Donnerstag, 23. November 2017

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie

Quelle: Pixabay/aitoff
Ich lese gern Romane über Promis, insbesondere, wenn die Promis so wenig prominent sind wie William James Sidis, der Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt hat. Sidis ist nicht freiwillig zum Promi geworden. Stattdessen ist er von seinen Eltern und der Öffentlichkeit dazu gemacht worden. Er war das Studienobjekt seines Vaters Boris, der an seinem Sohn seine ganz spezielle Erziehungsmethode erprobt hat. Boris ging davon aus, dass man aus jedem Menschen ein Genie machen kann, fängt man nur früh genug damit an. Bei William hat sich diese Theorie bewahrheitet. Denn bereits im Alter von 18 Monaten konnte der kleine Billy lesen, und bis zu seinem 8. Lebensjahr hatte er bereits 4 Bücher geschrieben. Ich rede nicht von Kinderbüchern sondern von wissenschaftlichen Abhandlungen. Sein IQ wurde auf 250 geschätzt - gemessen wurde er nie. Wozu auch. Williams Leistungen sprachen für sich. Er beherrschte 40 Sprachen, war von klein auf in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen zuhause. Selbstredend, dass er Schule und Elite-Uni im Schnelldurchlauf absolviert hat.
"Der Mensch besitzt kein höheres Recht und keine höhere Pflicht, als sich zur Perfektion heranzubilden." (S. 154)
Die Geschichte um William J. Sidis beginnt mit dem Tag, an dem Vater Boris das erste Mal amerikanischen Boden betritt und in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten einwandert. Der gebürtige Russe schafft es tatsächlich, seinen persönlichen amerikanischen Traum zu leben. Sein Lebensinhalt besteht darin, Wissen in sich aufzusaugen, was er auch unentwegt macht. Er vermittelt dieses Wissen auch an andere. Unter diesen Bedingungen lernt er seine spätere Ehefrau kennen. Irgendwann ist das Ehepaar zu Dritt. William wird geboren. Von jetzt an steht William im Mittelpunkt des Romans. Der Leser begleitet dabei den kompletten Lebensweg von William. Leider stirbt William J. Sidis bereits mit 46 Jahren an einer Gehirnblutung.
Quelle: Diogenes

