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Donnerstag, 17. August 2023

Tess Gunty: Der Kaninchenstall

Quelle: Kiepenheuer & Witsch

Die Gestaltung des Buchumschlags hätte mich vorbereiten müssen:
Diese Kombination aus niedlich-harmlosem Titel "Der Kaninchenstall" und psychedelisch-greller und farbenfroher Abbildung einer Wohnhausfront deutet auf einen Roman hin, der einiges an Überraschungen bereithalten könnte. Doch mit dem, was mir dann vor die Lesebrille kam, habe ich nicht gerechnet.

Tess Gunty erzählt in ihrem Debütroman „Der Kaninchenstall", für den sie prompt im Jahr seines Erscheinens (2022) den National Book Award erhielt, die Geschichte der Bewohner eines Hauses in Vacca Vale, einem fiktiven Ort inmitten der größten und ältesten Industrieregion Amerikas, dem sogenannten Rust Belt.
Dieses Haus ist nicht umsonst als „Der Kaninchenstall" bekannt. Denn die Bewohner leben hier eng an eng in ihren kleinen Appartements wie Kaninchen in ihren Verschlägen. Ab und zu läuft man sich im Kaninchenstall über den Weg. Aber im Großen und Ganzen lebt man isoliert.

Einer dieser Bewohner ist die 19-jährige Blandine, welche die Hauptfigur in diesem Buch ist und eine starke Affinität zu den Mystikerinnen der Geschichte hat. Ihr großes Vorbild ist Hildegard von Bingen. Gleich zu Beginn lesen wir, dass es ein blutiges Ende für Blandine nehmen wird. Was bis dahin in der Vergangenheit und insbesondere in den zwei Tagen vor dem blutigen Ereignis geschehen ist, erfahren wir durch weitere Charaktere, die entweder selbst im Kaninchenstall wohnen oder irgendeine Verbindung zu dessen Bewohnern haben. Zu behaupten, dass es sich bei diesen Charakteren um Menschen mit Ecken und Kanten handelt, wäre eine Untertreibung.

Denn die Figuren in diesem Roman haben psychische Probleme in unterschiedlichen Ausprägungen, die sie zu eigenwilligen Verhaltensweisen bringen, so dass man das Personal dieses Romans nicht anders als schräg bezeichnen kann. Blandine ist nur ein Beispiel für diese illustre Gesellschaft. Weitere Beispiele wären der 53-jährige Sohn einer Amerika weit bekannten und beliebten Schauspielerin, der seinen Mitmenschen auf – vorsichtig formuliert und spoilerfrei - kuriose und spektakuläre Weise begegnet und somit bei ihnen bleibenden Eindruck hinterlässt. Oder eine Mrs. Kowalski, die sich allein schon durch ihre Erwerbstätigkeit dem Leser ins Gedächtnis brennen wird: Sie arbeitet bei RESTINPEACE.com, einer Internet-Plattform für Nachrufe und Beileidsbekundungen. Hier prüft sie „Kommentare zu Nachrufen auf Kraftausdrücke, Urheberrechtsverletzungen und üble Nachrede, die die Toten verunglimpft.“ Man wäre überrascht, „…wie gemein manche Leute zu den Toten sind.“

Die Geschichte um den Kaninchenstall präsentiert sich von Anfang an als eine psychedelische Gemengelage aus schrägen Charakteren und einer verrückten Handlung, die unvorhersehbare Wendungen nimmt. Ähnlich turbulent ist auch der Aufbau dieses Romans sowie die wechselhafte Erzählweise: auktoriale und personale Erzähler, Rückblicke, Social Media Posts, Illustrationen anstelle von Text. Und immer wieder mehr oder minder versteckte Verbindungen zu Themen, welche eine Gesellschaft – in diesem Fall die amerikanische – in der heutigen Zeit auf Trab halten. Doch dieses Chaos ist gewollt, so dass es in diesem Roman definitiv nicht langweilig wird. Zudem beherrscht Tess Gunty dieses Chaos. Denn trotz des Durcheinanders lässt sich der rote Erzählfaden in diesem Roman bis zum Schluss erkennen und wird auch nicht lockergelassen.

Sollte man Tess Gunty eines ankreiden, dann ihre Ambition, Themen, die eine moderne Gesellschaft beschäftigen, nahezu lückenlos in ihrem Roman ansprechen zu wollen. Dies ist eine Eigenart, die sich gern bei zeitgenössischen amerikanischen Autoren finden lässt. Diese Kritikansammlung erinnert an das Abarbeiten einer Liste und erscheint mir zu oberflächlich. Ich würde mir hier eine Konzentration auf einzelne Themen wünschen und damit die Möglichkeit zu einer intensiveren Auseinandersetzung. Da jedoch „Der Kaninchenstall" an Originalität und schriftstellerischer Experimentierfreude nicht zu überbieten ist, lässt sich dieser, „All-you-can-criticize"- Ehrgeiz von Tess Gunty leicht verschmerzen.

Leseempfehlung!

Montag, 27. Juni 2022

Michael Basse: Yank Zone

In "Yank Zone", dem Roman des Münchner Autoren Michael Basse liegt Amerika inmitten von Baden-Württemberg, im beschaulichen Maulbronn.
Hier treffen wir erstmalig im Jahr 1972 auf Lt. Colonel Hartman und seinen Sohn Jack sowie Mani – Quasi-Adoptivsohn von Hartman Senior und bester Freund des Juniors.

Mani besucht ein Kloster-Internat und verbringt seine freie Zeit in dem Hard Man’s Guest House, wie das Hartmansche Heim scherzhaft genannt wird. Doch der Name ist Programm. Lt. Colonel Ross Raymond Hartman ist ein dekorierter Kriegsveteran, der im Vietnamkrieg zu Ruhm und Ehre gekommen ist. Er ist die Verkörperung eines amerikanischen Kriegshelden. Ein ganzer Kerl! Ein echter Hardman!
Buchseite und Rezensionen zu 'Yank Zone: Roman (Edition Klöpfer)' von Michael Basse
Quelle: Alfred Kröner Verlag

Colonel Hartman gehört zu denen, die mit Ende des zweiten Weltkrieges Deutschland vom Faschismus befreit haben. Seitdem lebt er hier, in Maulbronn. Gleich zu Beginn seiner Dienstzeit heiratete er eine Deutsche, eines von den damaligen Frolleins. Jack war der einzige Sohn dieser deutsch-amerikanischen Verbindung. Mrs. Hartman verstarb bereits in jungen Jahren, zu diesem Zeitpunkt war Jack war gerade mal sieben Jahre alt.
Das Verhältnis von Vater und Sohn war selten einfach. Denn als Sohn eines Helden, für den Schwäche ein Fremdwort ist, konnte Jack, der von Kindheit an gestottert hat, kaum bestehen.
Der selbstbewusste und energische Mani ist da ein anderes Kaliber. Es bleibt nicht aus, dass die Freunde Jack und Mani um die Gunst von Vater Hartman buhlen, was ihre Freundschaft natürlich in ein merkwürdiges Licht rückt.

Über die Jahre werden sich die Verbindungen im Hard Man’s Guest House auseinanderdividieren. Die Jungs werden erwachsen und werden ihre eigenen Wege gehen. Mit zunehmendem Alter werden die Jungs erkennen, dass ein Held auch nur ein Mensch ist.
Der Colonel wird wieder heiraten: Maggie, eine Freundin aus Frollein-Zeiten der verstorbenen Mrs. Hartman; und Jack wird sich in die Bulgarin Lydia verlieben.

Der deutsche Autor Michael Basse erzählt die Geschichte dieser Menschen über einen Zeitraum von 30 Jahren. Jack, Mani, Maggie und später auch Lydia sind die Ich-Erzähler dieses Romans und lassen somit unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte zu. Den Rahmen bildet dabei die Nachkriegsgeschichte Deutschlands bis zur Jahrtausendwende sowie die Geschichte Bulgariens in der postsowjetischen Zeit.
Diese Verbindung zu Bulgarien mag zunächst verblüffen, doch wirft sie einen interessanten Blick auf die Nachwirkungen des Krieges, der in den Köpfen von Menschen wie Colonel Hartman Fortbestand hat. Es ist für ihn nicht leicht zu verdauen, dass sich Sohn Jack mit dem Feind verbündet, als er mit Lydia, einer Frau aus dem kommunistischen Ostblock, eine Beziehung eingeht.

