Samstag, 27. Oktober 2018

Tom Rachman: Die Gesichter

Quelle: Pixabay/NadineDoerle
Kind oder kein Kind? Das ist eine Frage, die sich jeder irgendwann mal in seinem Leben stellen wird. Bereichern Kinder das Leben, oder schränken Kinder das Leben ihrer Eltern ein? Welche Opfer müssen Eltern bringen und sind diese Opfer  gerechtfertigt?
Als Tom Rachman den Roman "Die Gesichter" geschrieben hat, war er kinderlos. Und ebendiese Fragen haben ihn beschäftigt. Sowohl Elternschaft als auch Autoren-Dasein fordern Opferbereitschaft und Hingabe. Was ist, wenn nicht genügend davon für beide Rollen vorhanden ist? Was ist, wenn die Vaterrolle zugunsten der schriftstellerischen Karriere auf der Strecke bleibt, und somit auch die Zuwendung für das Kind? Was macht das mit dem Kind?
In der Vater-Sohn-Beziehung, die im Mittelpunkt seines Romanes "Die Gesichter" steht, hat Tom Rachman diese Ausgangssituation für seine Protagonisten zugrunde gelegt.
Quelle: dtv

Bear Bavinsky ist ein gefeierter Maler und eine Naturgewalt. Er ist charismatisch, humorvoll und strotzt nur so vor Selbstbewusstsein. Und ganz nebenbei macht er sich die Welt, wiedewiedewie sie ihm gefällt. Und ihm gefallen Frauen. Viele davon. Monogamie passt nicht in sein Lebenskonzept. Im Laufe der Jahre wird er es auf 17 Kinder bringen, von mehreren Frauen, mit denen er verschiedene Familien gründet, oft nacheinander, aber oft auch zeitgleich. Eines dieser Kinder ist Pinch, eigentlich Charles. Mit Pinch und Ehefrau Natalie, lebt Bear in Rom. Die Geschichte setzt 1955 ein, als Pinch 5 Jahre alt ist. Natalie ist deutlich jünger als ihr Mann. Als sich die beiden kennenlernten, war sie eine junge ambitionierte Künstlerin, die Töpferei als Kunstform betrieben hat. Mittlerweile vernachlässigt sie ihre Kunst, um sich um Bear und Pinch zu kümmern. Der charismatische Bear erdrückt die beiden mit seiner Präsenz. Er steht immer und gern im Mittelpunkt, Natalie ist dabei eine Randfigur, "nur" seine Ehefrau und ist daher für die Kunstszene als Künstlerin nicht existent. Pinch leidet unter dem großen Ego seines Vaters, er weiß es nur noch nicht. Bereits mit 5 Jahren ist er ständig auf der Suche nach Anerkennung durch seinen Vater, die er selten bekommt.
Dieses Streben nach Anerkennung wird auch nie nachlassen. Zunächst versucht Pinch in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, lässt jedoch seine Malversuche bleiben, als er ihn nicht damit beeindrucken kann. Da nützt auch nicht, dass Natalie ihm Talent bescheinigt. Das Einzige, was zählt, ist Bears Anerkennung, die Pinch jedoch nicht erhält.
"Ich konnte kein Maler sein, und jetzt darf ich nicht mal Kritiker werden. Ich bin ein Angeber, ein Simulant, ein Versager."
Der Roman ist in mehrere Abschnitte unterteilt, die chronologisch aufeinanderfolgen, jedoch in unregelmäßigen Zeitsprüngen.
Hier begleitet der Leser Pinch - der Roman ist aus dessen Sicht geschrieben - ein Leben lang, bis hin zu dessen Tod.
Und ein Leben lang sucht Pinch nach Anerkennung bei seinem Vater. Als Maler konnte er ihn nicht überzeugen. Um mit der Kunstszene verbunden zu bleiben, strebt er ein Kunststudium an, zudem er jedoch nicht zugelassen wird. Am Ende bleibt ihm ein Leben in der Mittelmäßigkeit. Er wird Fremdsprachen unterrichten - wieder nichts, mit dem er bei seinem Vater punkten kann.

Pinch war schon immer ein Eigenbrötler. Schüchtern, ohne jegliches Selbstvertrauen, hat er von klein auf Schwierigkeiten, sich auf Menschen einzulassen, wozu nicht nur die Frauen zählen. Daher lassen sich diejenigen Personen, die er auch als Erwachsener als Freunde bezeichnen kann, an einer Hand abzählen. Immer wieder versucht er in seiner Rolle als Sohn eines berühmten Vaters bei anderen Aufmerksamkeit zu erregen. Mit den Jahren findet er sich mit seinem durchschnittlichen Leben ab, wobei ihm auch immer wieder seine regelmäßigen Ausflüge in die, für sich wiederentdeckte Malerei helfen. In diesen Momenten verliert er sich und lässt sein gewöhnliches Leben für kurze Zeit hinter sich. Aber immer treibt ihn die Frage um, ob seine künstlerischen Fähigkeiten vor den Augen des Vaters bestehen können.
"Um als Künster Erfolg zu haben, braucht es ein seltenes Zusammentreffen von Persönlichkeit, Talent und Glück - alle in eine einzige Lebensspanne gebündelt. Was für ein Typ mein Dad doch war! Pinch sagt sich, dass er vielleicht die nötige Fertigkeit besessen hätte, doch das allein genügt nicht: Ihm fehlt es an Persönlichkeit. Die Kunstwelt wird ihm immer verschlossen bleiben."
Tom Rachman hat mit "Die Gesichter" einen sehr berührenden Roman geschrieben. Anfangs konzentriert er sich auf die Naturgewalt Bear und stimmt den Leser darauf ein, welch ein schwieriges Vater-Sohn-Verhältnis sich hier anbahnen wird. Nach dieser Einstimmung wird die Geschichte aus der Sicht von Pinch erzählt. Es tut beim Lesen fast schon weh, wenn Pinch seine Bemühungen um Anerkennung und die damit verbundenen Enttäuschungen schildert. Der Verlauf der Handlung schildert Pinchs Leben als Erwachsener. Bear tritt fast in den Hintergrund. Aber nur fast. Denn auch wenn er keinen großen Anteil an der Handlung hat, ist sein übermächtiger Einfluss auf Pinch trotzdem spürbar. Mit den Jahren passiert nicht viel im Durchschnittsleben von Pinch. Sobald man als Leser jedoch meint, dass Pinch sich mit seinem "gewöhnlichen" Leben abgefunden hat, nimmt die Handlung eine Entwicklung an, die mehr als überraschend ist. Auf einmal entsteht ein Sog, der mitreisst, verblüfft und fesselt. Es scheint, dass sich Pinch am Ende seines Lebens von dem Einfluss seines Vaters befreien wird, und er Anerkennung erhält, allerdings nicht in der Form, wie er und der Leser es erwartet haben. Ein sehr versöhnliches Ende, das den Leser mit einem guten Gefühl zurücklässt.
"Kritiker nennen irgendwas wichtig, bis es wichtig ist, was sie selbst dann wiederum wichtig macht."
Besonders und hochinteressant sind die Einblicke die Tom Rachman in die Kunstszene gewährt. Er beschreibt diese Gemeinschaft fernab von jeglicher Künstlerromantik. Hier wird deutlich, dass die Kunstszene eine Tummelplatz für Über-Egos und Eitelkeiten ist. Und am Ende geht es immer nur ums Geld.

