Freitag, 29. Dezember 2017

Gaël Faye: Kleines Land

Quelle: Pixabay/teetasse
In seinem autobiografischen Roman "Kleines Land" beschreibt der Autor Gaël Faye seine Kindheit in Burundi, einem der kleinsten Staaten Afrikas.
Mit einer Fläche von gerade mal 27.834 Quadratkilometer ist dieses Land kleiner als Nordrhein-Westfalen (34.110 Quadratkilometer), hat aber die größeren  Probleme: eine hohe Kindersterblichkeitsrate, eine durchschnittliche Lebenserwartung von 56 Jahren, rivalisierende Bevölkerungsgruppen, Bürgerkriege. Amnesty International, Human Right Watch und Unicef sehen die Lebensverhältnisse in Burundi als problematisch an. Nicht zuletzt die Kinder, sind die Leidtragenden in diesem Kleinen Land: Ausbeutung und Missbrauch von Kindern gehören zum Alltag dazu. Kinder als billige Arbeitskräfte, Kinder als Prostituierte, Kinder als Soldaten.
Doch es gibt auch Kinder in Burundi, die ihre Kindheit genießen können - zumindest bis ihnen der nächste Bürgerkrieg einen Strich durch die Rechnung macht. Eines dieser Kinder ist der Hauptprotagonist dieses Romans - Gabriel, genannt Gaby.
"Die Menschen in dieser Gegend waren wie die Erde. Hinter scheinbarer Ruhe, einer lächelnden Fassade und großen optimistischen Reden waren beständig dunkle, unterirdische Kräfte am Werk, um Gewalt und Zerstörung freizusetzen, die in wiederkehrenden Perioden durchs Land fegten wie tückische Winde: 1965, 1972, 1988. Ein böser Geist schaute regelmäßig vorbei, um die Menschen daran zu erinnern, dass Friede nur ein kleines Intervall zwischen zwei Kriegen ist." (S. 116 f.)
Quelle: Piper
Gaby hat seine Kindheit in seinem eigenen kleinen Land verbracht. Er lebte mit seiner Familie in einer Sackgasse in Bujumbura, der Hauptstadt Burundis. In dieser Sackgasse war die Welt noch in Ordnung. Kinder, die hier aufwuchsen, waren privilegiert. Ihre Eltern waren wohlhabend und konnten sich und ihren Familien ein sorgenfreies Leben ermöglichen. Gabys Vater war Franzose, seine Mutter kam aus dem benachbarten Ruanda. Die Kinder, die in dieser Sackgasse lebten, waren dicke Freunde. Sie hatten viel Spaß miteinander und machten natürlich auch viel Blödsinn. Sie lebten in einem geschützten Kokon. Die Jungs bekamen zunächst nicht viel von den Problemen mit, die in Burundi bzw. im Nachbarland Ruanda herrschten. Doch irgendwann war Schluss mit der Idylle. Der Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen Hutu und Tutsi, der im Genozid an den Tutsi gipfelte, machte auch vor Burundi nicht halt. Gabys Mutter machte sich auf die Suche nach ihren verschollenen Angehörigen in Ruanda. Der Vater blieb mit seinen Kindern (Gaby und dessen Schwester Ana) zurück. Als Gefahr und Terror in Burundi immer größer wurden, entschloss er sich, die Kinder nach Frankreich zu schicken.
"Völkermord ist ein schwarzer Sumpf, wer nicht darin untergeht, ist für sein Leben verseucht." (S. 188)
Etwa 20 Jahre später erzählt Gaby die Geschichte seiner Kindheit. In Frankreich fühlt er sich entwurzelt, hat Sehnsucht nach seiner Heimat und will wieder zurückgehen. Der Roman endet schließlich mit der Rückkehr von Gaby nach Burundi.

Die Stimmung, die in diesem Roman vermittelt wird, ist eine Mischung aus Unbeschwertheit und tiefer Traurigkeit. Der Autor Gaël Faye schildert eine Kindheit, die an Lausbubengeschichten erinnert. Die Welt ist in Ordnung, die Kinder haben Spaß, der eine oder andere Streich gehört zum Kindsein dazu. Doch in dem Moment, wo sich die Auswirkungen des Bürgerkrieges auf die Kinder zeigen, nimmt die tiefe Traurigkeit in diesem Roman zu. Der Ich-Erzähler Gaby spürt, wie seine heile Welt zerbricht. Die Anzeichen machen ihm Angst. Er spürt, dass seine Kindheit ein abruptes Ende nehmen wird. Der Sprachstil des Autors tut sein Übriges dazu. Mit seinen leisen Tönen versteht er es, den Leser zu berühren. Gaël Faye hat die Angewohnheit, die einzelnen Kapitel mit einem bedeutungsschwangeren Satz enden zu lassen. Das sind Sätze, die andeuten und nachhallen. Die Wirkung, die er damit erzielt ist eine tiefe Betroffenheit beim Leser. Die Traurigkeit, die Gaby ausstrahlt ist dadurch nahezu körperlich spürbar.
"Ich hatte keine Erklärung für den Tod der einen und den Hass der anderen. Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht." (S. 200)
Fazit:
"Kleines Land" ist ein Buch, das mich durch die Intensität der Gefühle, die vermittelt werden, gefesselt hat. Der Autor Gaël Faye schafft es, Unbeschwertheit und Traurigkeit miteinander in Einklang zu bringen. Es gibt Passagen in diesem Roman, die liest man mit einem Lächeln. Andere wiederum machen tief betroffen. Ein großartiges Buch, das ich gern weiterempfehle.

© Renie


Über den Autor:
Gaël Faye, 1982 in Burundi geboren, wuchs als Kind einer ruandischen Mutter und eines französischen Vaters auf, bevor er 1995 als Folge des Bürgerkriegs nach Frankreich flüchten musste. Nach dem Ende seines Wirtschaftsstudiums arbeitete er zwei Jahre als Investmentbanker in London, bevor er nach Frankreich zurückkehrte, um dort als Autor, Musiker und Sänger zu arbeiten. Sein erster Roman »Kleines Land« war nominiert für den Prix Goncourt und erhielt unter anderem den Prix Goncourt des Lycéens. (Quelle: Piper)

Freitag, 22. Dezember 2017

Bernd Mittenzwei: Die zweite Luft

Pixabay/Ratfink1973
Die Novelle "Die zweite Luft" von Bernd Mittenzwei gehört zweifellos zu einem meiner Glücksgriffe ins Bücherregal. Wobei der Verlag A. Fritz kräftig nachgeholfen hat. Hätte mir der Verlag dieses kleine, aber feine Büchlein nicht vor einiger Zeit als Leseexemplar angeboten, wäre es nie in mein Regal gelangt. Die Buchbeschreibung hat mich jedoch neugierig gemacht. Die entscheidende Frage war für mich: "Und das soll funktionieren?"
In diesem Buch geht es um drei einander fremde Personen, die an einer Kreuzung irgendwo in der Oberpfalz der 80er Jahre zufällig aufeinandertreffen. Nicht mehr und nicht weniger. Und aus diesem banalen Ansatz heraus hat der Autor Bernd Mittenzwei eine Geschichte geschaffen, die mich schlichtweg umgehauen hat.

Die Novelle beginnt mit Lydia. Diese tritt zu ihrer morgendlichen Laufrunde an. Und sie läuft und läuft, dabei schießen ihr diverse Gedanken durch den Kopf, die sie mit dem Leser teilt.

Am Abend zuvor ist Ernst Stenger mit seiner Frau Nadine bei den Nachbarn eingeladen. Stenger kann seinen Nachbarn nicht ausstehen, würde am liebsten absagen, gibt aber dem Druck seiner Frau nach. Frauen haben so ihre Mittelchen, um ihre Männer gefügig zu machen. Der Abend beginnt, wie Stenger befürchtet hat .... unerträglich. Da hilft nur Alkohol.