Der Roman spiegelt den Zeitgeist der unterschiedlichen Dekaden wieder und macht einfach nur Spaß. Jede der vier Erzählperspektiven hat einen eigenen Erzählsound, der für Abwechslung sorgt und die Frage nach der jeweiligen Figur, die gerade den Erzählpart übernommen hat, schnell beantwortet. Man sollte jedoch der englischen Sprache mächtig sein, denn viele Textpassagen sind in Englisch gehalten. Es wäre schade und würde diesem Roman viel nehmen, wenn man verständnislos einfach darüber hinweglesen würde.
"In jedem stecke ein Amerikaner, der rauswolle. Raus solle. Koste es, was es wolle. Auch wenn er es manchmal selbst noch nicht wisse und man ein bisschen nachhelfen müsse. Das Wesen des Amerikaners sei sein unbändiger Freiheitswille. Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit seien zwar auch Werte, aber nachrangig. Zuviel davon verheiße Schwäche, Unfreiheit, Ohnmacht. Freiheit sei Stärke…. Ein Amerikaner kapituliert nicht. Niemals. Nur so funktioniert Abschreckung. Anders ist sie nunmal nicht glaubhaft. Deshalb gibt es am Ende auch nur zwei Arten von Menschen: Amerikaner und solche, die es werden wollen – und die Feinde Amerikas."
Anhand der Geschichte der Protagonisten wird die deutsch-amerikanische Beziehung aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet und nimmt daher einen großen Raum in diesem Buch ein. Doch Autor Michael Basse richtet das Augenmerk auch auf andere „Kriegsschauplätze“, wie z. B. das besondere Vater-Sohn-Verhältnis von Hartman Senior und Junior, die Rolle Amerikas im Vietnamkrieg oder die Geschichte der deutschen Frolleins.

Fazit:
Michael Basse erzählt einen Teil der Geschichte Nachkriegsdeutschland auf sehr ausgefallene und einzigartige Weise. Ein ungewöhnlicher Roman, der mich immer wieder durch neue Denkanstöße und unterschiedliche Blickwinkel auf das, was Deutschland und Amerika verbindet, überraschen konnte.
Leseempfehlung!

© Renie

Dienstag, 7. Dezember 2021

Eduardo Lago: Brooklyn soll mein Name sein

"Brooklyn soll mein Name sein" des spanischen Autors Eduardo Lago ist ein Buch, das sich schwer beschreiben lässt. An der Qualität dieses Romans liegt dies definitiv nicht. Ganz im Gegenteil!!! Denn "Brooklyn soll mein Name sein" ist ein literarischer Hochkaräter. Eduardo Lago erhielt für seinen Debütroman im Jahr 2006 in seiner Heimat den Premio Nadal des Novela, dem ältesten und renommierten Literaturpreis Spaniens, der bisher fast ausschließlich an bedeutende Persönlichkeiten der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts verliehen wurde. (Dies nur zum „Warmwerden“ für den nachfolgenden Versuch, dieses Buch zu beschreiben und um dem Leser ein Gefühl dafür zu geben, welche literarische Besonderheit im Alfred Kröner Verlag erschienen ist, der diesen Roman vor Kurzem und erstmalig im deutschsprachigen Raum veröffentlicht hat.)

Titel und Titelbild dieses Romans deuten darauf hin: Schauplatz der Handlung ist Brooklyn, ein Stadtbezirk von New York, der heutzutage u. a. für seine multikulturelle Bevölkerungsmischung bekannt ist.
Doch Brooklyn ist nur einer der Schauplätze dieses Romans, genauso wie es unterschiedliche Handlungsstränge, Zeitebenen, Erzählperspektiven und – man glaubt es kaum – Ich-Erzähler und Protagonisten gibt.
Einer dieser Protagonisten und derjenige Charakter, um den sich die Handlung hauptsächlich dreht, ist Gal Ackerman, ein Schriftsteller, der vor Kurzem gestorben sein muss, das erfährt zumindest der Leser gleich zu Beginn des Romans.
"Gestern Vormittag haben wir Gal beerdigt."
Buchseite und Rezensionen zu 'Brooklyn soll mein Name sein: Roman' von Eduardo Lago
Quelle: Alfred Kröner Verlag
Wir schreiben gegenwärtig das Jahr 1991. Derjenige, der diesen Satz äußert ist Néstor Oliver Chapman, einer der Ich-Erzähler und Freund von Gal Ackermann, der mit dessen Tod die Aufgabe hat, Gals Nachlass zu sichten und zu verwalten. Diese Information hört sich einfach an, ist von mir jedoch hart erarbeitet worden. Hilfestellung hat dabei ein Personenregister am Ende des Romans geleistet, genauso wie es eine chronologische Übersicht der Ereignisse gibt und ein Glossar. Ohne diese Hilfestellungen wäre man aufgeschmissen, denn in diesem Roman begegnen uns eine Flut an realen und fiktiven Haupt- und Nebenfiguren, Zeitebenen sowie historische und fiktive Ereignisse. Man sollte meinen, dass der Autor Eduardo Lago mit dieser bunten Mischung in seinem Roman ein Pendant zu Brooklyn, dem bevölkerungsreichsten Stadtteil New Yorks, schaffen wollte.

Ich-Erzähler Néstor Oliver Chapman befasst sich also mit dem Nachlass seines verstorbenen Freundes, den er als einen Menschen kennengelernt hat, der eine Leidenschaft für das Schreiben besaß. Dabei ging es ihm nicht um das Ergebnis, sondern um den Schaffensprozess als solchem. Gal Ackerman war also nicht darauf aus, für andere zu schreiben, sondern in erster Linie schrieb er für sich. Sein Arbeitszimmer über einer Bar in Brooklyn ist über die Jahre zu einem „Manuskript-Friedhof“ geworden, einer wilden und chaotischen Sammlung an Gedanken, Geschichten und Erinnerungen, die nicht nur von Gal stammten, sondern auch von anderen Verfassern. Alles, was Gal jemals an Texten in die Finger bekommen hat, fand Einzug in diesen gigantischen „Blätterwald“.
"Mit beiden Armen hast du in den Papieren gewühlt, unfähig, mit dem Lachen aufzuhören. Dutzende und Aberdutzende von Manuskripten! Hier gibt es alles, Ness: Romane, Märchen, Theaterstücke, Essays, Memoiren, unerträgliche Texte, die überhaupt niemanden interessieren. Unglaublich, nicht wahr, sie haben alle eines gemeinsam: Niemand wird sie jemals lesen, und niemals wird einer von ihnen eine Druckerei von innen sehen. So viele Träume: Ruhm, Geld und Eitelkeit. Das sind die Dinge, von denen all diejenigen träumen, die unbedingt etwas veröffentlichen wollen."
Was macht man nun mit diesen Texten? Wohin mit den Geschichten und Erinnerungen? Diese Fragen hat sich auch Gal Ackerman gestellt und daher zu Lebzeiten den Versuch gestartet, ein Buch zu schreiben – eine Hommage an Brooklyn. Denn in Brooklyn hat er gelebt und geliebt. Er liebte nicht nur die Stadt und seine Menschen, sondern hier lernte er auch seine große Liebe kennen. Brooklyn spielte also eine wichtige Rolle in seinem Leben.
Inmitten der Entstehung dieses Buches stirbt Gal Ackerman und sein Freund fühlt sich verpflichtet, das Buch anhand der Notizen seines Freundes zum Abschluss zu bringen.
Während sich Néstor also durch die Unterlagen seines Freundes arbeitet, bereits fertiggestellte Geschichten aus diesem Buch liest, eigene Geschichten formuliert und diesen Roman fortsetzt, begleiten wir ihn durch die Lebensgeschichte seines Freundes und seiner Stadt.
Wir werden uns dabei häufig in den Gedankengängen von Nestor und Gal verlaufen. Denn es gibt weder eine chronologische Reihenfolge noch eine klare Abgrenzung zwischen Ich-Erzähler Nestor und Ich-Erzähler Gal. Erzählt wird über einen Zeitraum von fast 250 Jahren, denn auch diejenigen Generationen aus Gal Ackermans Familie, die vor ihm gelebt haben, gehören zu seiner Lebensgeschichte dazu. Genauso, wie seine spanischen Wurzeln in diesem Roman eine Rolle spielen sowie die Ära Spaniens zur Zeit des Bürgerkrieges.

Man muss viel Geduld haben mit diesem Roman. Seinen Reiz macht die unstrukturierte Erzählweise aus, die den Leser zwingt, sich die Handlung nach und nach zu erarbeiten. Doch dafür wird er mit intensiven Geschichten über Freundschaften, Liebe und Leidenschaft belohnt. Oft ist es schwierig zu unterscheiden, ob die Geschichten, die Einzug in Gals Buch halten, seiner Fantasie entsprungen sind oder auf tatsächlich Erlebtem basieren. Genauso, wie sich kaum unterscheiden lässt zwischen Gals bzw. Nestors Erzählungen.

Neben den beiden Hauptcharakteren gibt es eine Protagonistin, die eine gleichsam große Rolle spielt: Brooklyn – der Schauplatz dieses Romans.
Der Autor dieses Romans, Eduardo Lago, lebt in New York und hat daher eine besondere Verbindung zu diesem Schauplatz. Diese Verbundenheit ist durch seinen Protagonsiten Gal Ackerman mit jeder Silbe in diesem Roman spürbar. Zu Lebzeiten streifte Gal Ackerman durch Brooklyn, widmete seine Aufmerksamkeit den bekannten und weniger bekannten Orten. Er hatte eine Blick für die Bewohner dieses Stadtteils, unabhängig welcher Herkunft sie waren, wobei er den Hispano-Amerikanern durch seine eigenen Wurzeln sicherlich näher stand als anderen Bevölkerungsgruppen. Die Beschreibungen der Umgebung sind sehr akribisch und detailliert. Wenn Eduardo Lago einmal anfängt, den Schauplatz und damit verbundene Stimmungen zu beschreiben, lässt er nicht locker, bis die kleinste Kleinigkeit der Szenerie dargestellt ist und der Leser in die Atmosphäre dieses Schauplatzes eingetaucht ist. Eduardo Lago macht Brooklyn also spürbar. Und wer bis jetzt noch nicht in Brooklyn war, findet sich durch die Lektüre dieses Romans zumindest gedanklich in dem Brooklyn eines Eduardo Lago wieder.

