Freitag, 31. August 2018

Iori Fujiwara: Der Sonnenschirm des Terroristen

Quelle: Pixabay / Pexels

Allein die Entstehungsgeschichte zu „Der Sonnenschirm des Terroristen“ könnte die Vorlage zu einem Krimi sein.
Iori Fujiwara hat diesen Roman geschrieben, weil er Geld brauchte. Na gut, wer braucht das nicht. Aber in seinem Fall nahm seine Finanzknappheit lebensbedrohliche Ausmaße an. Denn er hatte Spielschulden bei den Yakuza, der japanischen Mafia, die ja bekanntlich nicht zimperlich ist, wenn es um das Eintreiben ihrer Forderungen geht.
Also hat er aus der Not heraus ein Buch geschrieben, in der Hoffnung, dass die Tantiemen für die Begleichung seiner Schulden ausreichend sind. Seine Rechnung ging auf. Denn innerhalb kürzester Zeit hat er mal eben 2 japanische Literaturpreise abgesahnt. Einer davon war mit 10 Mio Yen (irgendwas zwischen 75 und 80 TEUR) dotiert. Ob die Yakuza mit in der Jury saßen?
Zumindest hätten sie Geschmack bewiesen. Denn dieser Krimi ist ein Besonderer. Seine Entstehungsgeschichte ist eine Besondere und seine Machart ebenso. 

Von Anfang an fühlte ich mich an die legendären Philip Marlowe Geschichten von Raymond Chandler erinnert: Typ einsamer (und alkoholisierter) Wolf klärt ein Verbrechen auf.
Ich sah auf meine Hände. Anders als sonst zitterten sie nicht. Kein Wunder: Ich hatte die ganze Nacht praktisch durchgetrunken. Mit soviel Alkohol im Blut sah ich vielleicht halbwegs wie ein anständiger Mensch aus, dachte ich, und warf einen Blick in den Spiegel. Aber nein. Alles, was ich sah, war ein vom Alter gezeichneter, ausgelaugter Alkoholiker.
Fujiwaras „einsamer Wolf“ ist jedoch kein Privatdetektiv, er hat einen anderen Hintergrund. Welcher genau das ist, klärt sich mit Fortschreiten der Handlung. Zumindest kennt der Ich-Erzähler Shimamura die Abläufe der Polizeiarbeit sehr genau. Als er Zeuge eines Bombenattentats wird, weiß er, was zu tun ist, um unerkannt vom Tatort zu verschwinden. Spätestens hier wird bewusst, dass Shimamura in der Vergangenheit Schwierigkeiten mit der Polizei hatte, die ihn zwangen unterzutauchen. Shimamura war in den 60er Jahren in den Studentenunruhen aktiv. Durch seine damalige Beteiligung an einem Bombenattentat kam er auf die Fahndungsliste der Polizei. Grund genug, sich mit falschem Namen ein neues Leben in der Unauffälligkeit aufzubauen. Durch Shimamuras Erinnerungen erfährt der Leser, was damals wirklich passiert ist. 

Unter den Toten des gegenwärtigen Bombenanschlags befinden sich zwei seiner engsten Freunde aus der Studentenzeit. Zufall? Zumindest Grund genug, dass sich Shimamura in der Pflicht sieht, das Verbrechen auf eigene Faust aufzuklären. Dabei erhält er Unterstützung von der Yakuza, die ein ganz eigenes Interesse an dem Bombenattentat haben.
'Irgendwo passiert was. Zur selben Zeit passiert woanders auch was. Zufall? Nein, in den meisten Fällen stellt sich heraus, dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hat, ..."
Der Roman hat mich durch seine stetige unterschwellige Spannung überzeugt. Es gibt so gut wie keine Hochspannungsmomente. Und trotzdem war ich gefesselt und bin völlig in der Handlung versunken.
Ich fühlte mich ein bisschen an ein Puzzlespiel erinnert, in dem man versinkt, an dem man sich festbeißt und die Welt um sich herum vergisst.
Und wie bei einem Puzzlespiel ist man auf der Suche nach den wichtigen Teilen, die dazu beitragen, dass man am Ende ein Gesamtbild hat. Fujiwara liefert viele Hinweise, die ich anfangs nicht miteinander in Einklang bringen konnte. Doch mit der Zeit ließen sich die Hinweise richtig anordnen. Man wird unweigerlich als Leser gefordert, kombiniert, verwirft die Hinweise wieder. Am Ende hat man tatsächlich das Gefühl, selbst zur Aufklärung beigetragen zu haben. 

