und dann gibt es Leute wie Fitzgerald, die an ihren alten Erfolgen anknüpfen wollen, aber nicht wahrhaben können, dass die Zeiten des Erfolges längst vorbei sind. Diese Leute werden bestenfalls geduldet, gehören aber nicht mehr zur elitären Gesellschaft Hollywoods dazu.
"Er dachte an den Rausch seines ersten Erfolgs, als alle Welt ihn begehrte, nur dass der verträumte Egoist, der er gewesen war, geglaubt hatte, es würde für immer so bleiben." (S. 181)
Als erfolgreicher Romanautor hat Fitzgerald ein angenehmes und unabhängiges Leben geführt. Als Drehbuchautor ist es vorbei mit seiner Unabhängigkeit. Er ist auf Gedeih und Verderb der Produktionsgesellschaft ausgeliefert. Egal wie gut seine Drehbucharbeit ist, am Ende entscheidet der Produzent über den Inhalt des Drehbuches. Es wird ungefragt gekürzt und gestrichen, so dass das Ergebnis am Ende nur noch herzlich wenig mit der ursprünglichen Arbeit des Drehbuchautors zu tun hat. Aber wer bezahlt, bestimmt auch über Inhalt und Stil des Drehbuches. Kreativität ist an dieser Stelle unerwünscht.
Fitzgerald widerstrebt die Rolle des Drehbuchautors. Aber er hat keine Alternativen. Hoch verschuldet, Ehefrau Zelda in einer kostspieligen psychiatrischen Einrichtung, Tochter Scottie auf dem Internat - Fitzgerald muss nehmen, was er kriegen kann und seine eigenen Bedürfnisse dabei hintenanstellen. Er ist einem enormen Druck ausgesetzt. In Hollywood ist sein Alkoholproblem bekannt. Man lauert förmlich darauf, dass Fitzgerald wieder seine Aussetzer hat und scheitert.

O'Nan bestätigt einmal mehr, dass Hollywood nichts anderes als eine Scheinwelt ist. Einerseits das gern gesehene Bild vom Glamour, andererseits die Kälte, Neid und Missgunst der Reichen und Schönen, die sich in Hollywood tummeln. Hollywood hat etwas Verdorbenes und Zerstörerisches. Die Erfolgreichen können damit umgehen, die Erfolglosen gehen daran zugrunde.
"Trotz ihrer tropischen Schönheit, hatte die Stadt etwas Reizloses, Hartes, etwas Vulgäres, das so unzweifelhaft amerikanisch war wie die Filmindustrie, die durch die endlosen Wellen arbeitshungriger Migranten florierte und ihnen nichts Handfesteres als Sonnenschein bot. Es war eine Stadt der Fremden, doch, anders als in New York, gründete sich der Traum, den L. A. verkaufte, wie in jeglichem Paradies, nicht auf außergewöhnliche Leistungen, sondern auf unbegrenzte Leichtigkeit; ein Zustand, den nur Wohlhabende oder Tote erreichen konnten." (S. 59)
Nostalgie macht sich beim Lesen breit. Man stößt auf Stars wie Humphrey Bogart, Marlene Dietrich, Joan Crawford etc. etc. etc. und auch hier ist es sehr unterhaltsam, dass O'Nan diese schillernden Berühmtheiten des Filmgeschäfts, an die man mit Ehrfurcht zurückdenkt, von ihrem Podest herunterholt und mit allen möglichen menschlichen Schwächen ausstattet.