Fazit:
Ein faszinierender Roman, der die Lebensgeschichte eines charismatischen, leider fiktiven Mannes erzählt und dabei gleichzeitig eine Hommage an Brooklyn darstellt. In Verbindung mit seiner eigenwilligen Konstruktion ist dieser Roman eine Besonderheit, die mit nichts vergleichbar ist, was ich bisher gelesen habe.

© Renie

Donnerstag, 18. November 2021

Ethan Hawke: Hell strahlt die Dunkelheit

Früher waren Prominente einfach nur das, was sie waren ... prominent. Doch heutzutage ist prominent nicht mehr gleich prominent. Denn man unterscheidet mittlerweile zwischen A-/B- und C-Promis, wobei hier dank unseres Alphabets noch viel Spielraum nach unten ist. 
Wie wird man nun zum C-Promi? Und wie berühmt oder bekannt muss man sein, um zum B-Promi zu werden oder gar in den Olymp eines A-Promi Status‘ aufzusteigen? Ich bin ratlos und habe keine Ahnung, welche Kriterien zugrunde gelegt werden.
Nehmen wir das Beispiel der Schauspielerei. Erstaunlich ist, dass die meisten A-Promis unter den Schauspielern gar nicht so viel Aufhebens um ihren Promistatus machen. Sie glänzen durch schauspielerisches Können und Seriosität. Ihr Ego scheint nebensächlich zu sein (Ausnahmen bestätigen die Regel). Ganz anders bei den Promis, die sich unterhalb der A-Klasse bewegen. Mit sinkendem Promi-Status scheinen Ego und Überheblichkeit zu steigen. Mit anderen Worten: je niedriger der Status, umso wichtiger nimmt sich der Promi. Und je niedriger der Status, umso wichtiger scheint für einen Promi die öffentliche Meinung über ihn zu sein.

Die öffentliche Meinung spielt auch in dem Roman „Hell strahlt die Dunkelheit“ des A-Promis und Schriftstellers Ethan Hawke eine wichtige Rolle. 
Quelle: Kiepenheuer und Witsch

Der Amerikaner Ethan Hawke ist ausgebildeter Schauspieler (Theater und Film), Roman- und Drehbuchautor sowie Regisseur. William Harding, der Protagonist seines Romans "Hell strahlt die Dunkelheit" ist ebenfalls Hollywood-Schauspieler, aber nicht ganz so talentiert wie sein prominenter Schöpfer. William ergattert eine Theaterrolle in einer Shakespeare-Inszenierung (Heinrich IV.) am Broadway, was für den Filmschauspieler eine echte Herausforderung ist. William ist definitiv kein A-Promi, ist aber mit einem verheiratet. Seine Frau Mary ist ein gehypter Rockstar. Das Promi-Paar hat zusammen zwei Kinder (3 und 5 Jahre). Der Roman "Hell strahlt die Dunkelheit" beginnt mit der Ankunft von William in New York, unmittelbar bevor die Proben zu dem Theaterstück losgehen. Beruflich läuft es also bei William, privat aber nicht. Denn seine Ehe steht vor dem Aus. Nachdem durch die Presse bekannt wurde, dass William seine Frau betrügt, hat diese ihn vor die Tür gesetzt. Die Öffentlichkeit macht William nun für seinen Fehltritt fertig, gilt doch Noch-Ehefrau Mary als America’s Darling.

Trotz negativer Publicity und Anfeindungen durch die Öffentlichkeit, versucht William, sich auf seine Rolle zu konzentrieren. Der Filmschauspieler, der bisher noch keine Erfahrung mit dem Theater gemacht hat, gräbt sich in die Rolle des Hotspur. Diese Figur gehört zu den Bösen in Shakespeares Stück, womit wir bei den Parallelen zu Williams Leben und die Wahrnehmung seiner Person in der Öffentlichkeit wären. Die Rolle ist für ihn wie geschaffen. 
Durch Williams bisheriges Leben in Glanz und Glamour ist er ein Promi geworden, der auf die öffentliche Meinung fixiert ist. Bisher war er immer bemüht, dem Klischee eines Hollywoodschauspielers in Kombination mit der Rolle des Ehemanns eines Rockstars gerecht zu werden. Sex, Drugs and Rockn'Roll waren dabei probate Mittel. 
Doch je mehr er sich jetzt der ernsthaften Schauspielerei innerhalb des Shakespeare Stückes hingibt, umso mehr entfernt er sich von dem Bild des lasterhaften Promis. Am Ende wird der echte William Harding zum Vorschein kommen. Ein ernsthafter und verantwortungsvoller Mensch, der es endlich schafft, die öffentliche Meinung nur als das zu sehen, was sie ist: eine Meinung von vielen. Sein Theaterengagement wird zur Katharsis für seine Persönlichkeit und sein Seelenleben. 

Der Roman umfasst den kompletten mehrwöchigen Zeitraum von Williams Broadway Engagement, angefangen bei den ersten Proben bis hin zur letzten Aufführung des Shakespeare Stücks. William pendelt zwischen seinem New Yorker Domizil - einem Hotelzimmer - und dem Theater hin und her. Dadurch verbringt der Leser mit ihm viel Zeit am Theater und taucht in den Alltag eines Theaterensembles ein. Das macht viel Spaß, da dabei das Hauptaugenmerk auf den einzelnen Mitgliedern und ihren teilweise exzentrischen Eigenwilligkeiten liegt.

Das Shakespeare Stück liefert dabei einen interessanten Rahmen. Indem wir den Schauspieler auf Schritt und Tritt begleiten, kommen wir auch mit Auszügen des Stückes in Berührung. Es finden sich viele Zitate aus Heinrich IV. Wir verfolgen einzelne Szenen, die Handlung sowie die Charaktere werden im Ansatz erklärt, genauso wie der Aufbau des Stückes auf diesen Roman übertragen wird. Spätestens zum Ende der Lektüre verspürt man Lust, sich Heinrich IV. im Theater anzusehen. 

Bei aller Begeisterung habe ich einen Kritikpunkt an diesem Roman: Gewöhnungsbedürftig ist für mich die Fixierung des Schauspielers William auf seinen Sexualtrieb, was Autor Ethan Hawke mit sehr plakativen und deftigen Formulierungen zum Ausdruck bringt. Für mich wäre da weniger mehr gewesen. 

Dennoch ist "Hell strahlt die Dunkelheit" ein facettenreicher und origineller Roman, den ich sehr genossen habe. 

© Renie

Mittwoch, 20. Oktober 2021

James Sallis: Sarah Jane

Die literarische Gattung Krimi "thematisiert in der Regel ein Verbrechen und seine Verfolgung und Aufklärung durch die Polizei, einen Detektiv oder eine Privatperson. Der Schwerpunkt, Sicht- und Erzählweise einzelner Kriminalromane können sich erheblich unterscheiden." - so Wikipedia. 

"In der Regel", wohlgemerkt, denn Krimi ist nicht gleich Krimi. Wikipedia unterscheidet folgende Untergattungen: 
Schauer- und Kriminalromane für Frauen - Whodunit - Verschiedene Ermittlungsformen - Thriller - Schwarze Serie - Gangsterballaden - Komischer Krimi - Regionalkrimi 

Eine eigenwillige Unterteilung, die sicher nicht vollständig ist. Denn es gibt Krimis, die nicht in diese Schubladen passen. Einer, der keine Schubladen-Krimis schreibt, ist der amerikanische Autor James Sallis, der für einige seiner Kriminalromane bereits den Deutschen Krimi Preis (International), den amerikanischen Hammett Prize und den französischen Grand prix de littérature policière gewonnen hat. 
Sein aktueller Roman "Sarah Jane" ist momentan auf Platz 4 der Deutschen Krimibestenliste (September 2021). Und mit "Sarah Jane" hat James Sallis einen Roman geschrieben, für den es jene Krimi-Schublade geben müsste, die in der o.g. Unterteilung fehlt: der literarische Krimi.

Sarah Jane, Protagonistin des gleichnamigen Romans, ist eine Frau, die schon einiges in ihrem Leben mitgemacht hat. Vorsichtig formuliert: sie hat bisher ein "bewegtes" Leben geführt. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen im Mittleren Westen Amerikas, ist sie bereits sehr jung von zuhause ausgerissen und hat sich die nächsten Jahre mehr schlecht als recht durchgeschlagen. Sie blieb nie lang an einem Ort, geriet in schlechte und bessere Gesellschaft. Das Militär bewahrte sie vor einer Haftstrafe. In Amerika wurde sie von den unterschiedlichsten Männern ein Stück ihres Lebensweges begleitet. Diese Männer taten ihr gut und mal weniger gut. Nun lebt sie in der amerikanischen Kleinstadt Farr, ist im Polizeidienst, sorgt für Recht und Ordnung und hat offene Augen und Ohren für die Probleme der Kleinstadtbewohner. Sie wird für ihre Empathie geschätzt, die Menschen mögen sie. Scheinbar kehrt endlich Ruhe in das bewegte Leben der Sarah Jane ein. Wenn da nicht die Geister ihrer Vergangenheit wären.