Leseempfehlung!

© Renie



Über den Autor:
Iori Fujiwara (1948–2007), von der Romanistik kommender Krimi-Autor. Den Sonnenschirm des Terroristen soll der Kettenraucher und passionierte Mahjongg-Spieler verfasst haben, um mit den Tantiemen und möglichen Preisgeldern Spielschulden tilgen zu können. Tatsächlich erhielt Fujiwara 1995 für den Roman den mit 10 Millionen Yen dotierten Edogawa-Ranpo-Krimipreis und ein Jahr später den Naoki-Literaturpreis. Im selben Jahr 1996 noch wurde der Roman fürs Fernsehen verfilmt. Fujiwara starb im Mai 2007 an Speiseröhrenkrebs. (Quelle: cass verlag)

Sonntag, 19. August 2018

Ayobami Adebayo: Bleib bei mir

Quelle: Pixabay/DigitalMarketingAgency
"Kein Gott ist wie eine Mutter, denn keiner ist so für ihr Kind da wie sie, wenn das Kind leidet."
Bei diesem Zitat handelt es sich um ein nigerianisches Sprichwort aus dem Roman "Bleib bei mir" von Ayobami Adebayo.
In Nigeria werden also Mütter mit Göttern verglichen. Ein eigenartiger Vergleich.

Yejide, die Protagonistin dieses Romans, gehört zu einer Generation Frau in Nigeria, die sich ein Stück weit in Richtung Emanzipation bewegt hat. Allerdings nur ein kleines Stück. Trotz eines Studiums und ihrem beruflichen Erfolg, ist ihr Leben doch den übermächtigen Traditionen unterworfen. Die Traditionen begegnen ihr in Form ihrer Schwiegermutter, deren Glückseligkeit über die Hochzeit zwischen Yejide und ihrem Sohn Akin durch die anhaltende Kinderlosigkeit der Beiden getrübt ist. Man sollte erwähnen, dass sich in ihrem Weltbild und somit auch dem des traditionellen Nigerias eine Frau über ihre Mutterschaft definiert. Je mehr Kinder sie zur Welt bringt, umso besser. Eine Frau, die auch noch Enkelkinder vorweisen kann, wird zur Naturgewalt. Daher ist Schwiegermutters Druck auf Yejide und Akin entsprechend hoch, wobei - wen wundert's - Yejide die Schuld für die Kinderlosigkeit zugesprochen wird. 
"' ... Los, sag schon, Yejide, hast du Gott je auf einer Entbindungsstation gesehen? Frauen machen Kinder, und wenn du das nicht kannst, bist du nur ein Mann und verdienst es nicht, eine Frau genannt zu werden. ...'"
Quelle: Piper
Die Eheleute führen ein modernes Leben. Beide sind beruflich und finanziell erfolgreich. Ihre Hochzeit war eine Liebesheirat. Im Prinzip könnten sie sich auch ein Leben ohne Kinder vorstellen - wenn da nicht dieser enorme Druck der Gesellschaft wäre. 
Doch in Nigeria gibt es die Möglichkeit, derartige Probleme der Kinderlosigkeit in den Griff zu bekommen. Selbst, wenn die Reproduktionsmedizin versagt, gibt es immer noch eine Lösung: eine zweite Ehefrau. Die Schwiegermutter lässt nichts unversucht, um ihren Sohn Akin von dieser Idee zu überzeugen. Dem widerstrebt zwar der Gedanke. Doch im seinem inneren Kampf zwischen modernem Denken sowie Liebe zu Yejide und Gehorsam gegenüber seiner Mutter, siegt der Gehorsam. Yejide wird vor vollendete Tatsachen gestellt. Aus Angst, ihren Mann zu verlieren, steigert sie sich in ihren Kinderwunsch hinein. Sie lässt nichts unversucht. Der Wunsch nach einer Schwangerschaft wird zur Besessenheit. Aus Verzweiflung lässt sie sich sogar auf ein fragwürdiges Ritual eines traditionellen Heilers ein, was zeigt, wie tief auch eine moderne Frau in der Tradition, in der sie aufgewachsen ist, verwurzelt ist. 
"Als ich im elften Monat schwanger war, beschloss ich, den Berg der beispiellosen Wunder noch einmal aufzusuchen."
Der Roman behandelt die Entwicklung der Ehe von Yejide und Akin, Yejides Kampf gegen Ehefrau Nr. 2 sowie die seelischen Wunden, die sie erleidet. Die Handlung nimmt Wendungen an, die mich überrascht haben, und die an Tragik nicht zu überbieten waren. Natürlich nimmt die Ehe von Yejide und Akin Schaden. Ob es für die Beiden in diesem Buch eine Zukunft gibt, möchte ich an dieser Stelle nicht verraten.