Fazit:
Ganz großes Erzähl-Kino. Ein sehr persönlicher Roman, der berührt, mitreisst und überrascht.
Leseempfehlung!

© Renie






Über den Autor:
Tom Rachman, geboren 1974 in London, wuchs in Vancouver auf. Er war Auslandskorrespondent der Associated Press in Rom, die ihn u. a. nach Japan, Südkorea, Ägypten und in die Türkei entsandte. Später arbeitete er als Redakteur des International Herald Tribune in Paris. Rachmans erster Roman ›Die Unperfekten‹ wurde gleich nach Erscheinen zu einem internationalen Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in London. (Quelle: dtv)






Dienstag, 23. Oktober 2018

Wolf Wondratschek: Selbstbild mit russischem Klavier

Quelle: Pixabay/StockSnap
Eine Zufallsbekanntschaft aus einem Wiener Kaffeehaus - das ist Suvorin. Der Russe, früher ein berühmter Pianist, ist heute alt, verarmt und vergessen. Die Jahre seines Erfolges liegen schon lange zurück. Suvorin ist einsam. Seine Frau, die ihn ein Leben lang begleitet hat, ist vor ein paar Jahren gestorben. Suvorin ist krank. Seine Vergangenheit als erfolgreicher Pianist und das damit verbundene exzessive Leben fordern mittlerweile ihren Tribut.
Suvorin hat Geschichten zu erzählen. Die Geschichte seines außergewöhnlichen Lebens und die Geschichte seiner Musik.
Diese Geschichten erzählt Suvorin in mehr oder weniger regelmäßigen Treffen mit dem Ich-Erzähler, einem Schriftsteller. Von diesen Treffen und Suvorins Erinnerungen handelt Wolf Wondratscheks Roman "Selbstbild mit russischem Klavier".
Da saß ein heimatloser alter Russe, dem so gut wie jedes Vergnügen von den Ärzten verboten worden war, dem sie Gymnastikstunden verschrieben und, in seinen Augen eine noch schlimmere Zumutung, das Schwimmen in einer Badeanstalt empfohlen hatten, und gönnte sich eine Erinnerung an das Leningrad seiner Jugend, an das von Dichter geschaffene Unvergängliche, Verse einer in dunklen Farben schmelzenden Poesie, gefährlich schön und so, wie er sie aufsagte, selbst Musik.
Ist es anfangs Mitleid, dass den Schriftsteller zuhören lässt, wächst mit der Zeit sein Interesse an Suvorins Leben. Mit steigendem Interesse wächst die Zuneigung für diesen außergewöhnlichen Mann. Und am Ende verbindet die beiden Männer eine Beziehung, die der einer Freundschaft am nächsten kommt.
Quelle: Ullstein Buchverlage

Der russische Pianist berichtet von seinen Anfängen in den 60er Jahren, von den Restriktionen und der Kontrolle durch das kommunistische System in der Sowjetunion, von seiner Ehe und natürlich von seiner Musik. Dabei erklärt er seine Leidenschaft für die Musik und welche Bedeutung diese für sein Leben hat. Seine tiefsinnigen Ausführungen zur Musik sind ganz besondere Momente in diesem Roman. Denn sie nehmen fast schon philosophische Ausmaße an. So viel ist klar. Surovin hat keine Musik gemacht, weil ihm der Erfolg viel bedeutete. Stattdessen liegen seine Motive tiefer begründet.