Und wie sich das für Geister gehört, bleiben sie weitestgehend unsichtbar und tauchen nur dann auf, wenn man nicht mit ihnen rechnet, was wiederum zu Zweifeln führt, denn Geister gibt es eigentlich nicht. Auf den Punkt gebracht: Sarah Jane hat Geheimnisse, die aus ihrer Vergangenheit resultieren, aber nicht offensichtlich sind und selbst für den Leser weitestgehend verborgen bleiben. 

Der Roman beginnt mit den Erinnerungen von Sarah Jane an ihre Zeit und die Jahre bevor sie nach Farr kam. Sie macht es dem Leser dabei nicht einfach. Denn sie erzählt ihre Erinnerungen chronologisch unsortiert und springt zwischen den Ereignissen hin und her. Der Leser wird mir einem Wirrwarr an Gedanken konfrontiert. Und irgendwo inmitten dieses Wirrwarrs blitzen immer wieder kleine Momente auf, die stutzig machen und den Verdacht erwecken, dass es in Sarah Janes bisherigem Leben schlimme Momente gab, wenn nicht sogar kriminelle Momente.

Die Buchbeschreibung des Verlages bringt es auf den Punkt: "James Sallis erzählt von einer Frau, die versucht, der Welt die Stirn zu bieten und mit dem Leben ins Reine zu kommen. "Sarah Jane" ist ein fesselnder, ungewöhnlicher Roman über Schuld, Sühne und das Ringen mit den eigenen Dämonen."

Im Mittelpunkt steht also Sarahs Geschichte und die Entwicklung von einer sprunghaften und wilden Jugendlichen zu einer ernsthaften und geheimnisvollen Frau mit - wie sich in Farr herausstellt - ganz viel Empathie für ihre Mitmenschen. 

Wo bleibt also das "thematisierte" Verbrechen dieses Kriminalromans? 
Tatsächlich gibt es in "Sarah Jane" Verbrechen genauso wie es Tote gibt. Doch diese Dinge sind nebensächlich und irgendwo inmitten der Vielzahl an Sarah Janes Erinnerungen sowie den Geschichten über die Menschen um sie herum verborgen. Und dieses versteckte Böse, das irgendwo in Sarah Janes Geheimnissen existiert, gibt dem Roman die Würze und das gewisse Extra, um aus diesem Roman einen Krimi zu machen, ergänzt um das Prädikat "literarisch". Denn James Sallis ruhiger Erzählton, der eine wundervoll melancholische Stimmung erzeugt, trägt dazu bei, dass dieser Roman ein literarischer Hochgenuss ist.

Leseempfehlung!

© Renie





Samstag, 25. September 2021

Jonathan Coe: Mr. Wilder und ich

Billy Wilder, amerikanischer Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent, war bereits zu Lebzeiten eine Legende. Seine größten Erfolge konnte er in den 40er, 50er und 60er Jahren verzeichnen. Insgesamt drehte er über 60 Filme. „Sabrina“, „Das verflixte 7. Jahr“, „Zeugin der Anklage“, „Manche mögen’s heiß“, „Das Mädchen Irma la Douce“ waren einige davon.
Im Jahr 1978 erschien sein vorletzter Film "Fedora", bei dem Billy Wilder nicht nur Regie führte, sondern auch das Drehbuch schrieb. Viele sahen darin Parallelen zu Wilders eigenem Hollywood Dasein. "Fedora" erzählt die Geschichte über den Mythos einer verstorbenen Filmdiva und wurde von den Kritiker u. a. wie folgt beschrieben: 
„ein Abgesang auf Hollywood, auf das Kino alter Schule, auf Billy Wilders klassische Filme nicht zuletzt. […] Ein Alterswerk, das seinen Rang vornehmlich dadurch erreicht, dass es in Kauf nimmt, von allen missverstanden zu werden."

Der Roman „Mr. Wilder und ich“ erzählt von der Entstehung dieses Films und ist gleichzeitig eine berührende und humorvolle Biografie über die Hollywood-Legende Billy Wilder, der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten bereits Anfang 70 war. 
Quelle: Folio Verlag

Die Geschichte von Billy Wilder wird dabei in einen weiteren Handlungsrahmen eingebettet. Denn erzählt wird sie Jahre später von einer fiktiven Figur - Callista, einer Komponistin für Filmmusik, Ehefrau und Mutter von 2 erwachsenen Töchter. Sie berichtet von ihren ersten Gehversuchen beim Film, an denen Billy Wilder maßgeblich beteiligt war. Callista ist in den 50er/60er Jahren in Athen aufgewachsen. Ihre griechischen Wurzeln und der Zufall haben ermöglicht, dass sie in den 70er Jahren in das Filmgeschäft gerutscht ist. Denn im Alter von 21 Jahren begegnet sie in Hollywood das erste Mal Billy Wilder, der ihr einen Job als griechische Übersetzerin für die geplanten Dreharbeiten von „Fedora“ am Drehort Lefkada, einer verschlafenen griechischen Insel, anbietet. Die Tochter eines Griechen und einer Engländerin, die zu diesem Zeitpunkt einen Trip durch Amerika macht, ergreift die Chance, und von da an wird sie die nächsten Jahre im Filmgeschäft in unterschiedlichen Funktionen arbeiten. Doch zunächst geht es um die Dreharbeiten zu „Fedora“. Mit ihrer unkomplizierten und bodenständigen Art sticht Callista aus der Menge der Filmleute, die an dieser Produktion beteiligt sind, heraus. Das merkt auch Billy Wilder sowie sein bester Freund und Co-Drehbuchautor Iz Diamond. Die beiden Männer suchen immer wieder die Gesellschaft von Cal, die herzerfrischend anders ist, als diejenigen Menschen, mit denen der Starregisseur beruflich zu tun hat: Schmeichler, Neider, Opportunisten und Sensationslüsterne. Cal erinnert sich Jahre später an diese Zeit und erzählt von den Begegnungen und Gesprächen mit den beiden Männern. Insbesondere durch die Sichtweise des besten Freundes Iz, lernt sie einen anderen Billy Wilder kennen, als denjenigen, der sich im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit präsentiert.

Billy Wilder, Sohn jüdischer Eltern, ist 1906 in Österreich geboren, hat später lange Jahre in Berlin gelebt und ist mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Amerika emigriert, wo er als Drehbuchschreiber ins Filmgeschäft einstieg und kurz darauf in Hollywood Regie führte. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und die kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wurde ein Teil seines Lebens. Billy Wilder war also kein Regisseur. der sich auf leichte Filmkomödien reduzieren ließ. Er begegnete der Welt zwar mit Humor, was aber nicht über seine Ernsthaftigkeit hinwegtäuschen sollte. 
"'... Das Leben ist hässlich. Wir alle wissen das. Du brauchst nicht ins Kino zu gehen, um zu erfahren, dass das Leben hässlich ist. Du gehst ins Kino, damit diese zwei Stunden dein Leben ein klein wenig heller machen, sei es durch Komik oder Lachen, oder einfach nur ... keine Ahnung, durch ein paar schöne Kleider und gutaussehende Schauspieler oder so - irgendein Lichtblick, der vorher nicht da war. Ein bisschen Freude, Heiterkeit ... .'"
Jonathan Coe hat mit diesem Roman einen Billy Wilder geschaffen, wie ich ihn mir gern vorstellen möchte: ein netter, älterer und humorvoller Herr, der menschliche Wärme ausstrahlt und mit Güte über die Fehler seiner Mitmenschen hinwegsieht. Ob Mr. Wilder tatsächlich so gewesen ist, ist für mich dabei zweitrangig. Ich will dem Autoren die Charakterisierung seines Protagonisten gerne abnehmen, zumal Jonathan Coe in seinen Anmerkungen und Quellenangaben am Ende des Romans nicht den Eindruck vermittelt, dass die Eigenschaften, die er seiner Figur zuschreibt, seiner Fantasie entsprungen sind. 

Der Protagonist Billy Wilder in Verbindung mit dem glamourösen Hollywood-Flair, das die Handlung begleitet, machen die Geschichte daher zu einem großen Vergnügen. Jonathan Coe hat mit "Mr. Wilder und ich" einen Roman geschaffen, der der humorvollen Leichtigkeit eines Films des berühmten Regisseur in nichts nachsteht.

Leseempfehlung!