Desweiteren trifft der Leser auf Stefan, den Altenpfleger, der einen besonders anstrengenden Zögling betreut, und welcher Stefan völlig unverblümt sein Durchschnittsleben vorwirft. Das Schlimme ist, dass der Alte auch noch Recht hat.
Für Stefan und Stenger endet der Abend sehr überraschend - nicht nur für sie selber, sondern auch für den Leser.
Denn am nächsten Tag kommt es morgens zu einem Aufeinanderprallen der 3 Fremden. Sie durchleben ein Ereignis, mit dem keiner gerechnet hat.

Die Charaktere:
Mein Leserherz schlägt für die beiden Männer. Obwohl Stenger Alkoholiker ist, mit allem, was dazu gehört, habe ich große Sympathien für ihn entwickelt. Er, der sich in sein Schicksal fügen und den unsympathischen Nachbarn ertragen muss. Stenger versucht, sich den Abend schön zu trinken. Manchmal hilft halt nur Alkohol. Dabei ist Stenger lustig und bietet dem nervigen Nachbarn verbal die Stirn, fernab von jeder Höflichkeit. Stender läuft in dieser Situation zur Höchstform auf und den Leser freut soviel hemmungslose Offenheit. Aber Stenger hat auch eine Vergangenheit, die ihn zu dem Alkoholiker und Zyniker gemacht hat, der er heute ist. Erst zum Schluss erfährt der Leser die ganze Wahrheit um Stenger.
"Und einer wie er selbst, einer, der das Leben sieht wie es ist, der geradeheraus ist und keinem etwas vormacht, der gibt das Arschloch für euch alle. Ja, glaubt denn hier irgendwer, es macht Spaß, das Arschloch zu sein?" (S. 124 f.)
Stefan ist eigentlich als Altenpfleger zufrieden mit seinem Leben. Doch andere sind es nicht. Insbesondere seine Eltern hätten sich für ihren Sohn einen ambitionierteren Beruf gewünscht. So ficht Stefan einen ständigen Kampf aus: das, was er will gegen das, was andere für ihn wollen. Wenn ihn dann auch noch seine Zöglinge kritisieren, dass er aus seinem Leben nichts gemacht hat, und er ein Versager ist, läuft das Fass über. Stefan setzt sich auf seine ganz eigene Art zur Wehr. Nur an die Konsequenzen hat er in diesem Moment nicht gedacht.
"Er lebte in einer anderen Welt. Einer Welt, in der es stank, in der es Leid gab, einer Welt, in der man starb. Das war in ihren Augen unverzeihlich." (S. 90)
Bleibt noch Lydia, die ewig Laufende. Laufen ist für sie ein Mittel, den Kopf freizukriegen. Beruflich läuft es nicht, privat auch nicht. Während sie durch die Oberpfalz läuft und ihren Gedanken nachgeht, lernt man eine Lydia kennen, die sehr zurückhaltend ist und mit einem Mangel an Selbstbewusstsein zu kämpfen hat. Erst das Zusammentreffen mit Stenger und Stefan macht aus der schwachen Lydia eine starke Lydia. Fast scheint es, als ob dieses Aufeinanderprallen der drei Fremden der Schlüssel zu Lydias Selbstvertrauen ist. Die beiden Männer sind handlungsunfähig - der eine, weil er sturzbetrunken ist, der andere, weil es ihn mit dem Fahrrad zerlegt hat. Lydia nimmt das Zepter in die Hand, sagt den beiden Männern, was zu tun ist und strotzt nur so vor Sicherheit. Lydia ist am Ende die gute Fee, die den beiden Männern den Weg zurück in ein geordnetes Leben weist.

Erwähnen möchte ich noch den Sprachstil von Bernd Mittenzwei. Seine Sprache zeichnet sich durch geistreichen Wortwitz aus. Es macht Spaß, seinen sehr bildhaften Ausführungen zu folgen. Der Autor scheint ein Freund von Metaphern und Vergleichen zu sein. Das bin ich auch. Doch manchmal war es mir in dieser Novelle des Guten zu viel. Als "die Sonne eine Blutorange war, die sich an der ausgezackten Silhouette der Nürnberger Innenstadt zerquetschte und ihren Saft zwischen den Straßenschluchten des Bahnhofsviertels verströmte", zuckte ich beim Lesen zusammen. Ich könnte noch ein, zwei Stellen nennen, bei denen es mir ähnlich erging. Mancher Leser mag dies als fantasievolle Ausdrucksweise bezeichnen, mich hat es in jenen Momenten gestört. Nichtsdestotrotz habe ich die Sprache von Bernd Mittenzwei aufgrund ihres Wortwitzes sehr genossen. Über diese wenigen Momente der überbordenden Fantasie bin ich dann am Ende gern hinweg gegangen.

Fazit:
  • eine Geschichte voller Überraschungen 
  • Charaktere, die mir ans Herz gewachsen sind 
  • ein Autor mit einem Sprachstil zum Genießen, auch wenn es manchmal zuviel des Guten ist

© Renie




Über den Autor:
Bernd Mittenzwei wurde 1961 geboren und wuchs in einem Arbeiterviertel in der Nürnberger Südstadt auf. Studium der Germanistik und Theologie. Pflegehilfskraft, Hausmeister, Journalist, Herausgeber einer Literaturzeitschrift, schließlich Lehrer. Lebt in der fränkischen Provinz. (Quelle: A. Fritz Verlag)

Freitag, 15. Dezember 2017

Yael Inokai: Mahlstrom

Quelle: Pixabay/Noupload
"Mahlstrom" - ein treffender Titel für einen Roman, dessen Handlung einen Sog entwickelt, der mich förmlich mitgerissen hat. Für mich ist dieser beeindruckende Roman der Schweizerin Yael Inokai eine meiner Entdeckungen dieses Jahres.


Die Autorin führt den Leser in ein schweizerisches Bergdorf, in der die Welt alles andere als in Ordnung ist. Die Geschichte beginnt mit dem Selbstmord von Barbara, einer jungen Frau, die von Geburt an hier gelebt hat. Man findet ihre Leiche im Fluss. Natürlich stellt sich die Frage, was Barbara dazu getrieben hat, Selbstmord zu begehen. Erzählt wird die Geschichte aus mehreren Perspektiven. Barbara gehörte zu einer Clique von 6 jungen Menschen, die zusammen in diesem Dorf aufgewachsen sind. Diese Personen erinnern sich an Episoden aus ihrer gemeinsamen Kindheit bis hin zur Gegenwart. Dabei entwickeln sich Bilder von der Dorfgemeinschaft und ihrem Miteinander, die nur schwer zu verdauen sind.

"Wir dürfen sie beerdigen, stand schließlich auf einem Formular.
Die Eltern und der Bruder suchten einen Sarg aus.
Die Gärtnerin fing mit Graben an.
Der Geistliche begann zu schreiben.
Wir anderen lagen im Dunkel unserer Häuser und gaben vor zu schlafen." (S. 8)

Quelle: Rotpunkt Verlag
Wer davon ausgeht ist, dass die 6 Personen Freunde seit Kindheitstagen sind, wird eines Besseren belehrt. Der "Freundeskreis" wird im Verlauf der Erzählung förmlich seziert. Im Roman taucht der Satz auf: "..., dass man ein ganzes Leben zusammen sein kann, ohne sich je gegenseitig zu sehen und wahrzunehmen." (S. 129). Diese Aussage trifft das Leben der Freunde in diesem Dorf auf den Punkt. Sie geben wenig von sich Preis. Sollte ich die einzelnen Personen charakterisieren, ich könnte es nicht. Selbst wenn sie als Kinder viel Zeit miteinander verbracht haben, sind sie sich doch fremd geblieben. 