Äußerlich mag Surovin den Anschein erwecken, dass er ein gebrechlicher alter Mann ist. Aber geistig ist er jung geblieben. Er genießt es, von seinem Leben zu berichten. Einmal angefangen ist er fast nicht mehr zu bremsen. Seine Erinnerungen werden zu Monologen, in denen er sich ungern unterbrechen lässt. Und zwischendurch blitzt immer wieder der Schalk in ihm durch, da er sich genüsslich über seine Zeitgenossen und Erlebnisse mit ihnen lustig macht.
Was für eine schöne Sprache das Deutsche sein kann, wenn man es nicht brüllt. Lauschen! Was für ein Wort! Da ist alles drin, die einen Menschen ganz erfüllende Aufmerksamkeit, das Intime, man ist mit dem, was man hört, allein. Wie man Vögeln lauscht, dem Atem eines schlafenden Kindes.
Wolf Wondratschek schildert das Aufeinandertreffen der beiden Männer in einer sehr poetischen Sprache, die eine sehr melancholische, fast schon traurige Stimmung vermittelt. Das Buch lässt sich jedoch nicht leicht lesen. Wörtliche Rede lässt sich kaum als solche erkennen, da der Autor auf Anführungszeichen verzichtet. Daher ist es schwierig, zwischen den Aussagen von Suvorin und denen des Ich-Erzählers zu unterscheiden. Hier ist beim Lesen 100%ige Aufmerksamkeit gefragt. Lässt die Konzentration für einen Moment nach, läuft man Gefahr, den Faden zu verlieren.
Surovin hat ein eindrucksvolles Leben geführt, wie seine Erzählungen beweisen. Und dennoch stellen sich für mich mit der Zeit einige Längen in dem Roman ein. Es scheint, ich bin einem Suvorin-Erinnerungs-Overflow erlegen, der meine Aufmerksamkeit am Ende in die Knie gezwungen hat. Schade.

Fazit:
Eine großartige Geschichte, die der Autor sehr stimmungsvoll umsetzt. Sein Sprachstil ist eigenwillig. Leider tauchen zum Ende einige Längen auf, so dass ich diesen Roman nur bedingt empfehlen kann.

© Renie



Über den Autor:
Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Von 1964 bis 1965 war er Redakteur der Literaturzeitschrift Text und Kritik. Seit 1967 lebt er als freier Schriftsteller in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick; Ende der Achtzigerjahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Neben München ist seit Mitte der 1990er-Jahre Wien sein zweiter Wohnsitz, wo er gegenwärtig vorwiegend lebt. (Quelle: Ullstein Buchverlage)



Donnerstag, 18. Oktober 2018

Jessie Burton: Das Geheimnis der Muse

Quelle: Pixabay/Mampu
Eine Geschichte um zwei Frauen, einem Gemälde, dem Spanischen Bürgerkrieg und dem London der 60er Jahre ... Jessie Burton erzählt in ihrem Roman "Das Geheimnis der Muse" ebendiese Geschichte in 2 Handlungssträngen auf unterschiedlichen Zeitebenen. Wie der Titel schon sagt, geht es hierbei um ein Geheimnis, dessen Auflösung mich während der kompletten Lektüre beschäftigt hat.

Im Andalusien der 30er Jahre trifft die talentierte, doch verkannte Malerin Olive Schloss auf den Künstler und Revolutionär Isaac Robles. Sie ist Engländerin, 19-jährig, und lebt mit ihren Eltern zurückgezogen auf einem Landgut in der Nähe des Dorfes Arazuelo. Die Familie ist wohlhabend. Vater Harold ist Kunsthändler. Den einzigen Kontakt zu den Einheimischen haben sie über das Geschwisterpaar Teresa und Isaac Robles. Teresa kümmert sich um den Haushalt der Familie Schloss. Olive hält ihr Talent unter Verschluss. Einzig die beiden Geschwister kennen Olives Geheimnis. Olive lebt zu einer Zeit, in der  die Malerei eine Männerdomäne ist und Frauen jegliches Talent für die Kunst abgesprochen wird. Zu den Ignoranten zählt auch Olives Vater, der sich lieber von den Malkünsten von Isaac verzaubern lässt und ihn als seine Entdeckung feiert. Er vermittelt Isaacs Bilder an die weltweit bekannte Kunstsammlerin Peggy Guggenheim.
"Er hatte immer die Meinung vertreten, dass Frauen natürlich einen Pinsel in die Hand nehmen und malen könnten, aber sie hätten einfach nicht das Zeug dazu, Kunst zu schaffen."
Quelle: Suhrkamp/Insel Verlag
Der spanische Bürgerkrieg macht auch vor Arazuelo nicht Halt und hat katastrophale Auswirkungen auf das Leben der Protagonisten.

Etwa 30 Jahre später, im London der Swinging Sixties fängt Odelle Bastien, frisch aus Trinidad eingetroffen, eine Stelle in dem Londoner Skelton Institute of Art an. Sie hat den Traum, Schriftstellerin zu werden. Ihre Vorgesetzte Marjorie Quick ist eine charismatische alte Dame, sehr stilvoll, vornehm und resolut. Eines Tages taucht im Skelton ein Bild auf, das Quick völlig aus der Bahn wirft. Mit der Zeit wird klar, dass es sich hierbei um das verschollene Gemälde "Rufina und der Löwe" von Isaac Robles handelt.
Man ahnt, dass Quick einen Bezug zu dem damaligen Geschehen in Andalusien hat. Nur welcher, lässt sich nicht so leicht herausfinden. Die Autorin Jessie Burton lässt den Leser im Unklaren, lässt aber viel Platz für Spekulationen, die auch durch den stetigen Wechsel zwischen den beiden Zeitebenen gefördert werden. Erst zum Ende wird klar, welche Rolle Quick damals gespielt hat, und was es mit dem Gemälde auf sich hat.
"'... Spaniens Vergangenheit ist ein Stück Fleisch, das am Haken des Metzgers verwest. Als der Bürgerkrieg zu Ende war, verbot man den Menschen, zurückzublicken: Sie sollten die Schmeißfliegen nicht sehen, die um das Fleisch schwirrten. Und bald merkten die Spanier, dass sie gar nicht mehr dazu imstande waren, den Kopf zu drehen, und auch, dass es keine erlaubte Sprache gab, ihren Schmerz auszudrücken. Aber die Bilder wenigstens sind noch da. Guernica, die Werke von Dalí und Miró - und jetzt Rufina und der Löwe, eine Allegorie Spaniens, eines wunderschönen Landes, das im Krieg mit sich selbst ist, das seinen Kopf in den Händen hält, das dazu verdammt ist, bis in alle Ewigkeit von Löwen gejagt zu werden.'"
Bei diesem Roman punkten die Geschichte und der Aufbau. Die mysteriöse Geschichte um das Gemälde ist faszinierend. Der stetige Wechsel zwischen den beiden Zeitebenen ist kurzweilig. Hinzu kommen Charaktere, die mit Stärken und Schwächen gezeigt werden. Die Schwächen geben allen Grund zur Kritik an der jeweiligen Person. Trotzdem wird es keine Parteiname für einzelne Charaktere geben. Das ist ungewöhnlich, neigt man als Leser doch dazu, seine Gunst je nach Sympathie und Antipathie zu verteilen. Doch das wird hier nicht passieren.
Wer mit literarischem Anspruch an den Sprachstil und dieses Buch herangeht, ist hier fehl am Platze. Die Sprache wird bei diesem Roman zur Nebensache. Doch die Autorin sorgt mit einem geschmeidigen und lebhaften Sprachstil dafür, dass ein guter Lesefluss garantiert ist, und man sich als Leser voll und ganz von der Geschichte verzaubern lassen kann.