© Renie

Sonntag, 11. Juli 2021

Ann Petry: Country Place

Schauplatz des Romans "Country Place" von Ann Petry ist der beschauliche Touristenort Lennox im amerikanischen Bundesstaat Connecticut. Hier verbringen Touristen gern ihre Sommerfrische und begeben sich auf die Suche nach Ruhe, Wärme und Erholung.
Es scheint, dass Lennox eine Idylle paradiesischem Ausmaßes ist. Da zu einem anständigen Paradies auch mindestens ein Sündenfall gehört, ist natürlich auch Lennox nicht davor gefeit. Dafür sorgen die Bewohner von Lennox und einige davon im Besonderen. 
Diese Beobachtung macht auch der Apotheker vor Ort: Doc Fraser, von vielen Pop genannt, der sich gleich zu Beginn des Romans als Ich-Erzähler präsentiert. Im Verlauf der Geschichte wird er diese Rolle jedoch nur sporadisch einnehmen. Denn in diesem Roman wechseln die Erzählperspektiven zwischen den Hauptfiguren, welche sind 
- die alte Mrs. Gramby und ihr Sohn Mearn, sehr wohlhabend, bewohnen ein Anwesen inklusive Hausangestellten. Die beiden sind angesehene Stützen der Gesellschaft, Mrs. Gramby noch mehr als ihr Sohn. Mearn ist verheiratet mit 

- Lil, ehemalige Schneiderin, die sich den reichen Mearn geangelt hat, um in die höheren Gesellschaftskreise aufzusteigen und ein Leben in Saus und Braus zu führen. Schwiegermutter und Schwiegertochter können sich nicht ausstehen, versuchen jedoch den Schein zu wahren – was ihnen mehr schlecht als recht gelingt. Lil ist in den 40ern und hat eine Tochter: 

- Glory, die in einem Laden in Lennox als Verkäuferin arbeitet. Einfach gestrickt und charakterlos wie ihre Mutter betrachtet sie Männer als Versorger, weshalb sie verheiratet ist, mit 

- Johnny Roane, der die letzten Jahre in Vietnam verbracht hat, soeben aus seinem Kriegseinsatz zurückgekehrt ist und nun auf eine glückliche Zukunft mit seiner Glory hofft. 

Neben diesen Hauptfiguren treffen wir in Lennox auf Nebendarsteller, die aber trotz ihrer untergeordneten Rolle einen enormen Einfluss auf die Handlung haben. 
Quelle: Nagel und Kimche
"Jetzt fiel ihm wieder ein, dass überall geklatscht und getratscht wurde - im Postamt, im Gemischtwarenladen, im Drugstore und sonntags nach dem Gottesdienst vor den Kirchen. Diese Sorte Grinsen im Gesicht des kleinen Mannes hinterm Lenkrad stand für die ganze Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit der Stadt, für ihr hinterhältiges Gespött über andere." 
Der Roman erzählt die Geschichte dieser Menschen und entwickelt sich zu einer Tragödie, die an Dramatik kaum zu überbieten ist. Es wird geliebt, gehasst, geneidet, gegiert und betrogen. Eifersucht und Intrigenspiel gehören dabei auf die Tagesordnung. 

Ann Petry nimmt den Leser an die Hand und führt ihn durch Lennox. Die Menschen, die uns dabei begegnen werden von ihr in den schillernsten Farben bis ins kleinste Detail geschildert. Dominiert wird dabei das Geschehen von den Frauenfiguren dieses Romans, wobei Ann Petry klar zwischen Gut und Böse unterscheidet. Die Femmes Fatales bekriegen sich mit den Charakteren von untadeligem Ruf. 

Trotz aller hochkochender Emotionen behält dieser Roman seine Beschaulichkeit, die durch den Ferienort Lennox assoziiert wird, bei. Der Sprachstil ist ruhig und sortiert. Petry konzentriert sich auf die Rolle des Beobachters, die teilweise durch den Apotheker besetzt wird, der sich als Chronist der Ereignisse vorstellt, aber diese Rolle nicht gänzlich ausfüllt. 

Ann Petry hat mit "Country Place", der im Jahre 1947 erstmalig veröffentlicht wurde, ihren zweiten Roman geschrieben. Ihr erster Roman "The Street" aus dem Jahre 1946 sorgte für Furore, weil er in einer Zeit veröffentlich wurde, als afroamerikanische Literatur eine Männerdomäne war und eine deutliche Anklageschrift gegen Rassismus und das vorherrschende Frauenbild war. Mit "Country Place" konnte die Autorin nicht in Gänze an ihren Erfolg anknüpfen. Denn hier fehlte die "Protestnote", die in "The Street" zu finden war. "Country Place" ist gemäßigter als sein Vorgänger. Bis auf wenige Ausnahmen ist das Personal in diesem Roman weiß-amerikanisch. Aber "weiß" ist nicht gleich "weiß", wie der Umgang der Bevölkerung von Lennox mit einem jüdischen Anwalt sowie nicht-amerikanischen Hausangestellten der Familie Gramby verdeutlicht.

Hat mir "The Street" von Ann Petry schon ausgesprochen gut gefallen, hat sie mit "Country Place" mein Herz erobert. Mir gefällt diese Mischung aus Ruhe und Beschaulichkeit eines amerikanischen Kleinstadtromans, gepaart mit der emotionalen Dramatik, die durch das Miteinander der Charaktere entsteht. 

Ich freue mich, dass der Verlag Nagel und Kimche Ann Petry für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt hat. Der Roman "The Street" wurde bereits im letzten Jahr veröffentlicht, "Country Place" erschien im Mai diesen Jahres. Für das Frühjahr 2022 ist nun der dritte und letzte Roman von Ann Petry avisiert Und ich bin sehr gespannt, ob für mich noch eine Steigerung zu "Country Place" möglich sein wird.

© Renie






Dienstag, 6. April 2021

R. Clifton Spargo: Beautiful Fools

Der amerikanische Autor Francis Scott Fitzgerald und seine Ehefrau Zelda galten in den 20er und 30er Jahren in Hollywood als Inbegriff des Glamour-Paares. Die Ehe der Beiden wäre heutzutage sicherlich ein heiß diskutierter Gegenstand der boulevardesken Berichterstattung. 

Ohne Boulevard, dafür jedoch mit Anspruch, nimmt sich der Amerikaner R. Clifton Spargo ebenfalls des Ehelebens der beiden Promis an. In dem biografischen Roman "Beautiful Fools" konzentriert er sich dabei auf eine Zeit des Zusammenseins der Fitzgeralds, in der von Glamour nur noch wenig festzustellen ist. 

Im Jahr 1939 sind die Fitzgeralds bereits 20 Jahre verheiratet. Durch eine psychische Erkrankung war Zelda in den letzten Jahren zu mehreren Klinik-Aufenthalten gezwungen, die sie über längere Zeiträume aus dem Verkehr gezogen haben. Darunter leidet natürlich die Ehe der beiden Protagonisten, so dass sie sich zu einem gemeinsamen Urlaub in Kuba entschließen, um somit ihrer Beziehung eine letzte Chance geben zu können. 
"Dazu musste der Urlaub absolut perfekt werden, es bedurfte einiger Tage, um die aufgestaute Bitterkeit und das gallige Misstrauen abzubauen, Tage, in denen sie erst wieder lernen mussten, auf welche Weise sie einander gut taten. Das alles lag auf ihren Schultern, denn sie wollte ihn überreden, sie wieder in sein Leben zu lassen, und zugleich bat sie um ihre Freiheit. Sie musste sehr vorsichtig sein, damit sie keinen Fehler machte, so verdammt vorsichtig."
Während die beiden in Kuba ihre Eheprobleme in den Griff bekommen wollen, versuchen Sie gleichzeitig an ihrem Ruf als Glamour-Ehepaar und den damit verbundenen luxuriösen Lebensumständen festzuhalten. Zumindest einer dieser Versuche gestaltet sich aufgrund der desolaten finanziellen Situation des Ehepaares als schwierig. Und ob der andere Versuch von Erfolg gekrönt sein wird, bleibt bis zum Ende des Romanes offen. 

R. Clifton Spargo hat mit diesem Roman ein Psychogramm über die Ehe seiner Protagonisten geschrieben. Dabei löst er sich von dem allgemein bekannten Bild des Glamourpaars und stellt die Schwächen und Probleme der jeweiligen Figur in den Vordergrund. F. Scott Fitzgerald haben die Jahre in Saus und Braus zum Alkoholiker gemacht. Darüber hinaus leidet er an den Folgen einer Tuberkulose. Alles in allem ist er ein gesundheitliches Wrack, mit einer Ehefrau an seiner Seite, deren Verhalten durch eine psychische Erkrankung unberechenbar, wenn nicht sogar schizophren ist. 

Das Vorhaben der Eheleute, die Beziehung zu retten, steht also unter einem ungünstigen Stern. Fitzgerald hält aus lauter Pflichtgefühl an Zelda fest. Schließlich ist sie seelisch krank und er fühlt sich für sie verantwortlich.