Die Handlung findet über einen Zeitraum von mehreren Jahren statt. Sie wird aus wechselnden Perspektiven erzählt: Zum Einen aus der Sicht von Yejide, zum Anderen aus der Sicht von Akin. Es wird deutlich, dass die Beiden sich lieben. Aber dennoch schaffen sie es nicht, dem Druck, der auf Yejide ausgeübt wird, gemeinsam stand zu halten. Die Verzweiflung, die Yejide an den Tag legt, war für mich permanent spürbar. Doch je verzweifelter Yejide ist, umso hilfloser wirkte Akin auf mich. Hinzu kommt, dass beide während der Leidenszeit nicht aufrichtig miteinander umgehen. Insbesondere Akin hat seine Geheimnisse, die sich erst zum Ende des Romans offenbaren.
"Ich weiß noch, wie ich beim Zusammenfalten der Zeitung dachte, dass sich die Situation spätestens in ein paar Wochen geklärt haben würde. Ich ging davon aus, das Militär wäre sich der eigenen Unpopularität bewusst und würde noch vor Jahresende in die Kasernen zurückkehren. Hätte mir an diesem Morgen jemand gesagt, dass Nigeria noch sechs Jahre lang eine Militärdiktatur bleiben würde, hätte ich gelacht."
Das Leben in Nigeria wird nicht nur von Traditionen dominiert. Auch die Politik hat einen ungeheuren Einfluss auf den Alltag der Menschen. Die Handlung spielt zu einer Zeit (1987 bis 2008), in der das Land von politischen Unruhen erschüttert wird. Umsturz folgt auf Umsturz. Ständig ändert sich das politische Machtgefüge. Politik ist ein bestimmendes Thema im Umgang miteinander. Denn die Menschen leben in großer Unsicherheit bis hin zur Angst. 
Die Autorin Ayobami Adebayo äußert in ihrem Roman viele Kritikpunkte an ihrem Land. Dennoch liebt sie ihr Land und respektiert dessen Traditionen. Denn Tradition muss nicht schlecht sein, solange man eine gesunde Balance zwischen Moderne und Althergebrachtem findet. 

Die Autorin hat mich durch ihre poetische und feinsinnige Spache verzaubert. Insbesondere ihre fantasievollen Vergleiche habe ich sehr genossen. 
Die Geschichte hat mich gefangengenommen. Es ist immer spannend, einen Einblick in fremde Kulturen zu erhalten, insbesondere, wenn er in einer Intensität vermittelt wird wie hier. Ayobami Adebayo beschreibt das Leben ihrer Protagonisten auf eine Weise, die unter die Haut geht. Auch wenn ich den Titel "Bleib bei mir" anfangs kitschig fand, musste ich am Ende feststellen, dass es keinen passenderen Titel gibt. "Bleib bei mir" - ein Ausspruch, der die Verzweiflung der Protagonisten in drei einfache Worte fasst. 