Beim Lesen hatte ich oft das Gefühl, das Szenario durch einen Filter zu betrachten. Das Leben in Hollywood hat etwas Unwirkliches, als ob es nicht von dieser Welt ist. Fitzgerald ist auf der Suche nach Normalität. Ein "normales" Familienleben, ein "normaler" Beruf, um seine Familie zu ernähren. Aber mit seinem Wunsch nach Normalität wirkt er in Hollywood deplatziert. Diese Normalität findet er auch nicht mehr in seiner Ehe. Die psychische Erkrankung seiner Frau Zelda macht ein "normales" Eheleben unmöglich. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann er sich in eine andere Frau verguckt, die allerdings große Ähnlichkeit mit Zelda aufweist. Es ist der Versuch, an seinem "alten" Leben mit Frau anzuknüpfen. Aber die Beziehung zu seiner "Neuen" scheint nicht zu funktionieren. Sheila, beruflich erfolgreich und unabhängig, ist ihm deutlich überlegen. Fitzgerald nimmt die Beziehung ernster als sie es tut.
"Er glaubte nicht an Scheidung - nicht als Katholik, denn das war er nur noch dem Namen nach, sondern als Romantiker -, und dennoch begriff er, dass, obwohl eine Verbundenheit blieb, der Aspekt ihrer Liebe vorbei war, zerstört durch Wut, Krankheit und Schmerz, durch zu viele Seitensprünge und zu viele getrennte Nächte." (S. 162)
Fitzgerald wird immer mehr zum Loser. Kein Erfolg im Beruf, kein Erfolg in der Liebe. Fitzgerald zerbricht langsam an seinen Misserfolgen und versinkt immer häufiger in seiner Sucht. 

Stewart O'Nan beschreibt das Scheitern Fitzgerald mit einer Nüchternheit, die eine große Distanz zu seinem Protagonisten aufkommen lässt. Er beschönigt nichts, bewertet nichts und nennt die Dinge beim Namen. Es kommen weder Mitgefühl für den zerplatzten Traum einer gescheiterten Existenz auf der Suche nach Normalität auf, noch Schadenfreude für den Absturz eines Mitgliedes des Vereins der Reichen und Schönen auf. Es scheint fast so, als ob einen die Geschichte Fitzgeralds gleichgültig lässt. Aber das stimmt nicht. Denn mit Fortschreiten der Handlung wird man feststellen, dass einem die Person Fitzgerald doch näher gekommen ist als man gedacht hat. 

Fazit
Dieser Roman liefert eine besondere Mischung aus der Glitzerwelt Hollywoods, Nostalgie und dem Scheitern einer Persönlichkeit. Dabei bedient sich der Autor einer Sprache, die nicht viel mit Glanz und Glamour zu tun hat, sondern eher das Zerstörerische und Unbarmherzige der Stadt der Engel betont. Klare Leseempfehlung!



© Renie


Westlich des Sunset von Stewart O'Nan, erschienen im Rowohlt Verlag
Erscheinungsdatum: März 2016
ISBN: 978-3-498-05045-0



Über den Autor:
Stewart O’Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Er arbeitete als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Heute lebt er wieder in Pittsburgh. Für seinen Erstlingsroman Engel im Schnee erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. (Quelle: Rowohlt)








Donnerstag, 11. August 2016

Jens-Michael Volckmann: Neunundneunzig Namen

Als Blogger freut man sich immer wieder, wenn man auf tolle Geschichten und Talente abseits der Bestseller-Listen stößt. Eine wahre Quelle unerschöpflicher Schreiblust ist anscheinend eine Autorengruppe, die sich unter der Bezeichnung #bartbroauthors auf Twitter tummelt. Andreas Hagemann, der Autor der Fantasy-Reihe "Xerubian" (und mittlerweile Bartträger) hat mich darauf gebracht. Danke für den Tipp!
Eine Gruppe Bart-tragender Autoren, wobei das mit dem Bart wohl ein Witz ist. Angeklebte Bärte gehen auch, der eine oder andere Damenbart wird wohl auch vorhanden sein. Aber eines haben sie - ob mit oder ohne Bart - gemeinsam. Alle sind Schriftsteller mit Spaß und Leidenschaft. Da ich mich gerade im Urlaub befand und Lesezeit wie noch nie zur Verfügung hatte, habe ich mich ein wenig durch die Twitter-Posts dieser Gruppe geklickt. Und auf den ersten Blick muss ich sagen, "Hut ab". Da ist doch einiges dabei, was in mein Beuteschema passt. Aber spontan bin ich bei einer Erzählung hängengeblieben. Mir ist die Aktualität des Themas aufgefallen. Ich habe noch nichts gelesen, dass dermaßen zu den Anschlägen im Juli in München passt und den aktuellen Zeitgeist in unserer Medienlandschaft widerspiegelt. Daher ist meine Wahl auf diese Erzählung gefallen:



Die Geschichte ist schnell erzählt: Über Frankfurt/M. stürzt ein Passagierflugzeug ab. Ein ganzer Stadtteil wird verwüstet. Tausende von Tote sind zu beklagen. Im Internet taucht ein Mitschnitt aus dem Cockpit im Moment des Absturzes auf. Die letzten Worte, die zu vernehmen sind, ist das „Allahu Akbar“ eines Passagiers. Alles deutet auf einen terroristischen Anschlag hin. Die Sachlage scheint eindeutig zu sein. Dem Leser ist jedoch schnell klar, dass nichts ist, wie es scheint, zumal auch der Verdacht auf einen terroristischen Anschlag schnell entkräftet wird. Der Absturz ist auf technisches Versagen zurückzuführen. Doch irgendwie zweifelt man doch. Denn der Autor Jens-Michael Volckmann legt ganz fiese Fährten aus, die darauf hindeuten, dass die islamistische Terroristenwelt doch ihre Hände im Spiel hatte.
"Das Fernsehbild wird schwarz. Nur noch die Aufzeichnung ist zu hören. Da sind der dumpfe Schlag gegen die Tür und dann die dunkle Stimme, die zwei Wörter ruft: "Allahu Akbar!"
Die Erzählung reißt den Leser von Anfang an mit. Die Spannung ist unglaublich hoch. Jens-Michael Volckmann hat für seine Geschichte einen ungewöhnlichen Aufbau gewählt: er erzählt in mehreren ständig wechselnden Zeitebenen.

Der Tag des Absturzes: Die Geschichte wird aus der Sicht des mutmaßlichen Täters und dessen Bruder, einem angesehenen Iman aus Köln erzählt. Die beiden geben akribisch die Vorkommnisse am Tag des Absturzes wieder. 

Die Wochen nach dem Absturz, in denen unter Anderem eine Fernsehtalkshow live ausgestrahlt wird. Teilnehmer dieser Talkshow sind eine Überlebende des Absturzes, Politiker sowie wieder der Bruder des angeblichen Attentäters. Man fühlt sich an Sendeformate wie „Hart aber fair“ oder „Anne Will“ erinnert. Die Medienwelt hat ihr Urteil bereits gefällt. Wider jeglicher Vernunft hat die Öffentlichkeit ihren Schuldigen gefunden. Die falsche Schlagzeile im richtigen Moment und schon ist der gemeinsame Feind identifiziert: der Islam.

Ein Jahr nach dem Absturz wird ein Dokumentarfilm ausgestrahlt, der sich mit der tatsächlichen Aufklärung befasst. Neben diversen Zeugen, kommt auch hier der Bruder wieder zu Wort und dem Leser wird schnell bewusst, dass es nicht bei den Opfern des Absturzes geblieben ist. Die manipulative Berichterstattung hat ihr Übriges geleistet. Brennende Moscheen gehören auf einmal zum Nachrichtenalltag dazu.
"'Al-Malik hat ganz klar und deutlich 'Allahu Akbar' gerufen. Wie viele Beweise benötigen Sie denn noch, um sich einzugestehen, dass er ein fanatischer Gotteskrieger war, der mehr als 1200 unschuldige Menschen mit in den Tod gerissen hat.' Das Publikum auf den dunklen Zuschauerrängen applaudiert."
Ich habe diese Erzählung zufällig an dem Tag gelesen, als sich der „islamistische“ 18-jährige Attentäter, der in einem Münchner Einkaufszentrum um sich geschossen hat, als Rechtsradikaler entpuppte, und das nach mehr als einer Woche Ermittlungsarbeit. In dieser Woche stand für Deutschland fest, dass der Terrorismus des IS in Deutschland angekommen ist. Und es bedurfte nur einer Videoaufnahme des Täters, wie er auf einem Parkhausdach angeblich islamistische Äußerungen von sich gab. Der Fall war glasklar. Das allgemeine Misstrauen gegenüber unseren muslimischen Mitbürgern wurde dadurch verstärkt. Und es fehlte nicht viel, um in das Szenario zu schliddern, das Jens-Michael Volckmann in seiner Erzählung „Neuundeunzig Namen“ überzeugend dargestellt hat.