Fazit:
Fesselnde Unterhaltung durch eine faszinierende Geschichte! Daher Leseempfehlung!

© Renie



Über die Autorin:
Jessie Burton, 1982 in London geboren, hat Englisch und Spanisch in Oxford sowie Schauspiel an der Central School of Speech and Drama studiert. Ihr erster Roman Die Magie der kleinen Dinge (2014) wurde mehrfach ausgezeichnet, derzeit wird er von BBC One fürs Fernsehen verfilmt. 2016 erschien ihr neuer Roman Das Geheimnis der Muse. Ihre Bücher wurden in 38 Sprachen übersetzt und sind internationale Bestseller. Jessie Burton lebt in London und arbeitet an ihrem dritten Roman. Außerdem erscheint im Herbst 2018 ihr erstes Kinderbuch. (Quelle: Suhrkamp/Insel Verlag)

Dienstag, 16. Oktober 2018

Mick Herron: Slow Horses

Quelle: Pixabay/Hans
Auch wenn der Romantiker unter den Spionage-Affinen es gerne glauben möchte ... aber nicht jeder britische Geheimagent ist ein knackiger James Bond. Denn es gibt da die "Slow Horses". Das sind jene Agenten, die im Dienst an der britischen Krone versagt haben, in welcher Form auch immer. Einem Geheimagenten kündigt man nicht. Die Versager unter den Geheimdienstlern werden strafversetzt und haben sich fortan mit äußerst anspruchslosen und stumpfsinnigen Tätigkeiten rumzuschlagen, i. d. R. am Schreibtisch. In Mick Herrons Roman "Slow Horses" geht es um eben diese Agenten.
Abgesehen von den anspruchslosen Aufgaben, stellt man den Slow Horses einen Arbeitsplatz zur Verfügung, der an Schäbigkeit nicht zu überbieten ist. Strafe muss sein.
"'... In Slough House zu sitzen bedeutet, nicht mehr gebraucht zu werden.'"
Die Truppe, um die es in diesem Roman geht, ist im Slough House untergebracht (slough = Sumpf). Hierbei handelt es sich um ein unscheinbares Gebäude mitten in London. Die Büroräume sind deprimierend. Das Interieur ist muffig und angeranzt. Hier versumpfen fünf Männer und drei Frauen unter der Führung von Jackson Lamb in ihrem langweiligen Arbeitsalltag. Im Laufe der ersten Kapitel erfährt der Leser, aus welchem Grund sie den Slow Horses zugeordnet wurden. Einzig die Vorgeschichte von Jackson Lamb bleibt zunächst im Unklaren. Jackson Lamb ist ein alter erfahrener Geheimagent, der mit seinem schlechten Aussehen, seiner mangelnden Körperhygiene sowie seinen katastrophalen Umgangsformen kokettiert. Er ist ein Chef, wie ihn keiner haben möchte, auch wenn er seine Mitarbeiter nur selten bei der Arbeit stört.
Der größte Teil der Slow Horses hat resigniert und sich mit dem Dasein in der Versenkung abgefunden. Sie sehen sich selbst als Verlierer, die keinen Grund haben, ein bisschen Selbstbewusstsein an den Tag zu legen. Nur zwei von ihnen wollen nicht akzeptieren, dass sie ausrangiert wurden.
Quelle: Diogenes
"Es war das Starren auf den Computerbildschirm. Dafür war sie eigentlich nicht zum Secret Service gegangen, aber darauf war es hinausgelaufen. Ja, sie hatte das Gefühl, als wäre sie dort gestrandet, als hätte sie keine andere Zukunft als jene, die jeden Morgen hinter der Tür mit der abblätternden Farbe von Slough House auf sie wartete und sich endlos, Minute um Minute, hinzog, bis sich die Tür beim Hinausgehen wieder hinter ihr schloss. Und die Zeit dazwischen verbrachte sie mit der Wut über die Ungerechtigkeit der Welt."
Anfangs lässt man sich von dem Autor Mick Herron tatsächlich einlullen. Er beschreibt seine Protagonisten und ihren Werdegang - zugegebenermaßen - auf sehr humorvolle Weise. Doch fragt man sich, was "Slow Horses" zu einem Agentenroman macht. Als das wird er schließlich verkauft.
Und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse und eine Entführung bestimmt das Geschehen. Die Handlung nimmt mächtig an Fahrt auf und wird sehr sehr spannend.
Man ahnt es, die Slow Horses werden aus ihrer Lethargie gerissen und schalten sich in die Aufklärung des Verbrechens ein. Und am Ende wird alles gut. Die Guten gewinnen und die Bösen haben das Nachsehen.