Das Leben in diesem Dorf ist kein Zuckerschlecken. Yael Inokai beschreibt eine Dorfgemeinschaft, die herzlich wenig mit dem Idyll eines Bullerbü zu tun hat. Stattdessen trifft man auf Misstrauen, Gehässigkeit und Falschheit. Schwächen und Andersartigkeit werden nicht verziehen. Ganz im Gegenteil. Hier herrscht eine Hackordnung, in der Schwächere bestraft werden. Diese Mentalität findet sich von klein auf in dieser Dorfwelt. "Kinder können grausam sein" - ein Gedanke, der einem bei der Lektüre dieses Romanes mehrfach durch den Kopf schießen wird.

"Manchmal bist du eben dran, sagte er, nachdem wir uns aufs Bett gesetzt hatten, aber dann sind auch wieder andere dran. Das darfst du nicht persönlich nehmen." (S. 110)

Mein Highlight in diesem Roman ist der eindringliche Sprachstil der 28-jährigen Autorin, der mich von der ersten Seite an fasziniert hat. Er sorgt für eine Stimmung, die ich zwar als bedrückend empfunden habe, der ich mich aber auf gar keinen Fall entziehen wollte. Denn Yael Inokai spielt mit der Sprache, indem sie ungewöhnliche Vergleiche und Metaphern verwendet. Dadurch wirkt ihr Stil sehr poetisch. Durch geschicktes Platzieren von Andeutungen entwickelt sich eine Spannung in dem Roman, die einen nicht loslässt. Die Frage nach dem Warum von Barbaras Selbstmord, tritt mit der Zeit in den Hintergrund. In den Vordergrund rückt dafür das Miteinander der "Freunde" und ein gemeinsames Geheimnis, das im Verlauf der Geschichte aufgedeckt wird.

Fazit:
"Mahlstrom" ist hohe Erzählkunst. Der Roman fasziniert durch seinen poetischen Sprachstil und die Stimmung, die auf den Leser übertragen wird. Yael Inokai ist für mich eine Entdeckung. Ich freue mich schon auf weitere Bücher von ihr.

© Renie



Über die Autorin:



Yael Inokai (vormals Pieren) wurde 1989 als Tochter einer Deutschen und eines Ungarn in Basel geboren. Philosophiestudium in Basel und Wien; seit 2014 Studiengang Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, Berlin. Tätigkeit als Fremdenführerin. Publikationen in verschiedenen Literaturzeitschriften sowie auf Zeit online. Aufenthaltsstipendium Literarisches Colloquium Berlin; Hildesheimer Stadtschreiberin für Bella Triste. Nach ihrem viel beachteten Debüt Storchenbiss (2012) legt sie mit Mahlstrom nun ihren zweiten Roman vor. (Quelle: Rotpunkt Verlag)

Freitag, 8. Dezember 2017

Arnoldo Gálvez Suárez: Die Rache der Mercedes Lima

Quelle: Edition Büchergilde/Kirchner PR

Jedes Jahr werden in Deutschland um die 100.000 Bücher veröffentlicht. Wieviel es weltweit sind, weiß ich nicht, mag es mir auch kaum vorstellen. Ich lese sehr viel, werde aber im Leben nicht alles lesen können, was ich möchte. Lesezeit ist leider begrenzt. Daher werden mir unzählige lesenswerte Bücher durch die Lappen gehen, zum Einen, weil mir die Zeit fehlt, sie zu lesen, zum Anderen, weil ich überhaupt nicht weiß, dass sie existieren. Ich bin daher dankbar, dass es Portale wie Lit.Prom gibt, die regelmäßig über Literatur aus anderen Ländern und Kulturkreisen informieren. Literatur, über die in Deutschland sonst kaum jemand sprechen würde, die aber aufgrund ihrer Qualität durchaus viel Aufmerksamkeit verdient hätten.
Auch einige deutsche Verlage räumen den Exoten einen Platz in ihrem Programm ein. Dazu gehört auch die Büchergilde, die mit ihrer Reihe "Weltlese" die deutschsprachige Leserschaft an "weitgehend unbekannten Autoren und Autorinnen, ungewöhnlichen Themen und vergessenen Kleinodien" teilhaben lässt. Herausgeber dieser Reihe ist der Schriftsteller Ilija Trojanow, der mir aus der Seele spricht, wenn er meint "Es ist schade, einen wunderbaren Roman zu verpassen, nur weil er das Pech hat, zum Beispiel in Haiti geschrieben worden zu sein." (Auszug aus einem Interview, Quelle: Büchergilde)

Einer dieser Entdeckungen von Ilija Trojanow ist der Roman "Die Rache der Mercedes Lima" des guatemaltekischen Schriftstellers Arnoldo Gálvez Suárez.
Dieser sehr vielschichtige Roman über den Tod des Geschichtsprofessors Daniel Rodriguez Mena ist eine ungewöhnliche Mischung aus Thriller und Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte des, vom Bürgerkrieg gebeutelten Guatemala.
"Ich roch Blut und hörte Schluchzen und die Unterhaltungen von Staatsanwälten und Sensationsreportern, die fähig sind, angesichts einer verstümmelten, von Schüssen durchsiebten oder gefolterten Leiche einen Muffin und Würstchen mit Spiegelei zu frühstücken." (S. 63)
Der Roman beginnt mit einem prägenden Kindheitserlebnis von Alberto (Ich-Erzähler), einem der beiden Söhne des Professors. Er beobachtete vor ca. 25 Jahren eine nächtliche Szene zwischen seinen Eltern: der blutverschmierte Vater, weinend und voller Angst, der von seiner Frau im Arm gehalten wird. Wenige Tage später ist Albertos Vater tot, wahrscheinlich ist er ein weiteres Opfer der Militärdiktatur geworden.

Die genauen Umstände des Todes sind den Jungen verschwiegen worden. Zu der damaligen Zeit lebte noch eine Studentin des Vaters (Mercedes Lima) für ein paar Wochen mit der Familie zusammen. Ungewöhnlich, dass eine Studentin bei ihrem Professor wohnt. Aber da sie sich in einer Notlage befand, sah der Professor es als seine Pflicht an, sich um sie zu kümmern. Sehr zum Ärger und Unverständnis seiner Frau. Jahre später vermutet Alberto, dass Mercedes Lima in irgendeiner Form in die Geschehnisse um seinen Vater verwickelt war. Als er sie per Zufall wieder trifft, reift in ihm der Gedanke, dass sie ihm bei der Aufklärung über die wahren Umstände, die zum Tod seines Vaters geführt haben, helfen könnte. Zunächst stellt er ihr heimlich nach. Irgendwann ertappt sie ihn dabei, so dass er sich gezwungen sieht, sie direkt mit seinen Fragen zu konfrontieren. Die beiden kommen sich mit der Zeit näher. Nach und nach erzählt Mercedes Lima, was damals wirklich geschah.
"Mercedes Lima lacht und weint. Es ist nicht auszumachen, wo das Lachen aufhört und das Weinen anfängt, es ist das Gleiche." (S. 234)
Es stellt sich jedoch die Frage, ob Mercedes Lima aufrichtig ist, in dem, was sie Alberto über seinen Vater und ihr Verhältnis zu ihm erzählt. Denn die Handlung um Alberto, die in der Gegenwart spielt, wird zwischenzeitlich von der Geschichte des Vaters (der 2. Ich-Erzähler) unterbrochen, die natürlich in der Vergangenheit stattfindet. Der Vater schildert die Ereignisse aus seiner Sicht. Dabei wird der Leser minimale Abweichungen von Mercedes' Version entdecken, die an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln lassen.
Photo by Samuel Zeller on Unsplash