Auf Seite 527 dieses Buches gibt es eine sehr passende Beschreibung zu Williams Entwicklung, die sich auf den Aufbau des Romanes anwenden lässt, und die ich an dieser Stelle gern übernehme:
Das Kind William Sidis - "das Erziehungsexperiment, das Wunderkind, der Alleskönner, das Mathematikgenie"
In diesem Teil des Romanes muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, wie jung William in dieser Phase war: Er wurde vom ersten Tag seiner Geburt an mit Wissen bombardiert. Mit nur 18 Monaten war er in der Lage, flüssig zu lesen. Gelesen wurden keine trivialen Kinderbücher, sondern Erwachsenenliteratur und wissenschaftliche Bücher.
Mit 3 Jahren hatte er einen Wortschatz entwickelt, der weit über die Ausdrucksfähigkeit manches Erwachsenen hinausging. Man stelle sich vor: ein 3-Jähriger, der sich an den Diskussionen Erwachsener beteiligt.
Als 6-Jähriger war er verpflichtet, die Schule zu besuchen, auch wenn sein Wissensstand weit über den seiner Altersgenossen und der Lehrer hinausging.
Mit 11 Jahren wurde er schließlich in Harvard aufgenommen, wo er seinem unendlichen Wissensdrang nachgeben und sich in unterschiedlichen Disziplinen austoben konnte.
"Später dann: Sidis, der Sonderling, der Frauenfeind, der Bolschewist, der Aufrührer"
Mit 17 Jahren übernimmt William einen Lehrtätigkeit in einer privaten Bildungseinrichtung in Houston. Es war nicht so, dass es sich hierbei um einen Traumjob handelte. Vielmehr wurde er von seiner Mutter genötigt, seinen Lebensunterhalt endlich selbst zu finanzieren. Für einen jungen Mann mit seinem Genius sollte dies eigentlich ein Klacks sein. Doch William ist zum Sonderling erzogen worden. Er war nicht in der Lage, sich den Gepflogenheiten und Normen der Gesellschaft anzupassen. 
"Aber der junge Sidis war nun einmal ein Genie, und für die galten andere Regeln. Diogenes, Leonardo, Newton, Rousseau - bestand die Geistesgeschichte nicht aus einer langen Kette von Sonderlingen, die mit ihrem Benehmen ihre jeweiligen Zeitgenossen vor den Kopf stoßen mussten, weil sie nun einmal nicht in deren kleine Welt passten?"
Seine Andersartigkeit wird von Kollegen geduldet, jedoch nicht von seinen Studenten. Da er ungefähr im gleichen Alter wie seine Studenten ist, hat er Mühe sich den Respekt zu verschaffen, der für eine Lehrtätigkeit notwendig ist. Kurzum, das Projekt "Wissensvermittlung" scheitert, wie so viele andere Dinge in Sidis' Leben.
Mit Frauen kann er übrigens nichts anfangen. Sie sind ihm suspekt und sorgen nur dafür, dass Mann den Fokus auf seine Bildung verliert. Daher hat er ein gestörtes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht.
"Und zuletzt: Sidis, der Verkrachte, der Erloschene, der Hilfsarbeiter, der Elternhasser."
Sidis fühlt sich mit der Zeit verraten und verkauft. Zwischenzeitlich nimmt er eine Forschungstätigkeit an, schmeißt den Job jedoch hin, nachdem er feststellt, dass seine geistige Arbeit für militärische Zwecke eingesetzt werden soll. Denn Sidis ist Pazifist. Er verabscheut jede Form von Gewalt und möchte sich auch nicht für den Krieg instrumentalisieren lassen. Das Interesse der Presse an seiner Person lässt nicht nach. Er verabscheut, in der Öffentlichkeit stehen zu müssen. Ganz im Gegensatz zu seiner Mutter, für die es eine Selbstverständlichkeit ist, dass ein Mann mit seinen Fähigkeiten, der Öffentlichkeit "gehört". William bricht mit seinem Elternhaus und zieht sich zurück. Seinen Lebensunterhalt verdient er durch einfache Hilfsarbeiten. Nur Hauptsache nicht denken müssen und vermeiden, dass sein Gedankengut von irgendeinem anderen missbraucht wird.
"'Ich möchte das perfekte Leben führen. Dazu muss man sich zurückziehen und möglichst wenig mit anderen zu tun haben.'" (S. 387)
Klaus Cäsar Zehrer hat mit "Das Genie" einen Roman gezaubert, der die Fakten um William James Sidis' Leben geschickt mit Fiktion und Fantasie verknüpft. Es ist nicht nur diese außergewöhnliche Lebensgeschichte, die den Leser fesselt. Auch der Sprachstil des Autors trägt einiges dazu bei, dass man den Roman nicht aus der Hand legen möchte. Zehrer ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Sein Sprachstil zeichnet sich durch eine enorme Leichtigkeit aus, die einfach nur Spaß macht. Er stellt Sidis zwar als sehr speziellen Zeitgenossen dar, der aufgrund seiner kauzigen Eigenheiten unverstanden wird. Gerade diese eigene Art von Sidis sorgt jedoch für viele komische Momente. Aber Zehrer macht sich nie über ihn lustig. Stattdessen bringt er den Leser dazu, Empathie und Mitgefühl für Sidis zu entwickeln.

Fazit
Nicht das Genie Sidis wird in den Vordergrund gestellt sondern der Mensch Sidis. Wie gern hätte er einfach ein Leben nach seiner Façon gelebt. Doch man ließ ihn nicht. Zehrer konzentriert sich in seinem Roman auf die sensible Seite dieses eigenartigen Menschen, der ein Opfer seiner Erziehung war. Denn Sidis wurde nicht nur zum Genie erzogen sondern auch zu einem kauzigen Aussenseiter, der nicht in der Lage war, den Normen der Gesellschaft zu entsprechen. Das ist tragisch, geht nahe und macht nachdenklich. Leseempfehlung!

© Renie





Über den Autor:
Klaus Cäsar Zehrer, geboren 1969 in Schwabach, ist promovierter Kulturwissenschaftler und lebt als freier Autor, Herausgeber und Übersetzer in Berlin. Er veröffentlichte u.a. zusammen mit Robert Gernhardt die Anthologie ›Hell und Schnell‹, das Standardwerk der deutschsprachigen komischen Lyrik. ›Das Genie‹ ist sein erster Roman. (Quelle: Diogenes)