Doch das wäre zu einfach und hätte die Serie um das Ober-Slow Horse Jackson Lamb, die aus diesem Roman entstanden ist, nicht zu dem gemacht, was sie in England ist: ein unglaublicher Erfolg und eine mehrfach ausgezeichnete Agentenserie, deren Verfilmung geplant ist.

Denn Mick Herron macht aus einem Krimi, bei dem es um eine Entführung geht, ein Psycho- und Intrigenspiel innerhalb des britischen Geheimdienstes. Die beteiligten Abteilungen arbeiten gegeneinander. Handlungen und Entscheidungen werden von den Ambitionen einzelner Geheimdienststrategen bestimmt. Und mittendrin ist Jackson Lamb mit seinen Slow Horses, die als Versager ihrer Aussenseiterrolle mehr als gerecht werden. Das macht Spaß, insbesondere wenn man feststellt, dass selbst, wenn ein Gaul lahm ist, er immer noch ein cleverer Gaul sein kann.
"Irgendjemand muss immer bezahlen. Schau zu, dass nicht du es bist."
Mick Herron erzählt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Das ist oft verwirrend, zumal er gerade zu Beginn eines neuen Abschnittes den Leser im Unklaren lässt, welcher der Protagonisten gerade die Handlung bestimmt. Darüberhinaus hat er die gemeine Angewohnheit, Abschnitte zu beenden, indem er den Ausgang einer Szene offen lässt und erst seitenweise später für Auflösung sorgt. Dadurch wird man als Leser durch die Handlung getrieben, schließlich will man wissen, ob sich Vermutungen, die man entwickelt hat, am Ende bewahrheiten.

Fazit:
Ein Geheimagenten-Roman, mit Geheimagenten, die so gar nicht dem Geheimagenten-Klischee entsprechen. Eine Geschichte, die aufgrund der Charaktere sehr viel Spaß macht und durch seine Spannung überzeugt. Ich hoffe, dass es noch weitere Romane über die Slow Horses geben wird. Ich bin Fan geworden.

© Renie



Über den Autor:
Mick Herron, geboren 1963 in Newcastle-upon-Tyne, studierte Englische Literatur in Oxford, wo er auch lebt. Seine in London spielende ›Jackson-Lamb‹-Serie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem ›CWA Gold Dagger for Best Crime Novel‹, dem ›Steel Dagger for Best Thriller‹ und dem ›Ellery Queen Readers Award‹. (Quelle: Diogenes)

Mittwoch, 10. Oktober 2018

Christian Dittloff: Das Weiße Schloss

Quelle: Pixabay/DikaRukmana
Vor 30 Jahren wurde Louise Brown, das erste Kind aus der Retorte, geboren. Seitdem sind Millionen von Kindern weltweit mit Hilfe der Reproduktionsmedizin auf die Welt gekommen. Allein hier in Deutschland kommen jedes Jahr zwischen zehn- und 13tausend Kinder zur Welt, die außerhalb des Mutterleibs gezeugt wurden. (Quelle: Deutschlandfunk, 2016)

Was vor 30 Jahren für eine Sensation gesorgt hat, ist heutzutage Alltag geworden. Die Möglichkeiten, den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen, sind vielfältig geworden.

Eine dieser Möglichkeiten bietet die Grundlage für Christian Dittloffs Dystopie "Das Weiße Schloss", indem ein Ehepaar von einer Leihmutter ein Kind austragen lässt. Die Vermittlung dieser Leihmutter ist durch die fiktive Institution "Das Weiße Schloss" erfolgt. Hier müssen sich Eltern "bewerben", um den Service, den "Das weiße Schloss" bietet, in Anspruch zu nehmen. In diesem Institut erfolgt die ärztliche Betreuung. Gleichzeitig lebt hier die ausgewählte Leihmutter während der Schwangerschaft - zusammen mit zahlreichen anderen Leihmüttern. Denn das Geschäft boomt.
"'Auf dem Weißen Schloss sind wir uns darüber im Klaren ..., dass wir mit jeder Empfängnis vor einer wichtigen und komplexen Aufgabe stehen. Die assistierte Empfängnis und die Tatsache, dass das Kind der intendierten Eltern durch eine Tragemutter zur Welt gebracht wird, die es sogar im Alltag erzieht, löst traditionelle Familiengrenzen auf. ... Es ist ein Balanceakt zwischen sozialer Fremdheit und biologischer Nähe.'"
Quelle: Piper/Berlin Verlag
Der Roman begleitet das Ehepaar Ada und Yves von den ersten Kontakten zum Weißen Schloss bis hin zum Ende der Schwangerschaft.

Leihmutterschaft ist in Deutschland verboten. Dazu gehören sowohl jegliche ärztliche Leistungen im Rahmen der Leihmutterschaft als auch die Vermittlung von Leihmüttern. Ganz anders in Ländern wie Russland, Thailand und Teile der USA. Doch der Roman spielt in Deutschland, in naher Zukunft. Wer es sich leisten kann, leistet sich eine Tragemutter des Weißen Schlosses, inklusive Rundum-Sorglos-Programm, das eine perfekte Schwangerschaft garantiert, ohne dass (Mutter) Ada die Unannehmlichkeiten, die mit einer Schwangerschaft verbunden sind, erdulden muss. Gleichzeitig wird den Eltern auch die Unannehmlichkeiten der Kindererziehung abgenommen. Denn die Leihmutterschaft hört nicht mit der Geburt auf. Das Kind wird von der Leihmutter großgezogen. Ada und Yves werden die Entwicklung ihres Kindes aus der Ferne begleiten. Gelegentliche Besuche und E-Mails werden sie auf dem Laufenden halten.
Dadurch kommen sie in den Genuss, ihr bisheriges Leben weiterzuleben und sich gleichzeitig Eltern nennen zu dürfen.
"'Es wird ein großartiges Kind. Und immer wenn wir es besuchen, können wir es lieben. Wir können gute Eltern sein.'"
Ada und Yves repräsentieren einen Teil der Gesellschaft, welcher jegliche Fremdbestimmung ablehnt und in dem Konsum, Vergnügen und Egoismus den größten Teil des Lebens ausmacht.