© Renie



Über die Autorin:
Ayọ̀bámi Adébáyọ̀, geboren 1988 in Lagos, studierte Englische Literatur und Kreatives Schreiben unter anderem bei Margaret Atwood und Chimamanda Ngozi Adichie. Ihre Geschichten erschienen in zahlreichen Zeitschriften. Ihr Debütroman »Bleib bei mir« wurde von der Kritik hoch gelobt, war für den Baileys Women's Prize for Fiction nominiert und wurde in dreizehn Länder verkauft. (Quelle: Piper)

Montag, 13. August 2018

Erich Hackl: Am Seil

Quelle: Pixabay/Pexels
Es gibt da diese Bücher, die klein und unscheinbar daher kommen, sich aber als literarische Naturgewalt erweisen. "Am Seil" von Erich Hackl ist solch ein Buch. Man wundert sich, dass in gerade mal 117 Seiten soviel Inhalt und Aussagekraft steckt.
Erich Hackl ist ein Autor, der sich Geschichten erzählen lässt - wahre Geschichten. Die Geschichtenerzähler sind in ihrem Leben durch ein besonderes Ereignis geprägt worden. Erich Hackl führt Gespräche mit diesen Menschen, interviewt sie. Und am Ende schreibt er ein Buch über diese besondere Geschichte. So auch in dem vorliegenden: "Am Seil".
Der Mensch, der sich erinnert ist Lucia Heilmann, Jüdin, die ihre Kindheit während der  Nazizeit in Wien verbracht hat. Sie ist mit dem Leben davongekommen. Genau wie ihre Mutter Regina. Wenn Reinhold Duschka nicht gewesen wäre, hätten Mutter und Tochter das gleiche Schicksal erlitten wie Millionen andere Juden, die dem Naziterror zum Opfer gefallen sind.
"..., daß Regina und Lucia auf Reinholds Gegenwart und auf seine Gesundheit angewiesen waren. Stieß ihm etwas zu, waren sie verloren. Regina kannte niemanden, der sie dann bei sich aufgenommen oder anderswo untergebracht hätte, ..."
Quelle: Diogenes

Wer war Reinhold Duschka?

Niemand besonderes. Ein Jedermann, Kunsthandwerker in Wien, passionierter Bergsteiger, lose befreundet mit Regina. Ein Merkmal zeichnet ihn besonders aus: er ist selbstlos. Als Regina eines Tages auf der Flucht vor den Nazis mit ihrer kleinen Tochter Lucia bei ihm vor der Tür steht, gewährt er ihnen ohne zu zögern Schutz. Er versteckt sie über einen Zeitraum von 4 Jahren in seiner Werkstatt. Sie leben auf engem Raum. Reinhold kümmert sich fast 24 Stunden am Tag um die beiden. Ständig droht die Gefahr, von den Nazis entdeckt zu werden. Reinhold geht das Risiko ein.
"'Es war für Dich selbstverständlich und gar nicht erwähnenswert, daß du in einer Zeit der Unmenschlichkeit Deinen Anspruch als Mensch gelebt hast...'" (S. 101)
Die Geschichte, die Erich Hackl hier nacherzählt, basiert auf den Erinnerungen an eine Zeit, die Lucia als Kind erlebt hat. Dementsprechend spiegelt sich hier die Sichtweise eines Kindes wieder, d. h. die Ereignisse, wie Lucia sie als Kind wahrgenommen hat. Reinhold war ihr Held. Liebevoll versuchte er Lucia trotz der angespannten Situation bei Laune zu halten.
Erfahrungsgemäß gibt es Lücken in der Erinnerung eines Kindes. Diese Lücken macht Erich Hackl kenntlich. Er und Lucia stellen in ihren Gesprächen Vermutungen an, die aber auch als solche deutlich werden.
Der Schreibstil gibt den Interviewcharakter wieder, wirkt häufig sehr nüchtern. Doch Hackl gelingt das Kunststück, trotz aller Nüchternheit eine große Emotionalität beim Leser hervorzurufen. Das ist ganz großes Erzählkino.

