Sonntag, 14. Februar 2021

Andrew Ridker: Die Altruisten

Quelle: Pixabay/alexas_fotos
Als Altruisten bezeichnet man eine Person, die uneigennützig und selbstlos handelt. Sie stellt ihr eigenes Wohlergehen hintenan und ist darauf fixiert, dem Wohl eines Anderen bzw. dem Gemeinwohl zu dienen, selbst, wenn es auf ihre eigenen Kosten geht.
In Andrew Ridkers Roman "Die Altruisten" geht es also um besagten Menschenschlag - sollte man meinen. Doch ich kann es drehen, wie ich will: eingefleischte Altruisten sind mir in diesem Roman nicht vor die Lesebrille gekommen. Oder doch?

Die Geschichte führt uns nach Amerika, genauer nach St Louis. Hier ist die Familie Alter auf Bestreben des Familienoberhaupts Arthur aus der Großstadt New York hergezogen. Das erfahren wir gleich in dem Epilog dieses Romans. Darin begegnet uns auch diejenige Person, die meine persönliche Heldin in diesem Roman ist: Francine, Ehefrau von Arthur und Mutter von Maggie und Ethan. Francine ist dem Ruf ihres Gatten gefolgt und hat eine gut dotierte Anstellung in New York aufgegeben, um ihrem Arthur den Karriereweg zu ebnen. Das mit der Karriere hat er sich zumindest so ausgemalt. Doch die Realität sieht anders aus: Herausgekommen ist eine befristete Stelle als Dozent an der Uni, die hoffentlich jedes Jahr verlängert wird. Dabei ist der grummelige Arthur, nicht besonders talentiert, wenn es darum geht Wissen zu vermitteln. Er selbst sieht das jedoch anders. Und so fristet der verblendete Arthur ein trübes Dasein an der Lehranstalt und redet sich sein Leben schön.
Quelle: Penguin Randomhouse
"'Wenn man sagt, dass eine Ehe eine gewisse Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Kompromissbereitschaft erfordert, ist oft nur einer gemeint.'"
Diejenige, die den Lebensunterhalt der Familie finanziert, ist Francine, die neben Haushalt und Kindererziehung noch so ganz nebenbei als Paartherapeutin arbeitet, wofür sie auch ein Händchen hat. Wäre sie in New York geblieben, wäre sie erfolgreich wie nur was. Aber was tut frau nicht alles für den Göttergatten. 
Oh. Da haben wir ihn ja, den Altruismus: völlig selbstlos stellt Francine ihre eigenen Interessen und Karriere hintenan, damit es der Familie und Ehemann gut geht. Francine ist meine Heldin!
Einige Jahre vergehen in der Geschichte. Leider müssen wir feststellen, dass Francine mittlerweile verstorben ist. Die beiden Kinder sind ausgezogen und haben den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen. Aber leider sind sie das Produkt der Erziehung ihrer Eltern, wobei blöderweise der väterliche Einfluss nachhaltigere Auswirkungen auf die Persönlichkeit der Kinder hat als der Einfluss der Mutter. Der schwule Ethan konnte es seinem Vater nie Recht machen. Da konnte Arthur noch so sehr auf toleranten Akademiker machen. In Wirklichkeit konnte er nie verknusen, dass sein Sohn Männern zugetan ist. Die Komplexe, die sich bei Ethan in seiner Kindheit und Jugend enwickelt haben, wird Sohnemann nicht los. Maggie ist die Zornige der beiden Geschwister. Ist Ethans Respekt vor seinem Vater immer noch so groß, dass er seine Ablehnung ihm gegenüber nicht offen zeigen kann, hält Maggie damit nicht hinter dem Berg. Sie ist auf Krawall gebürstet, sobald es um ihren Vater geht. Komischerweise ist sie ihrem Vater am ähnlichsten. Als junger Erwachsener hatte er eine Phase, die ihn dazu brachte, wohltätig aktiv zu werden. Dass es am Ende dabei nur um seinen beruflichen Erfolg ging, ist für ihn fast nicht erwähnenswert, schließlich zählt die Geste. Auch Maggie hat dieses Wohltätigkeitsgen. Bei ihr ist es allerdings ausgeprägter, als es bei ihrem Vater jemals war. Aufopferungsvoll bringt sie ihre Hilfsbereitschaft unters Volk, am liebsten unentgeltlich. Denn schnöder Mammon ist in ihren Augen moralisch verwerflich. Noch eine Altruistin!