Ich habe den Charakter der Mercedes Lima zwiespältig wahrgenommen. Aus der Sicht des Vaters dargestellt, ist sie eine junge Studentin, schüchtern, ängstlich, schutzbedürftig und natürlich gut aussehend. Der Vater ist von ihr verzaubert, ähnelt sie zudem einer früheren Studentin, deren Tod Schuldgefühle bei ihm ausgelöst hat. Insofern sieht er sich (quasi als Wiedergutmachung) in der Verantwortung, sich um Mercedes Lima, die in Schwierigkeiten steckt, zu kümmern.
25 Jahre später hat Mercedes nur noch wenig von dem, was sie für den Vater faszinierend gemacht hat - abgesehen von ihrem guten Aussehen, auf das auch der Sohn anspricht. Die Jahre haben sie reifer und abgeklärter gemacht. Sie hat gelernt, im Leben allein zurecht zu kommen und das nicht gerade schlecht. In ihrem Leben sind Dinge geschehen, um die sie ein großes Geheimnis macht. Erst nach und nach zeichnet sich ab, worum es dabei geht.

Die Lebenswege von Vater und Sohn weisen viele Parallelen auf. Die Figur des Vaters lässt sich folgendermaßen beschreiben: ein farbloser Typ, mit einer mittelmäßigen Karriere und einem unaufgeregten Leben; verheiratet mit einer gleichgültigen Frau, die er nicht liebt - zumindest hat er verlernt, sie zu lieben. Der Mann hat sich an sein Leben gewöhnt, träumt jedoch davon, aus seinem Durchschnittsleben auszubrechen, mal etwas zu riskieren. Die politische Situation in seinem Land jagt ihm Angst ein. Als Akademiker ist er ständig der Gefahr ausgesetzt, ins Visier der Machthaber zu geraten. Daher versucht er, sich möglichst unsichtbar zu machen und sich nicht einzumischen. Er schämt sich seiner Feigheit und träumt sich daher Mut herbei. Mercedes Lima bietet ihm diese Gelegenheit.
"Er denkt: Das spielt keine Rolle, Daniel, du hast eine zweite Chance bekommen, das Mädchen mit dem langen, schwarzen, glänzenden Haar wird endlich in Frieden ruhen, dir nicht mehr ins Ohr flüstern: 'Sie müssen handeln, Ihre bürgerliche Bequemlichkeit abschütteln, aufhören, nur Zuschauer zu sein. Tun Sie endlich was, Herr Dozent!'" (S. 198)
Der Sohn Alberto hat in seinem Erwachsenenleben große Ähnlichkeit mit seinem Vater. Beruflich kommt er nicht voran, das Zusammenleben mit seiner Freundin ist von Gleichgültigkeit geprägt. Auch ihm bietet Mercedes Lima die Gelegenheit, aus seiner Routine auszubrechen.
"Es ist nicht die Angst vor dem Tod oder davor, Schrecken und Leid zu erleben. Es ist die nackte Angst, ein schweres Bleirad auf der Brust, die keinen Anfang und kein Ende hat." (S. 95)
Dieser Roman ist keine leichte Kost. Die jüngste Geschichte Guatemalas hat dem Leben in diesem Land seinen Stempel aufgedrückt. Die Angst scheint ein ständiger Begleiter im Alltag zu sein. Die Protagonisten dieses Romanes scheinen sich damit arrangiert zu haben. Gewalt und Brutalität drohen überall. Da hilft nur, den Kopf einzuziehen. Aber manchmal schafft man es nicht, sich schnell genug weg zu ducken und wird somit schneller zum Opfer als man denkt. Der Sprachstil von Suárez ist sehr eindringlich. Er beschönigt nichts. Stattdessen schildert er die Brutalität mit einer Nüchternheit, die sie umso verstörender macht.

Fazit:
Wenn man das Buchcover der Edition Büchergilde betrachtet, welches das Gemälde "La Hermandad" des guatemaltekischen Malers Carlos Perez darstellt, wird man unweigerlich von den traurigen Augen des abgebildeten Mädchens angezogen. Man verliert sich förmlich in ihrem eindringlichen Blick. Und genauso hat mich dieser besondere Roman in seinen Bann gezogen. Eindringlich, teilweise verstörend, aber fesselnd bis zum Schluss!

© Renie



Über den Autor:
Arnoldo Gálvez Suárez, geboren 1982 in Guatemala-Stadt, ist Schriftsteller und Professor für Journalistische Textgestaltung. Seit 2011 koordiniert er das Kommunikationsteam von interpeace, einer unabhängigen internationalen Organisation für Friedensarbeit. Sein Debütroman Los Jueces (2008) wurde mit dem Mario Monteforte Toledo Prize for Fictionausgzeichnet, 2013 folgte ein hochgelobter Band mit Kurzgeschichten. Der vorliegende Roman erhielt 2015 den BAM Letras Prize for Fiction. (Quelle: Edition Büchergilde)

Donnerstag, 30. November 2017

Frank Viva: Ganz weit weg

Alljährlich kürt die Stiftung Buchkunst die das schönste Buch. Wer allerdings glaubt, dass das schönste Buch immer durch besondere Illustrationen besticht, ist schief gewickelt. Denn die Bewertungskriterien, welche die Stiftung Buchkunst zugrunde legt, sind komplexer. Letztendlich zählt das "Gesamtpaket" eines Buches, also Gestaltung, Konzeption und Verarbeitung.

In diesem Jahr gehörte zu den 25 schönsten deutschen Büchern ein Kinderbuch des  Diogenes Verlages: "Ganz weit weg" von Frank Viva. Das Buch wird für Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren empfohlen. Es ist ein Bilderbuch, in dem es um einen Alien (oder einen Krake?) geht, der vom tiefsten Meeresgrund der Erde bis ins Weltall zu seinem Heimatplaneten aufsteigt ... und wieder zurück. Der Clou an dem Buch ist, dass man die Geschichte aus zwei Richtungen erleben kann: vom Meer ins Weltall und umgekehrt. "Wo ist denn da die Sinngebung?", wird der pädagogisch denkende Erwachsene fragen. Gibt es keine Lehre in dem Buch, irgendetwas, das man dem Kind mit auf seinen Lebensweg geben kann, und welches ihm das Heranwachsen erleichtert?
Nein, gibt es nicht. Stattdessen findet man in dem Buch viel Spaß und Freude. Da das Leben schon ernst genug ist, und Kinder dies noch früh genug feststellen werden, ist der Spaß, der in diesem bezaubernden Bilderbuch vermittelt wird, aber Grund genug, sich mit diesem Buch zu befassen.

Wie immer, wenn ich einen Artikel über ein Kinderbuch schreibe, habe ich mir einen Spezialisten dazugeholt: meinen Junior, mittlerweile 12 Jahre alt, daher vielleicht nicht ganz die Zielgruppe für dieses Buch. Aber immer noch kindlich genug, dass er großen Spaß  daran hatte.

Zunächst beschäftigte uns die Frage, welches Wesen der Hauptprotagonist dieses Buches ist.