Die vielseitige und talentierte Zelda Fitzgerald strebt selbst eine Karriere als Autorin sowie Malerin und Tänzerin an. Erste schriftstellerische Versuche waren vielversprechend. Doch leider ließ das Ego ihres Mannes bisher nicht zu, dass sie aus seinem Schatten heraustreten konnte - ein weiterer Krisenherd in dem Konflikt zwischen den Eheleuten.
"Sie wurde nur als Ehefrau aufgeführt, als sonst nichts; aber für die Welt da draußen waren sie immer noch ein sehr bemerkenswertes Paar, der Autor und seine Frau."
Einen besonderen Charme dieses Romans macht der Schauplatz Kuba aus. Denn R. Clifton Spargo präsentiert mit der Darstellung des Inselstaates der 30er Jahre eine nostalgische Mischung aus Urlaubsflair, unbeschwertem Karibik-Lifestyle und kontrastreichem Miteinander von Einheimischen und Touristen, vorwiegend reiche Amerikaner und Europäer. Der Urlaubsalltag besteht aus Faulenzen, gutem Essen und Trinken, in den Tag hineinleben. Und für den Thrill sorgen Freizeitbeschäftigungen wie Stierkämpfe, Hahnenkämpfe oder Reitausflüge. Fast rechnet man als Leser damit, dass Ernest Hemingway auf der Bildfläche erscheinen wird, der im Übrigen ein mehr oder weniger guter Freund von F. Scott Fitzgerald war. 

Fazit 
R. Clifton Spargo hält sich in seinem biografischen Roman "Beautiful Fools" eng an die Fakten, die über das Ehepaar Fitzgerald bekannt sind. Dabei konzentriert er sich bei der Darstellung der Protagonisten auf deren Schwächen und menschlichen Abgründe, so dass das Bild des strahlenden Glamour-Paares in den Hintergrund rückt. Eine interessante Sichtweise! 

© Renie


Sonntag, 14. Februar 2021

Andrew Ridker: Die Altruisten

Quelle: Pixabay/alexas_fotos
Als Altruisten bezeichnet man eine Person, die uneigennützig und selbstlos handelt. Sie stellt ihr eigenes Wohlergehen hintenan und ist darauf fixiert, dem Wohl eines Anderen bzw. dem Gemeinwohl zu dienen, selbst, wenn es auf ihre eigenen Kosten geht.
In Andrew Ridkers Roman "Die Altruisten" geht es also um besagten Menschenschlag - sollte man meinen. Doch ich kann es drehen, wie ich will: eingefleischte Altruisten sind mir in diesem Roman nicht vor die Lesebrille gekommen. Oder doch?

Die Geschichte führt uns nach Amerika, genauer nach St Louis. Hier ist die Familie Alter auf Bestreben des Familienoberhaupts Arthur aus der Großstadt New York hergezogen. Das erfahren wir gleich in dem Epilog dieses Romans. Darin begegnet uns auch diejenige Person, die meine persönliche Heldin in diesem Roman ist: Francine, Ehefrau von Arthur und Mutter von Maggie und Ethan. Francine ist dem Ruf ihres Gatten gefolgt und hat eine gut dotierte Anstellung in New York aufgegeben, um ihrem Arthur den Karriereweg zu ebnen. Das mit der Karriere hat er sich zumindest so ausgemalt. Doch die Realität sieht anders aus: Herausgekommen ist eine befristete Stelle als Dozent an der Uni, die hoffentlich jedes Jahr verlängert wird. Dabei ist der grummelige Arthur, nicht besonders talentiert, wenn es darum geht Wissen zu vermitteln. Er selbst sieht das jedoch anders. Und so fristet der verblendete Arthur ein trübes Dasein an der Lehranstalt und redet sich sein Leben schön.
Quelle: Penguin Randomhouse
"'Wenn man sagt, dass eine Ehe eine gewisse Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Kompromissbereitschaft erfordert, ist oft nur einer gemeint.'"
Diejenige, die den Lebensunterhalt der Familie finanziert, ist Francine, die neben Haushalt und Kindererziehung noch so ganz nebenbei als Paartherapeutin arbeitet, wofür sie auch ein Händchen hat. Wäre sie in New York geblieben, wäre sie erfolgreich wie nur was. Aber was tut frau nicht alles für den Göttergatten. 
Oh. Da haben wir ihn ja, den Altruismus: völlig selbstlos stellt Francine ihre eigenen Interessen und Karriere hintenan, damit es der Familie und Ehemann gut geht. Francine ist meine Heldin!
Einige Jahre vergehen in der Geschichte. Leider müssen wir feststellen, dass Francine mittlerweile verstorben ist. Die beiden Kinder sind ausgezogen und haben den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen. Aber leider sind sie das Produkt der Erziehung ihrer Eltern, wobei blöderweise der väterliche Einfluss nachhaltigere Auswirkungen auf die Persönlichkeit der Kinder hat als der Einfluss der Mutter. Der schwule Ethan konnte es seinem Vater nie Recht machen. Da konnte Arthur noch so sehr auf toleranten Akademiker machen. In Wirklichkeit konnte er nie verknusen, dass sein Sohn Männern zugetan ist. Die Komplexe, die sich bei Ethan in seiner Kindheit und Jugend enwickelt haben, wird Sohnemann nicht los. Maggie ist die Zornige der beiden Geschwister. Ist Ethans Respekt vor seinem Vater immer noch so groß, dass er seine Ablehnung ihm gegenüber nicht offen zeigen kann, hält Maggie damit nicht hinter dem Berg. Sie ist auf Krawall gebürstet, sobald es um ihren Vater geht. Komischerweise ist sie ihrem Vater am ähnlichsten. Als junger Erwachsener hatte er eine Phase, die ihn dazu brachte, wohltätig aktiv zu werden. Dass es am Ende dabei nur um seinen beruflichen Erfolg ging, ist für ihn fast nicht erwähnenswert, schließlich zählt die Geste. Auch Maggie hat dieses Wohltätigkeitsgen. Bei ihr ist es allerdings ausgeprägter, als es bei ihrem Vater jemals war. Aufopferungsvoll bringt sie ihre Hilfsbereitschaft unters Volk, am liebsten unentgeltlich. Denn schnöder Mammon ist in ihren Augen moralisch verwerflich. Noch eine Altruistin!

Es ist nicht verwunderlich, dass Arthur auch nach dem Tod seiner Frau beruflich nicht die Kurve kriegt. Sollte er sich allein von seinem Gehalt ernähren müssen, hätte dies gravierende Folgen für seinen Lifestyle. Aus der Not heraus versucht er wieder den zerrütteten Kontakt zu seinen Kindern zu kitten, in der Hoffnung, dass diese ihm finanziell unter die Arme greifen und seine Welt wieder in Ordnung bringen. Ein altruistisches Familienmitglied muss also her, das sich völlig selbstlos um den alten Arthur kümmern wird, ungeachtet aller Beweggründe, die es gab, den Kontakt seinerzeit zu ihm abzubrechen.
"Fehlten ihm seine Kinder? Das war eine Frage, die so unerträglich war, wie mit aufgerissenen Augen in die Sonne zu starren. Sie war völlig falsch gestellt. Was ihm fehlte, war sein früheres Leben, und da hatten Kinder dazugehört. Seine Frau war tot. Sein Haus würde man ihm wegnehmen. Die Kinder waren alles, was noch übrig war. Die Kinder - und das unverhoffte Geld auf ihren Namen." 
Man fragt sich natürlich, welcher Teufel Francine damals geritten hat, dass sie sich auf solch einen unleidigen Menschen wie Arthur eingelassen hat, ihn heiratete, vermutlich geliebt, 2 Kinder bekommen und über Jahre mit zusammengelebt hat. Diese Frage lässt natürlich die Vermutung zu, dass Arthur nicht immer der Unsympath gewesen ist, als den ihn seine Kinder erlebt haben. Ein Stück weit wird man Arthur verstehen. Denn Andrew Ridker lässt Rückblenden und Erinnerungen in die Handlung einfließen, die Arthur und Francine in glücklicheren Zeiten zeigen. Aber da Liebe ja bekanntlich blind macht, sieht man Francine ihre Beweggründe, sich auf Arthur eingelassen zu haben, nach.

Diese Familie ist für mich das Negativbeispiel einer Bildungsfamilie. Die Eltern sind Akademiker, wovon der eine Teil ein wenig weltfremd ist. Sie versuchen ihren eigenen Ansprüchen an ein moralisch einwandfreies Leben gerecht zu werden. Francine hat dabei nie den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Nur Arthur entwickelt sich zum Moralapostel, der ganz groß darin ist, über die Ungerechtigkeit in der Welt und der Ungerechtigkeit, die ihm seiner Meinung nach persönlich zuteil wird, zu lamentieren.
What a man! Bleibt nur zu hoffen, dass die Äpfel diesmal ganz weit vom Stamm fallen.

Fazit:
Ein sehr unterhaltsamer amerikanischer Familienroman mit Antihelden, die eine Lebenseinstellung an den Tag legen, für die man sowohl Mitleid als auch Kopfschütteln übrig hat.