Es ist nicht verwunderlich, dass Arthur auch nach dem Tod seiner Frau beruflich nicht die Kurve kriegt. Sollte er sich allein von seinem Gehalt ernähren müssen, hätte dies gravierende Folgen für seinen Lifestyle. Aus der Not heraus versucht er wieder den zerrütteten Kontakt zu seinen Kindern zu kitten, in der Hoffnung, dass diese ihm finanziell unter die Arme greifen und seine Welt wieder in Ordnung bringen. Ein altruistisches Familienmitglied muss also her, das sich völlig selbstlos um den alten Arthur kümmern wird, ungeachtet aller Beweggründe, die es gab, den Kontakt seinerzeit zu ihm abzubrechen.
"Fehlten ihm seine Kinder? Das war eine Frage, die so unerträglich war, wie mit aufgerissenen Augen in die Sonne zu starren. Sie war völlig falsch gestellt. Was ihm fehlte, war sein früheres Leben, und da hatten Kinder dazugehört. Seine Frau war tot. Sein Haus würde man ihm wegnehmen. Die Kinder waren alles, was noch übrig war. Die Kinder - und das unverhoffte Geld auf ihren Namen." 
Man fragt sich natürlich, welcher Teufel Francine damals geritten hat, dass sie sich auf solch einen unleidigen Menschen wie Arthur eingelassen hat, ihn heiratete, vermutlich geliebt, 2 Kinder bekommen und über Jahre mit zusammengelebt hat. Diese Frage lässt natürlich die Vermutung zu, dass Arthur nicht immer der Unsympath gewesen ist, als den ihn seine Kinder erlebt haben. Ein Stück weit wird man Arthur verstehen. Denn Andrew Ridker lässt Rückblenden und Erinnerungen in die Handlung einfließen, die Arthur und Francine in glücklicheren Zeiten zeigen. Aber da Liebe ja bekanntlich blind macht, sieht man Francine ihre Beweggründe, sich auf Arthur eingelassen zu haben, nach.

Diese Familie ist für mich das Negativbeispiel einer Bildungsfamilie. Die Eltern sind Akademiker, wovon der eine Teil ein wenig weltfremd ist. Sie versuchen ihren eigenen Ansprüchen an ein moralisch einwandfreies Leben gerecht zu werden. Francine hat dabei nie den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Nur Arthur entwickelt sich zum Moralapostel, der ganz groß darin ist, über die Ungerechtigkeit in der Welt und der Ungerechtigkeit, die ihm seiner Meinung nach persönlich zuteil wird, zu lamentieren.
What a man! Bleibt nur zu hoffen, dass die Äpfel diesmal ganz weit vom Stamm fallen.

Fazit:
Ein sehr unterhaltsamer amerikanischer Familienroman mit Antihelden, die eine Lebenseinstellung an den Tag legen, für die man sowohl Mitleid als auch Kopfschütteln übrig hat.