Junior: Für mich ist es ein Alien.
Renie: Für mich sieht es aus wie ein Krake.
Junior: Ist doch Quatsch. Sieh doch mal, es hat eine Antenne auf dem Kopf. Daher ist es ganz klar ein Alien. Sollen wir ihm einen Namen geben? Ich bin für Bobby.
(Im Nachhinein habe ich der Buchbeschreibung des Verlages entnommen, dass es sich bei dem Wesen um einen Alien-Fisch handelt - was auch immer das sein mag)

Das Buch beginnt für uns mit Bobby auf dem Meeresgrund. Von Seite zu Seite schwebt Bobby nach oben. Er kommt an diversen Unterwasserkreaturen vorbei, taucht auf, steigt immer höher, begegnet diversen Flugobjekten, rauscht am Mond vorbei bis hin zu seinem Heimatplaneten, wo ihn Vater und Mutter begrüßen. Oder verabschieden? Denn das ist das Besondere an diesem Buch. Je nachdem für welchen Anfang man sich entscheidet, geht es für Bobby nach oben ins Weltall oder nach unten in die Meerestiefen - quasi Bobby in der Endlosschleife.

Junior: Es sieht so aus, als ob Bobby an einem Seil entlang schwebt.
Renie: Stimmt. Jede Seite wird von einer gelben Linie mal mehr und mal weniger kurvig durchzogen. Je länger ich die Bilder betrachte, umso mehr Einzelheiten fallen mir auf.
Junior: Geht mir genauso. Sieh mal, Bobby fliegt am Mond vorbei. Er sieht traurig aus (Bobby natürlich, nicht der Mond). Wahrscheinlich ist er einsam auf dem langen Weg durch's Weltall. Schade, dass es den Mann im Mond nicht gibt. Bei dem könnte er anhalten und eine Pause machen.

Renie: Ist dir aufgefallen, dass die Seiten alle ähnlich aufgebaut sind? Der Hintergrund ist entweder blau oder schwarz. Insgesamt hat der Bilderbuchautor nur 4 Farben verwendet: blau, schwarz, gelb, rot. Alle Seiten werden von dieser gelben Linie durchzogen. Die Zeichnungen wirken schnörkellos, da sie sich nur auf das Wesentliche konzentrieren.
Junior: Verstehe ich nicht.
Renie: Sieh dir doch beispielsweise die Gesichter an: Punkte für die Augen, ein Strich für den Mund, mal mit, mal ohne Nase. Oder die Bereiche, durch die Bobby kommt. Er fliegt über einem Ort. Was fällt dir daran auf?
Junior: Hier gibt es kaum Autos oder Menschen. In einem Ort ist normalerweise mehr los.
Renie: Genau. Und doch wirken die Zeichnungen sehr lebhaft und lustig, was an den kräftigen und leuchtenden Farben liegt, die der Autor verwendet hat. Trotzdem er die Gesichter mit nur wenigen Strichen gezeichnet hat, kann man erkennen, in welcher Stimmung die Figuren sind. Also, ob sie traurig sind, sich freuen, ängstlich sind usw.
Junior: Ich wünschte, ich könnte auch so toll malen. Mit so wenigen Strichen so viel ausdrücken zu können, ist schon eine Kunst.

(Auszug aus dem Buch)
Renie: Wusstest du, dass dieses Buch zu den schönsten deutschen Büchern in diesem Jahr gehört?
Junior: Echt? Aber das ist doch ein Kinderbuch.
Renie: Das ist doch egal. Buch ist Buch. Kannst du dir vorstellen, warum es zu den schönsten Büchern gehört?
Junior: Weil man es aus 2 Richtungen ansehen kann?
Renie: Meinst du? Aber es gibt doch viele Bücher, die so gemacht sind, dass du sie sowohl vom Anfang als auch vom Ende beginnen kannst.
Junior: Ja, aber dieses kannst du bis zum Ende durchblättern, dann drehst du es um und blätterst wieder zurück. Und jedes Mal wird die Geschichte wieder von Vorne erzählt. Nur dass Bobby mal hoch steigt oder mal herab sinkt. Bei den meisten Büchern, werden zwei Geschichten erzählt, die sich in der Mitte treffen.
Renie: Donnerwetter, das war mir nicht bewusst. Aber stimmt, das macht das Buch so besonders.
Wie ich später feststellen musste, hat Junior mit seiner Vermutung Recht. Die Begründung der Stiftung Buchkunst zur Auswahl dieses Buches geht u. a. tatsächlich in dieselbe Richtung, die Junior angesprochen hat. Die Jury beschreibt dieses Bilderbuch sogar als "Jojo-Buch". (Hier geht es zur kompletten Begründung der Jury der Stiftung Buchkunst)

Renie: Hast du bei diesem Buch etwas gelernt? 
Junior: Nein, das ist doch kein Schulbuch. Außerdem sollen Bücher Spaß machen. Und den hatte ich mit diesem Buch.
Renie: Weise Worte, mein Sohn. So etwas Ähnliches sage ich auch immer über Bücher.

© Renie und Junior





Über den Autor:
Frank Viva ist Kanadier, Illustrator, Designer und Inhaber einer Marken- und Designagentur in Toronto. Er gestaltet Covers für den ›New Yorker‹ und ist Präsident des Advertising and Design Clubs of Canada. Neben seiner Beratertätigkeit für zwei Colleges hat er außerdem eine Leidenschaft für das Kochen, Essen und seine tägliche Radtour ins Büro. Er lebt in Toronto. (Quelle: Diogenes)

Donnerstag, 23. November 2017

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie

Quelle: Pixabay/aitoff
Ich lese gern Romane über Promis, insbesondere, wenn die Promis so wenig prominent sind wie William James Sidis, der Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt hat. Sidis ist nicht freiwillig zum Promi geworden. Stattdessen ist er von seinen Eltern und der Öffentlichkeit dazu gemacht worden. Er war das Studienobjekt seines Vaters Boris, der an seinem Sohn seine ganz spezielle Erziehungsmethode erprobt hat. Boris ging davon aus, dass man aus jedem Menschen ein Genie machen kann, fängt man nur früh genug damit an. Bei William hat sich diese Theorie bewahrheitet. Denn bereits im Alter von 18 Monaten konnte der kleine Billy lesen, und bis zu seinem 8. Lebensjahr hatte er bereits 4 Bücher geschrieben. Ich rede nicht von Kinderbüchern sondern von wissenschaftlichen Abhandlungen. Sein IQ wurde auf 250 geschätzt - gemessen wurde er nie. Wozu auch. Williams Leistungen sprachen für sich. Er beherrschte 40 Sprachen, war von klein auf in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen zuhause. Selbstredend, dass er Schule und Elite-Uni im Schnelldurchlauf absolviert hat.
"Der Mensch besitzt kein höheres Recht und keine höhere Pflicht, als sich zur Perfektion heranzubilden." (S. 154)
Die Geschichte um William J. Sidis beginnt mit dem Tag, an dem Vater Boris das erste Mal amerikanischen Boden betritt und in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten einwandert. Der gebürtige Russe schafft es tatsächlich, seinen persönlichen amerikanischen Traum zu leben. Sein Lebensinhalt besteht darin, Wissen in sich aufzusaugen, was er auch unentwegt macht. Er vermittelt dieses Wissen auch an andere. Unter diesen Bedingungen lernt er seine spätere Ehefrau kennen. Irgendwann ist das Ehepaar zu Dritt. William wird geboren. Von jetzt an steht William im Mittelpunkt des Romans. Der Leser begleitet dabei den kompletten Lebensweg von William. Leider stirbt William J. Sidis bereits mit 46 Jahren an einer Gehirnblutung.
Quelle: Diogenes