Ich kann diese Erzählung jedem empfehlen, der sich tagtäglich von Medien berieseln lässt, Informationen unkritisch aus dem Internet saugt und somit dahin tendiert, seine eigene Meinungsbildung anderen zu überlassen. Es war noch nie so leicht an Informationen zu geraten wie heute. Es war aber auch noch nie so leicht an Fehlinformationen zu geraten. 

Fazit:
Eine bemerkenswerte Erzählung mit einem top-aktuellem Thema, hervorragend ausgearbeitet. Der Aufbau ist ungewöhnlich, trägt aber zur Spannung bei, die unglaublich hoch ist. Diese Erzählung ist für mich ein Appetithappen, der Lust auf Mehr aus der Feder von Jens-Michael Volckmann macht. Mal sehen, was er sonst noch so schreiben wird ;-)







Donnerstag, 4. August 2016

Brigitte Halenta: Die Breite der Zeit

Ich bin in die Breite gegangen. Freundlich ausgedrückt: Ich habe in den letzten Jahren Gewicht  aufgebaut ;-) Aber das ist nun mal die logische Konsequenz aus einem Missverhältnis zwischen Nahrungsaufnahme und körperlicher Bewegung. Ein unerfreulicher Zustand.
Seit der Lektüre von Brigitte Halentas Roman "Die Breite der Zeit" habe ich gelernt, dass auch die Zeit in die Breite gehen kann. Aber anders als bei meinen Kilos, ist die Breite der Zeit ein durchaus erstrebenswerter Zustand.