Ada arbeitet in einer Behörde, die sich mit der Auswahl und Bewertung neuer Mitglieder der Gesellschaft befasst. Wer in Deutschland einreisen möchte, wird auf Herz und Nieren geprüft. Nichts bleibt verborgen. Die Qualifikationsvoraussetzungen sind sehr anspruchsvoll und von elitärem Denken bestimmt. Auf diesem Weg hat sich Ada ihren Partner ausgewählt: Yves, ein Bildhauer aus Frankreich. Man wird den Eindruck nicht los, dass sie ihn als schmückendes Beiwerk zu ihrem Leben ansieht. Ada gibt den Ton vor. Ihr Anspruch ist, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Fremdbestimmung ist ihr ein Gräuel. Sie will sich ihre Einzigartigkeit bewahren.
Ein Kind ist für sie ein Statussymbol und Luxus. Es ist ein "Nice-to-have", darf aber keine Einfluss auf das bisherige Leben nehmen. Insofern bietet "Das Weiße Schloss" den richtigen Service.
"Sie wollte keine Liebe spüren, die größer war als die Liebe zu sich selbst."
Der Roman "Das Weiße Schloss" ist eine Dystopie, die erschreckend nah an der Gegenwart ist. Man vergisst schnell, dass es sich hierbei um eine Zukunftsvision handelt. Denn die Episoden des Alltags, die hier geschildert werden, finden sich auch in unserer Gegenwart wieder und dürften dem dem Leser daher nicht fremd sein. Fast wird man ein bisschen eingelullt: ein Ehepaar mit Kinderwunsch, Arbeitsalltag, Freizeitvergnügen, das Prozedere der Reproduktionsmedizin sowie Schwangerschaft (viele Leser werden hier keine Erfahrungen haben, aber dennoch sind die Vorgänge nachvollziehbar)
Doch dann gibt es diese Momente in dem Roman, die einen beim Lesen zusammenzucken lassen und deutlich machen, dass doch nicht alles so normal ist, wie es scheint. Dazu trägt auch der nüchterne und emotionslose Sprachstil von Christian Dittloff bei.
Anfangs hatte ich meine Schwierigkeiten mit diesem Sprachstil. Das Buch lässt sich nicht flüssig lesen. Teilweise wirken Textpassagen sperrig. Daher benötigt man viel Ruhe für dieses Buch. Erst dann lernt man den eigenwilligen Sprachstil schätzen. Denn die Emotionslosigkeit spiegelt die Stimmung dieses Romanes perfekt wider. Elternschaft hat im wirklichen Leben ganz viel mit Gefühl zu tun. Doch die Gefühle finden in der Elternschaft um "Das Weiße Schloss" nicht statt. Hier steht die Reproduktionsmaschinerie im Vordergrund und Eltern, die sich bestenfalls Gefühle gegenüber sich selbst erlauben.

Fazit:
Eine Dystopie, die irgendwie keine ist. Denn dafür sind die Überschneidungen zu unserer Gegenwart zu gravierend. Ein hochinteressantes Thema! Leseempfehlung!

© Renie


Über den Autor:
Christian Dittloff, geboren 1983 in Hamburg, studierte Germanistik und Anglistik in Hamburg. Während des Studiums arbeitete er in einer Psychiatrie sowie als Kulturjournalist in allen Formaten von Print bis Podcast. Anschließend studierte er Literarisches Schreiben in Hildesheim. Seit 2014 ist er Social Media-Manager für die Komische Oper Berlin. Christian Dittloff lebt, arbeitet und schreibt in Berlin. »Das Weiße Schloss« ist sein erster Roman. (Quelle: Berlin Verlag)

Freitag, 5. Oktober 2018

Chris Kraus: Sommerfrauen, Winterfrauen


Quelle: Pixabay/ShonEjai
Eines meiner Roman-Highlights des letzten Jahres war "Das kalte Blut" von Chris Kraus. Wen wundert's, dass ich ungeduldig auf den Nachfolger gewartet habe. Vor ein paar Wochen ist dieser nun erschienen: "Sommerfrauen, Winterfrauen". Der Titel hat bei mir allerdings für Irritationen gesorgt: Chris Kraus hat also einen Frauenroman geschrieben, also einen Roman über Frauen - wenn auch besondere Frauen - und womöglich für Frauen? Och nö.
Doch wie gut, dass der erste Eindruck nicht immer der Richtige ist. Die Buchbeschreibung hat mich eines Besseren belehrt und wieder hoffen lassen. Und die Hoffnung wurde bestätigt: Das Warten hat sich gelohnt!