Auf Seite 527 dieses Buches gibt es eine sehr passende Beschreibung zu Williams Entwicklung, die sich auf den Aufbau des Romanes anwenden lässt, und die ich an dieser Stelle gern übernehme:
Das Kind William Sidis - "das Erziehungsexperiment, das Wunderkind, der Alleskönner, das Mathematikgenie"
In diesem Teil des Romanes muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, wie jung William in dieser Phase war: Er wurde vom ersten Tag seiner Geburt an mit Wissen bombardiert. Mit nur 18 Monaten war er in der Lage, flüssig zu lesen. Gelesen wurden keine trivialen Kinderbücher, sondern Erwachsenenliteratur und wissenschaftliche Bücher.
Mit 3 Jahren hatte er einen Wortschatz entwickelt, der weit über die Ausdrucksfähigkeit manches Erwachsenen hinausging. Man stelle sich vor: ein 3-Jähriger, der sich an den Diskussionen Erwachsener beteiligt.
Als 6-Jähriger war er verpflichtet, die Schule zu besuchen, auch wenn sein Wissensstand weit über den seiner Altersgenossen und der Lehrer hinausging.
Mit 11 Jahren wurde er schließlich in Harvard aufgenommen, wo er seinem unendlichen Wissensdrang nachgeben und sich in unterschiedlichen Disziplinen austoben konnte.
"Später dann: Sidis, der Sonderling, der Frauenfeind, der Bolschewist, der Aufrührer"
Mit 17 Jahren übernimmt William einen Lehrtätigkeit in einer privaten Bildungseinrichtung in Houston. Es war nicht so, dass es sich hierbei um einen Traumjob handelte. Vielmehr wurde er von seiner Mutter genötigt, seinen Lebensunterhalt endlich selbst zu finanzieren. Für einen jungen Mann mit seinem Genius sollte dies eigentlich ein Klacks sein. Doch William ist zum Sonderling erzogen worden. Er war nicht in der Lage, sich den Gepflogenheiten und Normen der Gesellschaft anzupassen. 
"Aber der junge Sidis war nun einmal ein Genie, und für die galten andere Regeln. Diogenes, Leonardo, Newton, Rousseau - bestand die Geistesgeschichte nicht aus einer langen Kette von Sonderlingen, die mit ihrem Benehmen ihre jeweiligen Zeitgenossen vor den Kopf stoßen mussten, weil sie nun einmal nicht in deren kleine Welt passten?"
Seine Andersartigkeit wird von Kollegen geduldet, jedoch nicht von seinen Studenten. Da er ungefähr im gleichen Alter wie seine Studenten ist, hat er Mühe sich den Respekt zu verschaffen, der für eine Lehrtätigkeit notwendig ist. Kurzum, das Projekt "Wissensvermittlung" scheitert, wie so viele andere Dinge in Sidis' Leben.
Mit Frauen kann er übrigens nichts anfangen. Sie sind ihm suspekt und sorgen nur dafür, dass Mann den Fokus auf seine Bildung verliert. Daher hat er ein gestörtes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht.
"Und zuletzt: Sidis, der Verkrachte, der Erloschene, der Hilfsarbeiter, der Elternhasser."
Sidis fühlt sich mit der Zeit verraten und verkauft. Zwischenzeitlich nimmt er eine Forschungstätigkeit an, schmeißt den Job jedoch hin, nachdem er feststellt, dass seine geistige Arbeit für militärische Zwecke eingesetzt werden soll. Denn Sidis ist Pazifist. Er verabscheut jede Form von Gewalt und möchte sich auch nicht für den Krieg instrumentalisieren lassen. Das Interesse der Presse an seiner Person lässt nicht nach. Er verabscheut, in der Öffentlichkeit stehen zu müssen. Ganz im Gegensatz zu seiner Mutter, für die es eine Selbstverständlichkeit ist, dass ein Mann mit seinen Fähigkeiten, der Öffentlichkeit "gehört". William bricht mit seinem Elternhaus und zieht sich zurück. Seinen Lebensunterhalt verdient er durch einfache Hilfsarbeiten. Nur Hauptsache nicht denken müssen und vermeiden, dass sein Gedankengut von irgendeinem anderen missbraucht wird.
"'Ich möchte das perfekte Leben führen. Dazu muss man sich zurückziehen und möglichst wenig mit anderen zu tun haben.'" (S. 387)
Klaus Cäsar Zehrer hat mit "Das Genie" einen Roman gezaubert, der die Fakten um William James Sidis' Leben geschickt mit Fiktion und Fantasie verknüpft. Es ist nicht nur diese außergewöhnliche Lebensgeschichte, die den Leser fesselt. Auch der Sprachstil des Autors trägt einiges dazu bei, dass man den Roman nicht aus der Hand legen möchte. Zehrer ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Sein Sprachstil zeichnet sich durch eine enorme Leichtigkeit aus, die einfach nur Spaß macht. Er stellt Sidis zwar als sehr speziellen Zeitgenossen dar, der aufgrund seiner kauzigen Eigenheiten unverstanden wird. Gerade diese eigene Art von Sidis sorgt jedoch für viele komische Momente. Aber Zehrer macht sich nie über ihn lustig. Stattdessen bringt er den Leser dazu, Empathie und Mitgefühl für Sidis zu entwickeln.

Fazit
Nicht das Genie Sidis wird in den Vordergrund gestellt sondern der Mensch Sidis. Wie gern hätte er einfach ein Leben nach seiner Façon gelebt. Doch man ließ ihn nicht. Zehrer konzentriert sich in seinem Roman auf die sensible Seite dieses eigenartigen Menschen, der ein Opfer seiner Erziehung war. Denn Sidis wurde nicht nur zum Genie erzogen sondern auch zu einem kauzigen Aussenseiter, der nicht in der Lage war, den Normen der Gesellschaft zu entsprechen. Das ist tragisch, geht nahe und macht nachdenklich. Leseempfehlung!

© Renie





Über den Autor:
Klaus Cäsar Zehrer, geboren 1969 in Schwabach, ist promovierter Kulturwissenschaftler und lebt als freier Autor, Herausgeber und Übersetzer in Berlin. Er veröffentlichte u.a. zusammen mit Robert Gernhardt die Anthologie ›Hell und Schnell‹, das Standardwerk der deutschsprachigen komischen Lyrik. ›Das Genie‹ ist sein erster Roman. (Quelle: Diogenes)

Freitag, 17. November 2017

Hannah Coler: Cambridge 5

Quelle: Pixabay / Free-Photos
Wenn ich an die altehrwürdige britische Universität Cambridge denke, fallen mir spontan folgende Begriffe ein: Elite, Nobelpreis, Ehrfurcht, Romantik und Tradition. Wer in diesem Tempel des Wissens studiert, hat es geschafft und braucht sich über seine zukünftige Karriere keine großen Gedanken machen. Unzählige Berühmtheiten haben hier studiert. Keine Universität dieser Welt hat mehr Nobelpreisträger hervorgebracht.
Die deutsche Autorin Hannah Coler zeigt dem Leser in ihrem Roman "Cambridge 5" einen andere Sichtweise. Sie widmet sich einem Thema, das an dieser Elite-Universität schon immer aktuell war: Cambridge, ein Tummelplatz für die Geheimdienste dieser Welt.
"In dieser Stadt konnte man nie sicher sein, was die alten Leute früher so getrieben hatten." (S. 133)
Schon in den 30er Jahren gab es hier eine Spionagezelle namens Cambridge 5. Sie bestand aus einer Gruppe englischer Studenten, rekrutiert vom russischen Geheimdienst. Während ihres Studiums widmeten sie sich ihrer Spionagetätigkeit und haben lange Jahre fröhlich und unentdeckt brisante Geheimnisse aus Politik und Wirtschaft an Russland weitergegeben.
In ihrem gleichnamigen Roman behandelt Hannah Coler die Schaffenszeit der Cambridge 5 sowie den Universitätsalltag unter dem Einfluss von Spionage und Geheimniskrämerei bis hin zur heutigen Zeit. Sehr geschickt vermischt sie dabei Wirklichkeit mit Fiktion und lässt somit ein spannendes und faszinierendes Bild eines Universitätsleben entstehen, das herzlich wenig mit dem Mythos zu tun hat, den der Leser mit Cambridge verbindet.
Quelle: Random House/Limes

Auf den ersten Seiten dieses Romanes werden 3 Personengruppen aufgelistet, die zu unterschiedlichen Jahrzehnten in Cambridge studiert und gelehrt haben.