Fazit:
Ein kleine, grandios erzählte Geschichte, mit ganz viel wichtigem Inhalt, über einen stillen unscheinbaren Helden, der mit seiner Selbstlosigkeit und Zivilcourage, damals wie heute ein Vorbild ist. Leseempfehlung!

© Renie




Über den Autor:
Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr, hat Germanistik und Hispanistik studiert und einige Jahre lang als Lehrer und Lektor gearbeitet. Seit langem lebt er als freier Schriftsteller in Wien und Madrid. Seinen Erzählungen, die in 25 Sprachen übersetzt wurden, liegen authentische Fälle zugrunde. ›Auroras Anlaß‹ und ›Abschied von Sidonie‹ sind Schullektüre. Unter anderem wurde er 2017 mit dem Menschenrechtspreis des Landes Oberösterreich ausgezeichnet. (Quelle: Diogenes)

Mittwoch, 8. August 2018

Lisa McInerney: Glorreiche Ketzereien

Quelle: Pixabay/Free-Photos
Das beschauliche irische Cork ist der Schauplatz von Lisa McInerneys Roman "Glorreiche Ketzereien". Mit knapp 125.000 Einwohnern ist diese Stadt die zweitgrößte der Republik Irland und ganz nebenbei Sitz des römisch-katholischen Bistums Cork and Ross. Im Bistum Cork and Ross leben rund 240.000 Einwohner, wovon etwa 220.000 der katholischen Kirche angehören. Das sind über 90 %. Kirche hat also einen hohen Stellenwert bei den Einwohnern Corks.
Der Titel "Glorreiche Ketzereien" sowie das Cover deuten darauf hin: auch in Lisa McInerneys Roman hat Religion einen hohen Stellenwert - wenn auch einen scheinheiligen.
Der Roman beginnt alles andere als christlich. Denn am Anfang steht ein Mord: Maureen Phelan, Ende 60/Anfang 70, erschlägt einen Einbrecher mit einer Devotionale. Was tun mit der Leiche? Wie praktisch, wenn frau einen Sohn hat, der das organisierte Verbrechen in Cork kontrolliert. Jim nimmt sich der Sache an, wenn auch widerwillig. Denn Mütter machen nichts als Ärger. Er beauftragt seinen Handlanger Tony Cusack mit den „Aufräumarbeiten“. Tony ist alleinerziehender Vater von 3 Kindern und Alkoholiker. Seine Erziehungsmethoden sind fragwürdig, in der Regel brutal, insbesondere seinem ältesten Sohn Ryan gegenüber. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Insofern wundert es nicht, wenn Ryan bereits mit 15 Jahren seine beachtliche Karriere als Drogendealer startet. Eine seiner Kundinnen ist Georgie, eine junge Prostituierte, deren Freund spurlos verschwunden ist. Womit wir wieder bei Maureen Phelan wären.
"Sie betrachtet den Mann, der da mit dem Gesicht auf den Fliesen lag. Unter ihm breitete sich Blut aus. Es rann in die Fugen. Da würde sie Stahlwolle brauchen. Natron. Bleiche. Wahrscheinlich noch was Stärkeres. Sie war da kein Experte. Für gewöhnlich schlich sie nicht auf leisen Sohlen durchs Haus und überraschte Eindringlinge, indem sie ihnen mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf schlug. Der hier war ihr erster."
Lisa McInerney führt uns mit ihrem Roman in Corks Kriminellenszene, die trotz aller Sünden nicht ihren Hang zur Religion verloren hat. Hier wird Bigotterie in Reinkultur betrieben, welche die Autorin auch mit großer Süffisanz beschreibt. Dabei reitet sie nicht nur auf der Schwäche ihrer Protagonisten herum. Sie lässt sich auch nicht nehmen, die katholische Kirche anzuprangern. Beispielsweise knöpft sie sich die Rolle der Kirche im Umgang mit befleckten schwangeren Mädchen in den 60er Jahren vor. Diese Kritik wird durch Maureen Phelan personifiziert, die selbst einmal in der Rolle der verzweifelten Sündigen war. 
"'... Man muss sich doch fragen, was mit diesem Land nicht stimmt, dass es immer neue tugendhafte alte Schachteln hervorbringt. ...'"
Der Sprachstil von Lisa McInerney ist herausragend: herrlich süffisant, mit einer großen Portion trockenem Humor. Freunde von John Irving werden hier voll auf ihre Kosten kommen. Ihre Wortspielereien haben es in sich. Man muss manche Sätze tatsächlich mehrmals lesen, um den hintergründigen Sinn zu verstehen. Aber dann kommt man aus dem Genießen nicht mehr heraus.