© Renie


Sonntag, 31. Januar 2021

Ann Petry: The Street

Der Roman "The Street" der afroamerikanischen Schriftstellerin Ann Petry ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur. Als der Roman 1946 erschien, wurde er zu einem Sensationserfolg. Denn der Roman, in dessen Mittelpunkt Themen wie Rassismus und Sexismus stehen, kam in einer Zeit heraus, als afroamerikanische Literatur bis dahin eine Männerdomäne war und Frauenliteratur in Amerika von weißen Autorinnen geschrieben wurde. Die Bürgerrechtsbewegung steckte zu diesem Zeitpunkt noch in ihren Kinderschuhen und entwickelte ihre Kraft erst Mitte der 50er Jahre. Der legendäre Marsch auf Washington (Martin Luther King, "I have a dream") geschah erst 1963. Fast 20 Jahre zuvor tauchte also eine farbige Autorin auf und schrieb einen Roman, in dem die weibliche Protagonistin eine Farbige ist, die nicht nur unter dem Rassismus der damaligen Zeit litt, sondern sich auch mit dem, in den 40er Jahren vorherrschenden Frauenbild der, von Männern dominierten Gesellschaft auseinandersetzen musste. 
Quelle: Nagel und Kimche
"Sie stieg aus und merkte erneut, dass sie erst wieder wirklich Mensch war, wenn sie Harlem erreichte und die feindseligen Blicke der weißen Frauen los war, die sie downtown und in der Subway anstarrten. Die berechnenden Blicke der weißen Männer los war, die sich durch ihre Kleider bis zu ihren langen braunen Beinen zu bohren schienen. ... Vor den fiebernd heißen Blicken hätte sie schreiend davonlaufen mögen."
Lutie Johnson, Protagonistin von "The Street", zieht in ein heruntergekommenes Mietshaus in der 116ten Straße in New Yorks Stadtteil Harlem. Zu dieser Zeit leben hier fast ausschließlich Afroamerikaner. Lutie ist Ende 20/Anfang 30 und alleinerziehende Mutter eines 8-jährigen Jungen, Bubb. Harlem ist übervölkert, Wohnraum ist knapp, Amerika befindet sich in einer Wirtschaftskrise. Ein Großteil der männlichen Bevölkerung ist arbeitslos, so auch Luties Ehemann. Wie viele Mütter und Ehefrauen auch, sucht sich Lutie eine Arbeit als Hausangestellte bei reichen Weißen, um ihre Familie am Leben zu erhalten. Während sie also für den Lebensunterhalt ihrer Familie sorgt, fängt ihr Mann ein Verhältnis mit einer anderen Frau an. Lutie verlässt ihn daraufhin.

Die alleinerziehende Mutter träumt von einem besseren Leben und greift nach jedem Strohhalm, der Aussicht auf mehr Geld bietet. Denn mehr Geld bedeutet eine Zukunft fernab der 116. Straße, in der sie mit ihrem Sohn nun gestrandet ist. Während Lutie also nach Möglichkeiten sucht, sich und ihrem Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen, wird sie immer wieder an Männern scheitern, die ihr zunächst Hoffnung geben, sich jedoch später als Enttäuschung erweisen. Aus anfänglichem Optimismus wird Mutlosigkeit. Lutie sieht ihre Träume dahinschwinden. Der Roman endet in einer Tragödie. 
"Es gab im Leben krasse Gegensätze, dachte sie, und wenn die Welt der Reichen abgeschottet blieb, damit Menschen wie sie selbst sie nur von außen begaffen konnten, ohne jemals auf Zutritt hoffen zu dürfen, dann wäre es besser, blind auf die Welt zu kommen, damit man sie nicht sehen, taub, damit man sie nicht hören, ohne Tastsinn, damit man sie nicht fühlen musste. Oder noch besser ohne Gehirn, damit man von alledem erst gar nichts mitbekam, damit man nie erfuhr, dass es sonnendurchflutete Orte gab, wo man gut aß und die Kinder in Sicherheit lebten."
In diesem Roman gibt es eine Handvoll Charaktere, welche die Handlung dominieren. Neben der Protagonistin Lutie gibt es noch eine zwei weitere Frauen. Eine davon ist Mrs. Hedges, die sich mit dem Leben in all seiner Schlechtigkeit in Harlem arrangiert hat. Als Überlebenksünstlerin hat sie sich eine Nische geschaffen, die ihr ein lukratives Einkommen sichert. Sie betreibt ein Bordell und steht unter dem Schutz der lokalen Verbrechergröße. Denn ohne männlichen Schutz hat eine Frau in Harlem schlechte Karten, wie Lutie feststellen muss. Die anderen maßgeblichen Charaktere in diesem Roman sind Männer., die sich als Fieslinge erweisen. Ann Petry hat ihnen Rollen zugeschrieben, die einem literarischen Thriller alle Ehre machen würden. Sie sind kriminell, sie sind verhaltensgestört, sie sind skrupellos und auf ihren Vorteil bedacht. Eine gutaussehende Frau wie Lutie wird als Sexobjekt betrachtet, das man um jeden Preis in seinen Besitz bringen möchte. 

Dieser Roman trägt nicht umsonst den Titel "The Street" - die Straße. Denn der Alltag in dieser Straße hat einen großen Anteil an der Handlung. Die einzelnen Kapitel beginnen oder enden gern mit einem Straßenbild. Das kann ein Windstoß sein, der Blätter über die Straße weht oder Kinder, die ausgelassen spielen. Diese Szenen wirken fast schon poetisch und stehen im Kontrast zu dem harten Kampf ums Überleben, den die ärmliche Bevölkerung, und insbesondere Lutie tagtäglich zu führen hat. Die Straße steht stellvertretend für den Rassismus und die daraus resultierende Armut. Wer einmal in die Fänge der 116. Straße geraten ist, kommt nicht so schnell von ihr los. So scheint die Straße ein eigenständiger Charakter in diesem Roman zu sein, was auch durch das stilistische Mittel der Personifizierung, welche Ann Petry an vielen Stellen anwendet, unterstrichen wird.

Anfangs habe ich den Roman als unspektakulär empfunden. Durch das gemächliche Sprachtempo baut sich zu Beginn nur wenig Spannung auf. Scheinbar wird die Geschichte einer alleinerziehenden farbigen Mutter erzählt, die trotz aller Hindernisse am Ende doch ihren Weg Richtung Happy End gehen wird. Der Roman wird zunächst aus der Sicht von Lutie erzählt. Doch mit dem sehr überraschenden Wechsel - übrigens einer von vielen in diesem Roman - der Erzählperspektive auf einen der männlichen Charaktere nimmt die Handlung Fahrt auf. Ab diesem Moment steigt die Spannung in diesem Roman stetig an, die Geschichte wird zu einer anderen als ursprünglich angenommen. Scheinbar fehlte bis zu diesem Zeitpunkt eine Prise Boshaftigkeit, die der Geschichte die besondere Würze verleiht und von jetzt an zu finden ist. Die Spannung hält sich bis zum Schluss und lässt die Handlung unaufhörlich auf ein trauriges Ende dieses Romans zu steuern. 

Fazit:

The Street ist als Anklageschrift gegen ein rassistisches Amerika der 40er Jahre zu verstehen. Einer Zeit, in der Farbige der Bodensatz der Gesellschaft waren, und farbige Frauen im Besonderen. Was scheinbar als optimistische Geschichte mit einem vorhersehbaren Handlungsverlauf beginnt, entwickelt sich schnell zu einem Roman voller Wut, Ungerechtigkeit und Traurigkeit. Ein Roman, der mich noch lange beschäftigen wird! Leseempfehlung!

© Renie


Sonntag, 20. September 2020

Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück

Quelle: Pixabay/cromaconceptovisual
Das Städtchen Holbrook, befindet sich in den USA, könnte in New York, Massachusetts, Arizona oder sonst wo liegen, könnte aber auch fiktiv sein. Was soll's? Viel interessanter ist, dass dieser Ort eine wichtige Rolle in Annette Mingels Buch "Dieses entsetzliche Glück" spielt, ist er doch das wesentliche Bindeglied zwischen unterschiedlichen Geschichten und unzähligen Protagonisten dieses Romans, der auch als Sammlung von Kurzgeschichten durchgehen könnte.

Dabei konzentrieren sich diese Geschichten auf das Gefühlsleben der Charaktere. Es sind Menschen, die auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück sind. Dabei haben sie mit Sorgen und Nöten zu kämpfen, die ihnen bei dieser Suche im Wege stehen. Ihre Sehnsüchte und Wünsche sind dabei nicht außergewöhnlich und unterscheiden sie nicht von denen anderer. Es sind also Menschen wie du und ich. Gerade diese Alltäglichkeit bewirkt, dass man als Leser sehr dicht an den Charakteren und ihren Problemen dran ist. Die Geschichten in diesem Roman durchzieht dabei eine wohltuende Melancholie, die mit der Stimmungslage der Protagonisten sowie ihren Sorgen und Nöten eine harmonische Einheit bildet. 
Quelle: Penguin
"Sie kannten einander seit mehr als dreißig Jahren, und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er seit Langem aufgehört hatte, sie schön zu finden. Nicht dass er ihr Aussehen nicht mochte. Es war ihm einfach gleichgültig geworden. Er hatte ihr von Zeit zu Zeit gesagt, dass er sie liebte - zumindest hoffte er das. Aber so wenig er sich schön fand, so wenig fand er sie schön. Es war ihm nicht mehr wichtig gewesen, und vielleicht, dachte er jetzt, war das ein Fehler."
Zunächst lässt sich kein Zusammenhang zwischen den einzelnen Personen erkennen. Sie kommen und gehen, hinterlassen mit ihren Geschichten beim Leser mal mehr, mal weniger Eindruck. Es ist schwierig, sich die Namen der Charaktere zu merken. Erst nach und nach zeichnen sich Verbindungen ab. Die loseste Verbindung ist dabei Holbrook, denn alle Protagonisten leben in diesem Ort oder haben hier gelebt. Die engsten Verbindungen sind Verwandtschaften. Dazwischen können Bekanntschaften, Freundschaften oder der Beruf eine Verbindung zwischen den einzelnen Personen herstellen.
Eine Besonderheit dieses Romans ist sicherlich der Perspektivwechsel. Jedes Kapitel und somit jede Geschichte wird aus der Sicht eines Protagonisten erzählt. Hinzu kommt eine Verschiebung der Wahrnehmung. Lernt man die Protagonisten zunächst aus der, ihnen eigenen Sichtweise kennen, begegnet man ihnen an späterer Stelle aus der Sicht eines weiteren Protagonisten wieder, das kann als Nebendarsteller in einem anderen Kapitel sein oder auch als Gesprächsgegenstand anderer. Man wird als Leser feststellen, dass Eindrücke, die man sich von einem Protagonisten geschaffen hat, an späterer Stelle wieder revidiert werden müssen. Denn selten stimmen die Selbstwahrnehmung eines Protagonisten mit demjenigen Bild überein, das andere von ihm haben. Wie im echten Leben!