1934 bis 1963
Cambridge 5 - eine Gruppe aus 5 Studenten, die für die Sowjetunion spioniert haben und erst 30 Jahre nach ihrem Studium aufgeflogen sind. Das berühmteste Mitglied war der sagenumwobene Spion und Doppelagent Kim Philby.

1970er Jahre
5 Männer und Frauen, die in den 70ern in Cambridge studiert haben. Jahre später haben sie wichtige Positionen in Lehre, Forschung und Verwaltung an der Universität eingenommen.

2014/2015
Jasper, David, Wera - Studenten der heutigen Zeit
"' Wissen Sie, wie das ist, wenn Sie glauben, Sie kennen Ihre eigene Geschichte, Sie kennen sie gut, und Sie fühlen sich sicher in ihr. Und plötzlich wird Ihnen klar, dass Sie nur eine Ebene kennen. Dass sich auf ganz anderen Ebenen die wirklich entscheidenden Dinge abgespielt haben.'" (S. 360)
Wer jetzt davon ausgeht, dass er 3 Handlungsstränge präsentiert bekommt, die parallel zueinander laufen, hat nur bedingt recht. Tatsächlich konzentriert sich die Handlung auf die heutige Zeit um die 3 Studenten Jasper, David und Wera sowie ihrem Doktorvater Hunt, der in den 70er Jahren während der Unruhen, die es auch in Cambridge gab, eine wichtige Rolle gespielt hat. Darüberhinaus trifft man auf weitere Mitstreiter von Hunt aus den 70er Jahren, die heute in diversen verantwortungsvollen Positionen in Cambridge tätig sind. Die Autorin stellt dadurch eine Verbindung zwischen den beiden Zeiträumen her. 

In den 70er Jahren war es nicht ungewöhnlich, dass Studenten links angehaucht waren und für ihre politischen Überzeugungen gekämpft haben. In Deutschland gab es die Studentenunruhen, aus denen viele RAF Mitglieder hervorgegangen sind. In Cambridge gab es ebenfalls Unruhen, zwar nicht in diesem Ausmaß, doch immerhin haben die Unruhen als Garden House Revolte (Februar 1970) Einzug in die Geschichtsbücher gehalten. Inwieweit die Mitglieder der 70er Jahre-Gruppe an den Revolten beteiligt waren und welchen Einfluss sich daraus auf ihr heutiges Leben ergibt, zeigt sich durch Rückblenden auf die damalige Zeit.

Bleibt noch der Mythos um die Gruppe "Cambridge 5". Hannah Coler greift zu einem originellen stilistischen Werkzeug, um dem Leser das Wissen über Kim Philby und seine "Cambridge 5" näher zu bringen. Sie lässt Wera (2014/2015) eine Dissertation über diese Gruppe schreiben. Wera geht dabei sehr detailliert auf die Hintergründe dieser Gruppe ein, die sie in mehreren Kapiteln formuliert. Die Autorin Hannah Coler lässt diese Kapitel in unregelmäßigen Abständen in den Text einfließen. Der Leser liest also Weras Dissertation, blickt ihr manchmal quasi über die Schulter, während sie schreibt. Darüberhinaus betrachtet der Leser die Inhalte durch die Augen ihres Doktorvaters Hunt, während er die einzelnen Kapitel begutachtet.
Glücklicherweise ist Weras Schreibstil sehr lebhaft und kein bisschen wissenschaftlich-trocken wie man es von einer wissenschaftlichen Arbeit erwarten würde. Sie schafft es, Spannung aufzubauen, so dass man die Seiten ihrer Dissertation um die Cambridge 5 förmlich verschlingt. 
"Da war dieser junge Kim, der alles hatte, was man in den 1920er-Jahren in Großbritannien brauchte, um eine große Karriere zu machen: Er kam aus einer guten, wenn auch nicht wohlhabenden Familie, er hatte einen berühmten Vater, er war hochintelligent, und er war auf einer elitären Privatschule von seinen Lehrern gefördert worden. Er sah gut aus und hatte keine Probleme mit Frauen. Er durfte schon mit siebzehn Jahren eine der besten Universitäten besuchen und dort ein relativ eigenständiges Leben führen. Er hatte alle Chancen - und er verriet die Gesellschaft, die ihm diese Chancen bot." (S. 52)
Der "rote Spionagefaden" durchzieht die Handlung, angefangen bei den Cambridge 5 bis hin zur heutigen Zeit. Bei den Unruhen in 1970 hatten die Geheimdienste ihre Hände im Spiel und heutzutage wirken sie ebenfalls in Cambridge. Tatsächlich ist aber nicht ersichtlich, wer von den Protagonisten dieses Romans, in welchem Umfang bei den Spionagetätigkeiten involviert ist und war. Das macht diesen Roman so spannend, weil man vieles erahnt, aber erst zum Schluss Gewissheit bekommt.

Hat sich die damalige Spionagetätigkeit der Cambridge 5 auf politische Themen konzentriert, kommt heutzutage noch ein weiteres Betätigungsfeld der Agentenbranche hinzu: Spionage in Wissenschaft und Forschung. Man darf nicht vergessen, dass Cambridge heutzutage als britisches Silicon Valley gehandelt wird und somit zu einem Tummelplatz für Wirtschaft und Militär geworden ist. Viele Forschungen unterliegen der Geheimhaltung. Die Geldgeber werden diskret behandelt. Insofern ist es kein Wunder, wenn der eine oder andere Geheimdienst einen Blick riskieren möchte, was die Konkurrenz so treibt. Schließlich weiß man nie, welche Forschungsergebnisse für die eigenen Zwecke eingesetzt werden können. 

Fazit:
Hannah Coler hat selbst in Cambridge studiert und unterrichtet. Mittlerweile ist sie eine gefragte historische Expertin, die gern von BBC und ZDF gebucht wird. Sie gewährt in ihrem Roman einen Einblick in den Universitätsalltag, der von Intrigen, Vetternwirtschaft und Beziehungsmanagement bestimmt ist. Durch das Spionage-Thema lässt sie den Mythos um die Denkfabrik Cambridge in den Hintergrund treten. Völlig faszinierend ist dabei die reale Geschichte um die Spionagegruppe Cambridge 5, die den Kern dieses spannenden Romanes bildet. Ist Hannah Colers Roman ein Thriller? Was die Spannung angeht - auf jeden Fall. Doch mich haben eindeutig die historischen und aktuellen Fakten gefesselt, die Hannah Coler auf sehr lebhafte Weise vermittelt. Ein tolles Erstlingswerk der Autorin, das Lust auf mehr von ihr macht.

© Renie



Über die Autorin:
Hannah Coler ist das Pseudonym der deutschen Historikerin Dr. Karina Urbach. Sie studierte Geschichte in Cambridge und lehrte an deutschen und britischen Universitäten. Urbach war an zahlreichen Dokumentationen des ZDFs und der BBC beteiligt. Seit 2015 lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von New York. Cambridge 5 – Zeit der Verräter ist ihr erster Roman. (Quelle: Random House/Limes)


Neugierig geworden? Hier geht's zur Leseprobe .....