Die Autorin mag ihre Charaktere. Auch wenn sie sie oft dumm dastehen lässt, an der Grenze zur Respektlosigkeit, wird man den Eindruck nicht los, dass sie ihren Protagonisten deren Sünden verzeiht und dabei das Menschliche in den Vordergrund stellt. Sie reduziert sie nicht auf ihre Jobs (Dealer, Prostituierte, Kriminelle), sondern zeigt sie mit all ihren Sehnsüchten, Wünschen und Gefühlen.
Mein Lieblingscharakter ist übrigens Maureen, die mich mit ihrer Scharfzüngigkeit und den Wortgefechten, die sie sich mit anderen liefert, köstlich unterhalten hat. 

Kleiner Hinweis an die Bloggerkollegen: Lisa McInerney ist eine von uns. Ihr Sprachtalent ist durch ihre Bloggerei entdeckt worden. Auf Empfehlung eines Schriftstellers hat sie sich zunächst an Kurzgeschichten herangewagt. „Glorreiche Ketzereien“ ist ihr Debütroman, für den sie 2016 u. a. für den Irish Book Award nominiert wurde. Tja, so kann’s gehen.

Und natürlich erhält das Buch von mir eine dicke fette Leseempfehlung!

© Renie



Über die Autorin:
Lisa McInerney, geboren 1981 in der irischen Provinz Connacht, machte zunächst als Bloggerin auf sich aufmerksam. Der Schriftsteller Kevin Barry ermutigte sie, neben ihrem Blog auch Kurzgeschichten zu schreiben. Ihre Erzählungen erschienen in verschiedenen Literaturzeitschriften, u.a. im Granta Magazine. Ihr Debütroman »Glorreiche Ketzereien« war 2016 für den Irish Book Award sowie den Dylan Thomas Award nominiert, ausgezeichnet wurde er mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction und dem Desmond Elliott Prize. Lisa McInerney lebt in Galway. (Quelle: Liebeskind)

Donnerstag, 2. August 2018

Fritz Mertens: Ich wollte Liebe und lernte hassen!

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Es steht ja viel Inspirierendes in der Bibel, aber auch Fragwürdiges. Und der nachfolgende Spruch gehört für mich zu Letzterem: 
Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald. (Neues Testament, Sprüche 13,24)