In "Sommerfrauen, Winterfrauen" (eine Meerjungfrau gibt es im Übrigen auch in diesem Buch) geht es um den Regiestudenten Jonas und einige wenige Frauen, die großen Einfluss auf sein Leben nehmen. Jonas zieht es im Rahmen seines Filmstudiums nach New York. Er bildet die Vorhut für eine Studentengruppe des bekannten Regisseurs Lila von Dornbusch, die ein paar Wochen in New York verbringen wird. New York soll dabei die Quelle der Kreativität und Inspiration für die Filmversuche der Studenten sein. Bei seinen ersten Gehversuchen durch die Stadt, ist Jonas mit dem Großstadtleben völlig überfordert. Dank der Kontakte von Lila - warum muss ich nur immer an Rosa von Praunheim denken? - kommt er bei dem legendären und exzentrischen Filmemacher Jeremiah unter, der in den letzten Jahren eher durch seine adipöse Erscheinung und seinem divenhaften Gemüt als durch cineastische Erfolge im Gespräch war. Und doch hat er sich einen Namen in der Künstlerszene gemacht, von dem auch Jonas profitiert. 
"Vor vielen Jahren muss Jeremiah ein schöner Mann gewesen sein. Auf den Schwarz-Weiss-Fotos aus jener Zeit sieht man ein weiches, melancholisches, fast mageres Gesicht, in dem ausdrucksvolle Augen etwas scheu und gebrochen in die Welt blicken. Wenn man jung ist, ist Gebrochenheit schön und faszinierend, später will man es nicht mehr sehen. Nun ist der Mann wie ein Walfisch am Leben gestrandet, erfüllt von Bitternis, oft zynisch."
Quelle: Diogenes
Schon nach ein paar Tagen gewinnt Jonas an Selbstbewusstsein und lernt, mit der aggressiven Stadt zurechtzukommen. Unterstützung erhält er dabei von Nele, die ihn und die anderen Studenten, die mittlerweile eingetroffen sind, betreut. Doch Jonas bekommt den Kopf nicht frei für seine Aufgaben. Was zum Einen an seiner daheimgebliebenen eifersüchtigen Freundin Mah liegt, die ihn mit obskuren Anrufen nervt; und zum Anderen an Tante Paula, die in einer Seniorenresidenz in New York lebt und mit ihm über seinen Großvater reden möchte. Denn Jonas Großvater hat sich und seine Familie durch seine Karriere als Mitglied der SS nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Eine Familiengeschichte, mit der sich Jonas höchst ungern auseinandersetzen möchte. Doch Tante Paula, die eigentlich nicht seine Tante ist, sie war jedoch das Kindermädchen seines Vaters und gehört daher zur Familie, hat überzeugende Argumente, um ihn (und dem Leser) ihre Geschichte und die des Großvaters zu erzählen.
"... Wer sich in den Nazischeiß begibt, kommt darin um. Und ich will das nicht. Ich will nicht im Nazischeiß umkommen. Apapa war ein Täter. Tante Paula mag ihn trotzdem. Ist das mein Problem?"
"Sommerfrauen, Winterfrauen" ist ein Buch des Gegensatzes:
Banalität trifft auf Tiefsinn! Komik trifft auf Ernsthaftigkeit! Zum Einen haben wir die ersten Laufversuche eines Filmemachers in der großen weiten Künstlerwelt, verbunden mit fast schon slapstickhaften Einlagen. Zum Anderen geht es um den ernsthaften Umgang von Jonas mit der Nazivergangenheit eines sehr nahestehenden Familienmitgliedes. Diese Themen scheinen zunächst einmal nicht zusammenzupassen. Und doch gelingt dem Autor das Kunststück, beide Themen miteinander in Einklang zu bringen. Denn trotz aller humoristischen Einlagen in diesem Buch, wird der Aufenthalt in New York zu einer Reise zu sich selbst. Die Zeit in Amerika lässt den anfangs flapsigen und unbedarft erscheinenden Jonas reifen. Die Auseinandersetzung mit Tante Paula und der Familiengeschichte trägt dazu bei, dass er sein bisheriges Leben und das, was er tut, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.
"Ich könnte mit vierzig sterben. 
Ich könnte mit dreißig sterben, zerspant von all den Martern, die ich mir zumute oder gönne oder was auch immer. 
Ich könnte morgen sterben. 
Doch im Augenblick, in diesem vorüberstreichenden Augenblick totaler Ungewissheit, will ich ewig leben."
Dabei wird es mit Chris Kraus nie langweilig. Sein Sprachstil zeichnet sich durch Sprachwitz, Lust am Fabulieren und Sarkasmus aus. Dieser Sarkasmus kann manchmal richtig biestig sein. Das macht Spaß. Aber trotzdem weiß der Autor immer ganz genau, wann Sarkasmus deplatziert und wann Ernsthafigkeit gefragt ist.

Mit "Sommerfrauen, Winterfrauen" hat mich Chris Kraus genau wie in seinem ersten Roman als unterhaltsamer und ernsthafter Geschichtenerzähler überzeugt. Und wieder bin ich gespannt auf den nächsten Roman, dem ich selbstverständlich wieder voller Ungeduld entgegenfiebern werde. Leseempfehlung