Freitag, 10. November 2017

Grégoire Hervier: Vintage

Quelle: Pixabay/StockSnap
Im Mittelpunkt des ungewöhnlichen Romanes "Vintage" von Grégoire Hervier stehen ein Franzose, ein Zombie sowie die Jagd nach einer Gitarre - nicht irgendeiner Gitarre, sondern einer Gibson Moderne.
Was es mit der Gibson Moderne auf sich hat, ist dem Großteil der Menschheit wahrscheinlich unbekannt. Ich musste auch erst diesen Roman lesen, um eine Vorstellung über den Mythos zu erhalten, der mit dieser Gitarre verbunden ist.

Die Moderne des amerikanischen Gitarrenherstellers Gibson gehört zu einer Gitarren-Reihe in (damals) futuristischem Design, entworfen im Jahre 1957. Insgesamt waren drei unterschiedliche Modelle geplant. Zwei davon sind in Produktion gegangen, bei der Dritten - der Modernen - ist man sich nicht sicher, ob außer dem Prototypen noch weitere gebaut wurden. Man munkelt, dass höchstens 20 Stück hergestellt worden sind - wenn überhaupt, denn ihr Verbleib, genauso wie der des Prototypen ist nicht nachvollziehbar. Gitarrenliebhaber und Sammler erstarren vor Ehrfurcht, wenn der Name "die Moderne" genannt wird. Man kann sich vorstellen, dass diese Gitarre heutzutage einen unermesslichen Wert hätte.
Der Roman "Vintage" des Franzosen Grégoire Hervier behandelt genau diesen Mythos und entführt den Leser dabei in eine fast schon exotische Welt: Die der Musikbranche, der Gitarrensammler, die des Rock'n'Roll und des Blues.
Quelle: Diogenes
"'Dieser Klang! In den Tiefen voll und präzise, in den mittleren Lagen eine Spur hohl und in den Höhen schneidend, aber nicht zu grell. Das ist doch eine Moderne, oder?'" (S. 89)
Die Geschichte beginnt mit einem besonderen Auftrag: Thomas Dupré, erfolgloser Musiker, leidenschaftlicher Gitarrist, nebenbei journalistisch tätig und momentan Aushilfe in einem Pariser Gitarrenladen, der auf Vintage-Gitarren spezialisiert ist, reist nach Schottland, um hier einen reichen Lord und Gitarrensammler zu treffen. Der Lord hat in seinem bisherigen Leben alles kennengelernt, was die britische Musikszene des 20. Jahrhunderts an Rang und Namen zu bieten hat. Seit Jahren sammelt er Gitarren. Sein Kontakt zur Musikszene hat ihm das eine oder andere seltene Sammlerstück beschert. Sogar eine Gibson Moderne konnte er sein Eigen nennen. Doch die ist verschwunden. Leider hat der Lord keinen Beweis für ihre Existenz, da er seinen kostbarsten Besitz bisher geheim im stillen Kämmerlein genossen hat. Auch die Versicherung will für den Verlust nicht gerade stehen. Ohne Existenzbeweis - kein Geld.
So erhält Thomas den Auftrag, nach diesem Beweis zu suchen. Die Suche führt ihn dabei quer über den Erdball. Seine erste Spur bringt ihn nach Australien, weiter geht's nach Amerika. Dabei beschäftigt er sich mit der Geschichte der Gibson Moderne, trifft viele Zeugen aus der Zeit, in der diese Gitarre gebaut worden ist und sucht verbissen nach jeder noch so kleinen Spur, die auf die zweifelhafte Existenz dieser Legende hinweist. 
"Der Wert eines Gegenstands, erst recht der eines Sammelobjekts, hängt immer vom Betrachter ab." (S. 151)
Spätestens mit dem Auftauchen der ersten Leiche wird dem Leser klar, dass dieser Roman mehr zu bieten hat als eine Geschichte über ein legendäres Musikinstrument. Denn "Vintage" ist auch ein sehr atmosphärischer Kriminalroman. Gerade die Schauplätze in diesem Roman tragen dazu bei, dass der Leser die Handlung als mystisch und geheimnisvoll empfindet: ein altes Schloss am schottischen Loch Ness; gruftartige Räume, in denen die Sammler ihre wertvollen Gitarren, abgeschottet von der Außenwelt, aufbewahren; New Orleans, wo der Voodoozauber an jeder Straßenecke mit seinen Hühnerfedern winkt oder Sweet Home Alabama.
"Ich war auf der Suche nach der wertvollsten Gitarre aller Zeiten, einem fluchbeladenen Instrument, das hervorbrachte, was so manchen als Musik des Teufels galt ... Sein Schatten schwebte über all der Musik, die ich liebte und spielte, von Robert Johnson bis zu Jimmy Page, von den Stones zu den Beatles, aber auch über der von Li Grand Zombi, das wusste ich jetzt." (S. 306)
Demgegenüber steht der sehr lebhafte Sprachstil des Autors, der einen wohltuenden Kontrast zu dieser düsteren Stimmung bietet. Man liest gern und interessiert, was der Autor zu erzählen hat. Hervier schafft es irgendwie, auch fachspezifische Passagen - er führt uns u. a. in die Welt der Musikproduktion - so herüberzubringen, dass man sich selbst als Laie auf diesem Gebiet nicht abgehängt fühlt. Stattdessen vermittelt diese Sprache ein hohes Maß an Authentizität und Leidenschaft für die Musik. Und von dieser Leidenschaft lässt man sich gern anstecken.

Um den Mythos der Modernen komplett zu machen, bedarf es auch eines Musikers, der diese Gitarre gespielt hat, und um den es natürlich auch in diesem Roman geht. Die Nachforschungen von Thomas konzentrieren sich mit der Zeit nicht nur auf die Gitarre sondern auf diesen speziellen Musiker, der auf dieser Gitarre gezaubert hat. Er schuf einen sehr bizarren Musikstil, der seiner Zeit voraus war. Ob es diesen Musiker tatsächlich gegeben hat, ist dabei irrelevant. Wichtig sind einzig allein die mitreißende Leidenschaft und Besessenheit, mit der er seine Musik gemacht hat, und die in jeder Zeile zu spüren sind.
"Der Künstler war bis zum Äußersten gegangen, um seiner gequälten Seele Ausdruck zu verleihen. Und möglich geworden war das erschütternde Ergebnis erst durch jenes einzigartige Instrument, das ebenfalls seiner Zeit voraus gewesen war und das ich vollkommen vergessen hatte, so wie mich der Song in seinen Bann geschlagen hatte: die Moderne." (S. 194)
Fazit:
Es ist ein großer Unterschied, ob jemand Musik nur zur Unterhaltung hört, oder ob jemand Musik lebt. Damit meine ich Menschen, die mit der Musikbranche zu tun haben, Musikinstrumente sammeln oder alles, was mit Musik zu tun hat, in sich aufsaugen. Diese Menschen werden sich allein aufgrund ihrer Leidenschaft zu diesem Roman hingezogen fühlen. Natürlich habe ich mich gefragt, ob dieser Roman auch bei Leuten wie mir - also jemandem mit Null Musiksachverstand - funktioniert. Und das tut er sogar erstaunlich gut. Denn er fasziniert durch den Mythos, fesselt durch die Kriminalgeschichte und begeistert durch den sehr lebhaften Sprachstil des Autors. Man merkt diesem Roman in jeder Zeile an, dass sein Autor ein großer Fan der Rockmusik ist. Das steckt an.
Leseempfehlung!

© Renie




Über den Autor:
Grégoire Hervier, geboren 1977 in Villeneuve-Saint-Georges, hat eine Schwäche für Rockmusik, Science-Fiction-Filme und Karate. ›Vintage‹, in dem wahre Fakten in eine raffinierte Erzählung hineinverwoben sind, ist sein dritter Roman. (Quelle: Diogenes)