Der biblischen These nach zu urteilen, müssen Fritz Mertens Eltern ihren Sohn über alle Maßen geliebt haben. Und sie waren noch nicht einmal religiös. Doch sie brauchten Gottes Segen nicht, um ihren Sohn von klein auf zu züchtigen. Prügel waren an der Tagesordnung. Die Rute des Vaters war ein Gürtel, die Rute der Mutter war eine Reitgerte. Wenn es glimpflich abging, reichten Schläge mit der Hand und Tritte. Aber es ging selten glimpflich ab. So schleppte sich Fritz grün und blau geschlagen in die Schule, wenn überhaupt. Denn oft schaffte er es nicht in die Schule, musste er doch den Haushalt in Ordnung halten und in der Kneipe seiner Mutter von morgens (bestenfalls mittags) bis in die Nacht hinein arbeiten. Um Schmerzen und Müdigkeit ertragen können, entdeckte Fritz relativ jung Schmerz- und Aufputschmittel für sich. Weder die Lehrer noch die Nachbarn noch die Gäste von Mutters Kneipe haben sich an seinem desolaten Zustand gestört.
Als 20-Jähriger wird Fritz des Mordes an zwei Menschen angeklagt. 

Quelle: Diogenes
Die Anklage beauftragt einen Psychologen mit der Ausarbeitung eines Gutachtens über das Seelenleben des jungen Mannes. Der Psychologe fordert Fritz auf, sich seine Kindheitserinnerungen von der Seele zu schreiben. 

Das vorliegende Buch ist Fritzs Lebensbericht, der nahezu in seiner Urform belassen wurde. Der Verlag hat nur rudimentäre Änderungen vorgenommen, die Rechtschreibung, Grammatik und Verständnis betreffen. Das Ergebnis ist ein 100%-ig authentisches Zeugnis einer entsetzlichen Kindheit, das mir beim Lesen emotional einiges abverlangt hat. 
"Es ist nicht unser Verdienst, wenn wir nicht straffällig werden, wenn wir in unserem Leben niemanden durch unsere Schuld töten." (aus dem Vorwort, verfasst durch den Gutachter Reinhart Lempp)
Ich gehöre nicht zu denen, die einem Straftäter automatisch Absolution erteilen, sobald seine schwierige Kindheit in die Waagschale geworfen wird. Insofern habe ich zweimal überlegt, ob ich dieses Buch überhaupt lesen soll. Ich war voreingenommen und habe fast schon damit gerechnet, dass in Fritz Mertens Lebensbericht um Verständnis für seine Morde gebuhlt wird. Doch das ist hier nicht der Fall. Das Buch ist keine Entschuldigung, sondern eher eine Erklärung. 
"Da Pappa, wenn er unter Alkohol war, zu einer brutalen Sau wurde, ging das meistens auch nicht ohne blaue Flecken ab. Ich fing deswegen an, Pappa die Pest zu wünschen, wenn er abends besoffen nach Hause kam. Das machte mich nicht nur körperlich fertig, sondern auch seelisch, denn ich hatte Angst vor ihm bekommen, und jedes Mal wenn er nach Hause kam, hatte ich ein Gefühl zwischen Angst, Hass und dem Wunsch, ihn umzubringen."
Es ist der ungeschönte Bericht eines Menschen über seine lieblose Kindheit, eine schmerzvolle Dokumentation über das Versagen unserer Gesellschaft. Denn wie kann es sein, dass Fritz' offensichtliche Spuren der Misshandlung von Nachbarn, Bekannten und Lehrern ignoriert wurden, und er in seinem Elend allein gelassen wurde?
Am Ende hat Fritz Mertens für sein Verbrechen gebüßt und hat wieder den Weg in die Gesellschaft gefunden, die ihn als Kind so sträflich ignoriert hat. Er ist Schriftsteller geworden - Fritz Mertens ist ein Pseudonym - und engagierte sich später gemeinnützig in der Jugendarbeit. Ob er die seelischen Wunden seiner Kindheit jemals überwunden hat, ist zu bezweifeln.

© Renie




Über den Autor:
Fritz Mertens, geboren 1963, ist das Pseudonym eines deutschen Autors, der nach einem Kapitalverbrechen als Jugendlicher einen Bericht über die Straftat verfasste. Zusammen mit seiner Frau eröffnete er 1998 ein gemeinnütziges Jugendzentrum. Mertens starb 2008 im Alter von 44 Jahren an einem Schlaganfall. (Quelle: Diogenes)