Worum geht es in diesem Roman?
Am Abend ihres 70-jährigen Geburtstages bereitet sich Henriette auf eine Auszeit von ihrem bisherigen Leben vor. Am nächsten Morgen will sie eine Reise nach Amerika antreten. Dort wird sie eine Freundin besuchen, die in jungen Jahren einen Amerikaner geheiratet hat und mit ihm ausgewandert ist. Die beiden Freundinnen haben sich seit ihrer Jugend nicht mehr gesehen.
Henriette hat diese Auszeit bitter nötig. Zusammen mit ihrem Mann Achim, der 94-jährigen bösartigen Schwiegermutter und ihrem erwachsenen Sohn, lebt sie auf einem Bauernhof in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein. All die Jahre hat sie ihrem Mann selbstlos den Hof geführt, die Schwiegermutter versorgt und sich um den Sohn gekümmert. Ihre eigenen Bedürfnisse hat sie dabei immer hinten an gestellt. Sie war für andere da, aber nie für sich selbst. Dabei musste sie die Ablehnung und Anfeindung der Schwiegermutter über sich ergehen lassen. Ihr Mann begegnet ihr seit Jahren mit Gleichgültigkeit. Henriettes einziger Lichtblick waren die wöchentlichen Treffen mit Bernd, mit dem sie ein Verhältnis hatte. Doch Bernd ist vor einigen Jahren gestorben.
„Sie hat es immer in dem Blick, mit dem die anderen sie anschauen, gelesen: Ablehnung, Missachtung. Irgendetwas ist grundsätzlich falsch an ihr. Sie hat sich ihr Leben lang Mühe gegeben, alles richtig zu machen, aber zu einer Richtigen hat sie das nicht gemacht.“ (aus "Die Breite der Zeit")
Henriette nimmt also ihr Leben in die Hand und tritt die große Reise ins Unbekannte an. Je länger und weiter sie von zu Hause weg ist, umso selbstständiger und mutiger wird sie. Aus Henriette wird Henny. Sie gewinnt neue Freunde und entdeckt verborgene Talente an sich. Schleswig-Holstein ist weit weg. Nur selten verschwendet sie einen Gedanken an Zuhause. Aber irgendwann ist ihre Zeit in Amerika vorbei. Der Aufenthalt hat ihr gut getan. Sie hat die neue Henny lieben und schätzen gelernt. Die Herausforderung ist jetzt, die Dinge, die ihr wichtig geworden sind, in ihren Alltag auf dem Bauernhof zu integrieren.
Doch alles läuft anders als geplant. Zuhause erwartet sie eine Tragödie, die sie zunächst völlig aus der Bahn wirft. Sie braucht einige Zeit, um wieder zu ihrer neuen Stärke zurückzufinden.
Das Schicksal scheint es gut mit ihr zu meinen. Sie schafft es, den in Amerika begonnen Weg der Selbstfindung in Deutschland fortzusetzen. Sie widmet sich ganz ihrem künstlerischem Talent, das sie in Amerika für sich entdeckt hat. Sie führt auf einmal ein Leben, das ihr auf dem Hof nie vergönnt war und von dem sie noch nicht einmal geträumt hat.
Dieser Roman ist ein Liebesroman. Natürlich darf daher der Passende für Henny nicht fehlen. Sie lernt Carl kennen, ein Mann in den 70ern, der ihre Leidenschaft für die Kunst teilt. Er umwirbt sie und am Ende kriegen sie sich.
„Henriette richtet sich innerlich auf und sagt sich wieder einmal, dass sie siebzig ist und dass es, wenn nicht jetzt, wann dann, Zeit ist, andere Seiten aufzuziehen. Was doch nur heißen kann, die alten hinderlichen Gefühle in den Müll zu kippen und neue auszuprobieren: die Berechtigung, den eigenen Wünschen zu folgen, die aufregende Freiheit zu entscheiden, die Lust, die alleinige Urheberin all dessen zu sein, was in ihrem Leben passiert.“ (aus "Die Breite der Zeit")
Dieser tolle Roman von Brigitte Halenta passt in die derzeitige Diskussion um den Mangel an „Seniorenromanen“ in der aktuellen Literaturszene. Ich stoße häufig auf die Frage nach den Büchern von Alten über Alte für Alte gemacht. „Altenliteratur“ halt! Ein fürchterlicher Begriff. Ich tue mich schwer mit diesem Schubladendenken. Wenn mich ein Roman interessiert, ist das Alter der Protagonisten nebensächlich. Für mich sind andere Kriterien ausschlaggebend. Das sind eine außergewöhnliche Geschichte und bemerkenswerte Charaktere.
Brigitte Halenta hat mit ihrem Roman "Die Breite der Zeit" genau meinen Geschmack getroffen. Sie zeigt die Entwicklung einer mutigen Frau auf, für die mit 70 noch lange nicht Schluss ist. Dabei erzählt sie eine spannende und kurzweilige Geschichte, die den Leser zu den unterschiedlichsten Schauplätzen führt. Und am Ende ist dieses Buch eine romantische Liebesgeschichte, ein bisschen Seniorenroman und ganz viel Entwicklungsgeschichte einer bemerkenswerten Frau. Also einfach ein rundum gelungener Roman, der fesselt, den Leser träumen lässt, aber auch nachdenklich stimmt.