© Renie


Sonntag, 7. Februar 2021

Tea Ranno: Agata und ihr fabelhaftes Dorf

Honoré Daumier: Crispin et Scapin
Trivialliteratur und ich ... das geht selten gut. Der Titel des Romans "Agata und ihr fabelhaftes Dorf" der Italienerin Tea Ranno sowie dessen Covergestaltung verleiten zwar dazu, an Friede-Freude-Eierkuchen in ländlich-mediterraner Idylle zu denken. Doch ich habe mich darauf verlassen, dass ein Verlag wie Nagel & Kimche, den ich in den letzten Jahren als Herausgeber anspruchsvoller Literatur schätzen gelernt habe, sich etwas bei soviel Kreativität gedacht hat. 
Was hat es also mit dem scheinbar trivialen Roman auf sich?
Man ist schnell dahinter gestiegen, was einen inhaltlich in diesem Roman erwartet: Agata ist die frisch verwitwete Tabacchera eines sizilianischen Dorfes unserer Zeit und die Verkörperung des Feindbildes von Bürgermeister Pallante. Dieser herrscht in diesem Dorf wie ein Souverän. Die Dorfgemeinschaft ist in zwei Lager gespalten: diejenigen, die sich Pallante unterworfen haben und seine majestätischen Allüren sowie seine korrupten Machenschaften hinnehmen, nicht zuletzt, weil sie selbst davon profitieren. Und diejenigen, die gegen Pallante sind - allen voran Agata, deren Ehemann vor Kurzem verstarb. Seine Gesundheit hat bei den ewigen Auseinandersetzungen und Kämpfen, die er mit Pallante austragen musste, schlapp gemacht. 
Quelle: Nagel und Kimche
Dieser Roman erzählt nun die Geschichte der Kämpfe, die in diesem Dorf ausgefochten werden. Gut kämpft gegen Böse, die Lager werden gewechselt, der Souverän verliert an Einfluss und Macht. Über allem schwebt der Geist der Mafia sowie der heilige Geist. Denn was wäre ein sizilianischer Roman ohne Mafia und Kirche? Und am Ende siegt das Gute.
Das hört sich jetzt irritierend einfach an. Und ich gebe zu, dass ich eine Weile gebraucht habe, bis ich hinter das Rätsel dieses Romans gestiegen bin.
"Die Frauen sahen sich einen Augenblick verwirrt an, während der Hund nun den Pulcinella gab und sich quasi nach links und rechts verbeugte. Zwangsläufig musste man lachen."
Viele Dinge kamen mir bekannt vor, allen voran die Charaktere. Wir haben die schöne und kluge Agata sowie den bösen Bürgermeister. Wir haben jemanden, der sich alles herausnehmen darf, weil er geisterhaft an dem Geschehen teilnimmt. Wir haben Tollpatsche und Feiglinge, die immer die "Prügel kassieren", egal, ob sie Schuld haben oder nicht. Wir haben einen resoluten Pfarrer und wir haben einen Polizisten. Die Männer sind Machos und glauben, sie hätten zuhause das Sagen. Die Frauen wissen ihre weiblichen Reize den Männern gegenüber überzeugend einzusetzen und sind in Wirklichkeit diejenigen, die zuhause das Sagen haben. 
Und in diesem Dorf wird getratscht, was das Zeug hält. Es gibt nichts, was der Dorfgemeinschaft verborgen bleibt. Und wenn doch, wird wild spekuliert und "alternative Fakten" werden geschaffen. Die Gerüchteküche brodelt, was für irritierende Überraschungen sorgen kann. 
Die Menschen sind leidenschaftlich und temperamentvoll. Es wird geflucht, gelacht, geweint, geliebt. 

Dieses Temperament findet sich auch in dem Erzählstil dieses Romans wieder. Tea Rannos Sprache ist lebhaft und quirlig. So wenig wie ihre Charaktere ein Blatt vor den Mund nehmen, so wenig macht es Tea Ranno. Es kann daher auch schon mal derbe und frivol werden.
"Er weinte. Nicht männlich und nicht hochmütig, wie man es von einem Mann erwartet, der sich die Schwäche einiger verdrückter Tränchen zugesteht, nein: Wie ein Idiot heulte er, wie einer, der gerade noch gedacht hatte, die Welt gehöre ihm und alles würde nach seiner Pfeife tanzen, aber stattdessen muss er feststellen, dass er die Marionette in den Händen eines unheilvollen Puppenspielers ist."
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht eines auktorialen Erzählers. Dadurch entsteht Distanz zu dem Geschehen in diesem Roman. Man blickt von Außen auf das Zusammenspiel der Charaktere. Das Dorf wird somit zur Bühne, der Leser wird zum Zuschauer.
Und damit wären wir beim casus knacksus dieses Romans. Tea Ranno hat mit "Agata und ihr fabelhaftes Dorf" einen Roman im Geiste der traditionellen italienischen Volkskomödie "Commedia dell'arte" geschrieben. Diese Kunstform hatte zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert ihre Blütezeit. Tea Ranno hat sie nun auf die Gegenwart adaptiert und ihr somit einen modernen Anstrich verpasst. Typisch für die Commedia dell'arte sind die immergleichen Charaktere, egal in welchem Stück wir uns befinden. So finden sich auch bspw. eine Colombina, ein Arlecchino und ein Brighella in Tea Rannos Roman - nur unter anderem Namen.

Die Stücke der Commedia dell'arte sind lustig, haben einen derben Humor und sind oftmals frivol. Die Geschichten sind einfach strukturiert, die Handlung ist vorhersehbar. Und am Ende siegt das Gute über das Böse. Streng genommen, haben wir es also bei der Commedia dell'arte mit trivialer Unterhaltung zu tun. Und ja, der Roman "Agata und ihr fabelhaftes Geheimnis" ist genauso trivial wie die Commedia dell'arte. Und indem die Autorin Tea Ranno einen offensichtlichen Bezug zu dieser Kunstform des traditionellen Theaters herstellt, wird dieser Roman zu etwas Besonderem - Trivialität hin oder her.
"Agata und ihr fabelhaftes Dorf" ist daher ein ungewöhnlicher Roman, der völlig anders ist, als es auf den ersten Blick erscheint: eine Commedia dell'arte in literarischer Form.

© Renie