Fazit:
Die Kombination aus "Alltäglichen Geschichten, die das Leben schreibt" sowie die wohltuende Melancholie als tragende Stimmung dieses Romans, haben bei mir für Tiefenentspannung beim Lesen gesorgt. Ich konnte herrlich von meinem Alltag abschalten.
Leseempfehlung!

© Renie




Freitag, 28. August 2020

Clemens Berger: Der Präsident

Quelle: DonkeyHotey - Donald Reagan, CC BY-SA 2.0 
Vom Tellerwäscher zum Millionär ...
Vom Schauspieler zum US-Präsidenten ...
Vom Polizisten zum Double des  US-Präsidenten ...

In Clemens Bergers satirischem Roman "Der Präsident" geht es um den amerikanischen Traum. Ich kenne zwar keinen Tellerwäscher, der es zum Millionär gebracht hat. Doch ich kenne einen Schauspieler, der es zum US-Präsidenten gebracht hat: Ronald Reagan. Und wie so viele Promis, hatte Mr. President ein Double: Julius Koch aus Österreich, der als Kind mit seiner Familie in die USA auswanderte. Clemens Berger erzählt die Geschichte dieses Mannes, der in diesem  Roman den Namen Jay Immer trägt.
Jay Immer lebte den amerikanischen Traum. Nach der Auswanderung in die USA im Jahre 1929 baute sich die Familie mit Anstand, Fleiß und Bescheidenheit ein Leben auf. Jay ist Polizist und wurde Amerikaner durch und durch. Er hat eine eigene Familie gegründet und lebt mit Ehefrau Lucy in einem Häuschen in Chicago. Tochter Barbara ist mittlerweile bereits erwachsen. Nun steht er mit 55 Jahren kurz vor der Pensionierung und freut sich auf den Ruhestand. Doch das kann nicht alles gewesen sein. Denn das Leben hält für Jay noch eine Überraschung bereit. Da Jay dem amtierenden Präsidenten Ronald Reagan verblüffend ähnlich sieht, wird er bei einer Agentur als Präsidenten-Double unter Vertrag genommen. Wäre Lucy nicht gewesen, die Jays Bewerbung ohne sein Wissen an die Agentur geschickt hat, würde er vermutlich einem unaufgeregten Ruhestand entgegensehen. Doch nichts ist mit der Ruhe.
"Er eröffnete Automessen, pries neue Gesichtscremes an und ließ sich mit Menschen ablichten, die bis zu hundert Dollar ausgaben, um sich in eine lange Schlange für ein Foto mit jenem Mann einzureihen, den man unter anderen Umständen für Ronald Reagan gehalten hätte. Lokalpolitiker ließen sich die Fotos rahmen, Unternehmer hängten sie an ihre Bürowände, Menschen trieb es Tränen in die Augen, wenn er ihnen zuwinkte."
In seiner Funktion als "der andere Präsident" tingelt er während Reagans Amtszeit von Engagement zu Engagement und vertritt seinen Doppelgänger: Geschäftseröffnungen, Hot Dog Wettessen, Firmenfeiern, Fototermine etc. etc. etc. Der Job ist lukrativ und ermöglicht Lucy und ihm ein Leben in bescheidenem Luxus. Doch etwas geschieht mit Jay. Hat ihn anfangs noch die Ähnlichkeit mit Reagan gestört, schlüpft er mit der Zeit immer mehr in die Rolle des US-Präsidenten. In seinem persönlichen Sprachgebrauch wird sein Häuschen in Chicago zum Weißen Haus, Lucy ist die First Lady (wenn auch die andere). Er kleidet sich für einen Präsidenten angemessen und genießt die Vergünstigungen, die das vermeintliche Präsidentenamt mit sich bringt. Jay wird überall erkannt, ob als der Echte oder der Andere lässt sich im Verlauf der Handlung nicht mehr bestimmen. Die Menschen sehen, was sie sehen wollen. Sein Alltag ist vom Händeschütteln, Schulterklopfen, Lächeln und dem Posieren vor der Kamera geprägt.
Politische Gruppierungen, Menschenrechtler, Umweltaktivisten ... alle versuchen, ihn für ihre Zwecke einzuspannen. Anfangs gelingt es Jay, sich gegen diese Versuche zu behaupten. Doch mit der Zeit entwickelt er, der sein Leben lang völlig unpolitisch war, ein politisches Gewissen. Reagan ist daran nicht unschuldig. Denn während seiner 2 Amtszeiten hat er reichlich umstrittene Entscheidungen getroffen, die bei seinem Double, je länger dieses den anderen Präsidenten spielt, für Unwillen sorgt. Jay sieht sich in der moralischen Pflicht, die eine oder andere Korrektur vorzunehmen.
"Jay kannte kaum jemanden, der an etwas glaubte und danach handelte. Reagan glaubte nur an sein Bild in den Medien. Er hatte den Menschen Gefühle verkauft. Die strahlende Stadt auf dem Hügel; ein neuer Morgen für Amerika. Aber er betrieb eine Politik gegen die Menschen, gegen den Planeten und für ein paar steinreiche Unternehmer."
Der österreichische Autor Clemens Berger hat Jays Entwicklung vom aufrechten amerikanischen Staatsbürger, der nie im Mittelpunkt stehen wollte, zum "anderen Präsidenten" sehr detailliert herausgearbeitet. Anfangs haben wir es mit einem Protagonisten zu tun, dem etwas Spießiges anhaftet, dem die Pfege seines Gartens und seines Autos extrem wichtig sind. Ein Mann, zu dem der Beruf des Polizisten perfekt passt. Er ist der Hüter von Sitte, Moral und Anstand. Werte wie Fleiß und Bescheidenheit bestimmten sein bisheriges Leben. Bloß nicht negativ auffallen, am besten gar nicht auffallen. Er hätte sich nie zugetraut, die Rolle des Ronald Reagan zu leben, wenn seine Ehefrau ihn nicht zu seinem "Glück" gezwungen hätte. Anfangs versteckt er sich noch hinter der Rolle des händeschüttelnden Staatsmannes. Doch je mehr positives Feedback er erhält, umso besser fühlt er sich in dieser Rolle aufgehoben. Er wird selbstbewusst und mutig, entwickelt ein eigenes politisches Gewissen (mit freundlicher und berechnender Unterstützung anderer) und ist bemüht, für seine Überzeugungen einzustehen. 
Clemens Berger betrachtet in diesem Roman die Amtszeit von Ronald Reagan. Er hält sich dabei an die historischen Fakten und gewährt dem Leser einen Auffrischungskurs in Sachen amerikanischer Geschichte und den Einfluss der Reagan-Ära auf das Weltgeschehen. Dabei zieht Berger den amerikanischen Way of Life durch den Kakao. Das gelingt ihm, indem er seinen österreichisch stämmigen Protagonisten amerikanischer als jeden Amerikaner wirken lässt. Jays Handlungen wirken teilweise völlig überzogen, so dass dem Leser in diesem Roman ganz viel Situationskomik begegnet. 
"Vor allem kannte er seine Landsleute. Sie liebten die Show. Sie liebten Berühmtheiten. Sie liebten den Schein. Und doch hatten nicht wenige, selbst wenn er den Mund gehalten hatte, den Schein für Wirklichkeit gehalten. Sie waren nach Hause gekommen und hatten Freunden und Familien erzählt, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten begegnet zu sein."
Ich habe diesen satirischen Roman, der auf einer wahren Geschichte basiert, mit großem Vergnügen gelesen. Denn hier wird die Oberflächlichkeit der amerikanischen Gesellschaft sowie ihr Streben nach Schein und Sein auf sehr lustige Weise angeprangert. Ungewöhnlich ist dabei der Protagonist, der aufgrund eines kuriosen Zufalls in die Rolle seines Lebens gedrängt wird und dabei versucht, nach seinen eigenen Regeln zu spielen, was ihm am Ende mehr oder weniger gelingt.  

Leseempfehlung!


© Renie