„Die Freude ist jäh geköpft worden. Irgendwie, will ihr scheinen, war das immer so. Kurz bevor eine Freude in ihren Armen angekommen war, so dass sie hätte zugreifen können, in ihren Beinen, so dass sie hätte loslaufen können, kam jemand, der die Freude erstickte. Aus der verlorenen großen Freude wurden dann all die kleinen Freuden der zweiten Wahl, die sie ersetzen sollten.“ (aus "Die Breite der Zeit")
Brigitte Halenta hat mich von Anfang an mit ihrer wundervollen Sprache gehabt. Sie schafft es, durch ihren Sprachstil emotionale und berührende Bilder hervorzurufen. Man nimmt sich gern Zeit beim Lesen und verweilt bei einzelnen Textpassagen, weil es Freude bereitet, diese mehrfach zu lesen. Ihre bildhafte Sprache ist ein Genuss. Und doch musste ich zum Ende feststellen, dass mich das, was ich an dem Sprachstil zu schätzen wusste, zum Ende ins Kitschige abgedriftet ist. "Die Breite der Zeit" ist immer noch ein Roman inklusive Liebe, Lust und Leidenschaft. Und gerade bei einer bildhaften Sprache wird der Grat zwischen Kitsch und Gefühl sehr schmal. Leider hat Brigitte Halenta diese Gratwanderung zum Ende nicht hinbekommen. Ich glaube aber, dass ich hier kein Maßstab sein sollte, da ich mich generell mit Liebesromanen schwer tue. Freunde von Liebesromanen werden hier gewiss zu einer anderen Meinung kommen. Und um es mit Brigitte Halentas Worten zu schreiben:
„Die Bewertung ‚kitschig‘ drückt doch oft nichts weiter als die Angst vor Gefühlen aus. Alle großen Gefühle sind, wenn man über sie redet, kitschig.“ (Auszug aus "Die Breite der Zeit")
Nun, liebe Frau Halenta, ich bin sicher, dass ich keine Angst vor Gefühlen habe. Ich denke nur, dass manchmal weniger mehr ist. Gefühle lassen sich auch in einer weniger bildhaften Sprache darstellen. Ich bin jedoch überzeugt, dass viele andere Leser bei diesem Gefühlsszenario dahinfließen werden. Ich bin halt nicht geflossen, was jedoch meiner Begeisterung für Ihren Roman keinen Abbruch tut.
„ …, dass es zwei Welten gibt, die Welt des Alleszugleich und die Welt des Alleshintereinander; zu der ersten gehört die Breite der Zeit, zu der zweiten ihre Länge. Um alles zugleich haben zu können, muss man einfach nur da sein, weiter nichts, mit allen Sinnen, aber wenn man handeln will, dann geht das nur alles hintereinander. Diese beiden Prinzipien darf man nicht durcheinanderbringen, sonst droht Unglück.“ (aus "Die Breite der Zeit")
Die Autorin verknüpft in ihrem Roman eine großartige Geschichte mit vielen philosophischen und lebensklugen Ansätzen. „Die Breite der Zeit“ - ein Zustand, den jeder anstreben sollte, egal in welchem Alter, je früher desto besser. Auch jetzt noch, einige Tage nachdem ich diesen Roman gelesen habe, ertappe ich mich dabei, nach der Breite der Zeit zu forschen. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Ich nehme in diesen Momenten des Innehaltens die Dinge um mich herum bewusster wahr, versuche mich auf das Jetzt zu konzentrieren und nicht auf das, was kommen könnte. Wahrscheinlich wird mir dies auf Dauer nicht immer gelingen. Aber ich arbeite daran. Und im Zweifelsfall werde ich immer wieder gern an die Ü70erin Henny denken, die - besser spät als nie - alles richtig gemacht hat und die Breite der Zeit für sich entdeckt hat.

Danke, Brigitte Halenta, für einen besonderen Roman voller Lebensfreude, Hoffnung und Zukunft.


© Renie



Die Breite der Zeit von Brigitte Halenta,
ISBN: 978-1522985662
Verlag: Martin Bühler Publishing



Über die Autorin:
Brigitte Halenta, Jahrgang 1937, lebt und schreibt in Lübeck. Bis 2010 war sie als Psychotherapeutin in ihrer eigenen Praxis tätig. Obwohl sie schon immer geschrieben hat und Texte von ihr in verschiedenen Literaturzeitungen erschienen sind, konnte sie sich erst nach der Aufgabe ihrer Berufstätigkeit ganz dem Schreiben widmen. Im März, 2007 stellte sie ihren ersten Roman DIE BREITE DER ZEIT (Orlanda Verlag, Berlin) in einer stark gekürzten Fassung im Buddenbrookhaus in Lübeck vor. Die Neuauflage des Romans ohne Kürzungen ist 2015 bei Martin Bühler Publishing erschienen. (Quelle: Martin Bühler Publishing)