© Renie







Montag, 1. Oktober 2018

Szczepan Twardoch: Der Boxer

Quelle: Wikimedia Commons
"Meinen Vater hat ein großer, gutaussehender Jude mit breiten Schultern und dem mächtigen Rücken eines makabääischen Kämpfers getötet."
Ein erster Satz, der es in sich hat und neugierig macht, auf das, was da noch kommen wird. Und der  Anspruch ist hoch. Denn Szczepan Twardoch, der diesen vielversprechenden Einstieg in seinen Roman gewählt hat, gilt als einer der herausragenden Autoren der polnischen Gegenwartsliteratur.
In seinem Buch "Der Boxer" befasst sich Twardoch auf eindrucksvolle Weise mit dem Leben in Warschau kurz vor dem 2. Weltkrieg - insbesondere mit dem jüdischen Leben.
Twardoch führt uns mit seinem Roman in die Szene des organisierten Verbrechens. Hier haben Juden das Sagen. Einer davon ist Jakub Shapiro, Boxer und Mann für's Grobe in der Verbrecherszene. Er ist der "große, gutaussehende Jude", der den Vater des Ich-Erzählers getötet hat, ebenfalls Jude.
Jakub Shapiro ist die rechte Hand des Paten Kaplica, der das organisierte Verbrechen Warschaus dominiert. Jakub hat sich nicht nur durch seine Boxkünste Respekt und Ansehen innerhalb der jüdischen Bevölkerung Warschaus verschafft, sondern auch aufgrund seines übermäßigen Gerechtigkeitsempfinden. Und trotzdem folgt er bedingungslos den Anweisungen des Paten. Er treibt Schutz- und Erpressungsgelder ein, wenn nötig mit Gewalt. Und die ist häufig nötig.
Quelle: Rowohlt
"An dem Tag, an dem wir Marylka gerächt haben, müssen wir noch in eine weitere Wohnung eindringen, das Rad des Todes weiterdrehen, Gewalt säen und Gewalt ernten, wie beim Boxen, du steckst einen Schlag ein, gibst zurück, isst und wirst gefressen, ..."
Einer, der seine Schulden nicht zahlen konnte, war Naum Bernstein, der Vater des Ich-Erzählers Mojsche  - woraufhin er von Jakub und seinen Handlangern auf bestialische Weise umgebracht wird. Ist es das schlechte Gewissen gegenüber dem Jungen? Denn Shapiro nimmt sich seiner an  und weist ihn in die kriminelle Szene von Warschau ein. Mojsche möchte aus der Rolle des Opfers, die einem Juden in der damaligen Zeit zwangsläufig zugesprochen wurde, ausbrechen. Er will Stärke beweisen. Was liegt da näher als sich dem berühmt-berüchtigsten Juden Warschaus anzuschließen - Jakub Shapiro. Und so gilt er fortan als sein Junge.

Warschau ist kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges ein Pulverfass. Die jüdische Bevölkerung ist verhasst, wird bestenfalls geduldet. Einzig der jüdischen Verbrecherszene begegnet man mit Angst und daraus resultierendem Respekt. Die Faschisten liefern sich mit den Juden Straßenschlachten. Polen steht kurz vor einem Putsch. Innerhalb dieses Szenarios bleibt der Pate, der sich bis dato als unantastbar ansah, auf der Strecke. Shapiro erkennt, dass sich das Leben in Warschau verändern wird. Er beschließt, sich in Palästina ein neues Leben aufzubauen.
Ob ihm das am Ende gelingen wird, ist zweifelhaft. Zumindest deutet der Ich-Erzähler an, dass Shapiros Auswanderung nicht ohne Probleme abgelaufen ist. Der Roman behandelt zwei Zeitebenen. Zum Einen geht es um die Zeit damals in Warschau, zum Anderen schreibt ein alt gewordener Ich-Erzähler in Israel Jahre später seine Erinnerungen zu den damaligen Geschehnissen nieder. Der in die Jahre gekommene Auswanderer blickt auf ein langes Leben zurück. Scheinbar ist er seinen Weg im israelischen Bürgerkrieg gegangen. Und seine Erinnerungen an die Zeit in Warschau werfen Zweifel an der Person Shapiro auf.
"Ich habe das Gefühl, mich in diesen Erinnerungen aufzulösen. Es gibt keinen Mojsche Bernstein, keinen Mojsche, keine Mojzesz, keinen Mosche Inbar, es gibt nur Jakub, Jakub, Jakub, Jakub."
Die Zeitung "Die Welt" schreibt:
"Mit Szczepan Twardoch ist Polen zurück auf der Bühne der Weltliteratur."  
Eine äußerst gewagte Aussage, die sich schlecht überprüfen lässt. Und doch kann ich bescheinigen, dass einiges an den literarischen Qualitäten von Twardoch dran ist. Mit "Der Boxer" hat er einen atmosphärischen Roman geschaffen, der ein von Gewalt geprägtes Bild der damaligen Zeit präsentiert. Der Autor lässt seinen Charakteren dabei sehr viel Raum. Fast schon detailverliebt beschreibt er seine Protagonisten und gewährt ihnen zwischenzeitlich eine Bühne auf der ihr bisheriger Lebenweg geschildert wird. Sein Protagonist Shapiro ist eine Urgewalt - stark, brutal, willensstark. Und dennoch zeigt ihn Twardoch auch von seiner schwachen und verletzlichen Seite.
"Jakub hat Angst. Keine körperliche Angst, körperlich fürchtet Shapiro nichts und niemand auf der Erde. Jakub Shapiro fürchtet weder Hitler noch seine Legion Condor, die in Spanien gegen die Republik kämpft. Jakub Shapiro fürchtet auch Franco, Stalin und Rydz-Smigly nicht. Er fürchtet weder Haie noch Bären, nicht einmal Eisbären. Fürchtet weder Kugeln, Messer noch Knüppel noch jene, die damit hantieren. Etwas fürchtet Jakub Shapiro dennoch."
"Der Boxer" ist neben aller Spannung und Thrillermentalität auch ein politisches Buch. Und an dieser Stelle hat mich Twardoch manches Mal abgehängt. Mir fehlen leider die Kenntnisse, was die politische Situation seinerzeit in Polen anging. Das Auftreten der damaligen politischen Gruppierungen bzw. realen Persönlichkeiten war für mich daher ein wenig verwirrend. 

Fazit:
Dieser Roman hat das Zeug für eine Verfilmung. Spannend, mit einem charismatischen Protagonisten, hat er Ansätze eines Thrillers. Aber dieser Roman ist noch viel mehr. Er ist politisch, historisch und ein Paradebeispiel für hohe Erzählkunst. Twardoch macht neugierig auf weitere Werke von ihm. Er wird seinem Ruf als meisterhafter Autor mehr als gerecht. Leseempfehlung!

© Renie


Über den Autor:
Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der polnischen Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den ebenfalls hochgelobten Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt. Bei polnischen Lesern wie Kritikern übertraf «Der Boxer» diese Erfolge sogar noch. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien. (Quelle: Rowohlt)