Donnerstag, 30. Juli 2020

Ellen Sandberg: Das Erbe

Arisierung - ein Begriff, der sich von dem unschönen Wörtchen "Arier" ableitet. Ein Synonym für Arisierung ist Entjudung. Diese Begriffe entstammen dem Gedankengut der Nationalsozialisten und bezeichnen "die Verdrängung von Juden und jüdischen Mischlingen aus Handel, Gewerbe, Wohnungen, Häusern und Wissenschaft". 
Damit wären wir auch schon bei dem Kernthema des Romans "Das Erbe" der Bestseller-Autorin Ellen Sandberg. 
Es geht um eine Adresse in München: Elisabethstr. 117. Hier steht das Schwanenhaus, ein prachtvolles Jugendstilhaus, dessen Giebel ein Schwanenpaar ziert. (Ob es dieses Haus tatsächlich gibt oder gegeben hat, ist für die Geschichte nicht relevant). Das Schwanenhaus ist ein Mietshaus mit mehreren Mietparteien. Der Immobilienwert dieses Hauses liegt im 2-stelligen Millionenbereich. 
Die Handlung des Romans setzt im Jahr 2018 ein. Mona, eine der Protagonistinnen dieses Romans, erbt das Schwanenhaus von ihrer Großtante Klara, die Eigentümerin dieses Hauses war und ihr Leben lang hier gewohnt hat. Im hohen Alter von 94 Jahren stirbt Klara. Keiner weiß, warum sie ausgerechnet, Mona das Haus vererbt hat. Denn die Beiden hatten so gut wie keinen Kontakt zueinander. Mona zieht in die Wohnung der verstorbenen Klara und versucht, sich mit ihrem plötzlichen Reichtum zu arrangieren und ein neues Leben aufzubauen. Sie ist nicht der Mensch, dem der Gedanke, Millionärin zu sein, zu Kopf steigt. Sicherlich genießt sie die Vorzüge, die Reichtum mit sich bringt. Dennoch versucht sie, ihre Bodenhaftung nicht zu verlieren. Mona übernimmt Tante Klaras Wohnung mit allem, was die alte Dame während ihres langen Lebens angesammelt hat: Möbel, Hausrat, Unterlagen, etc.. Dabei stößt Mona auf einen Briefwechsel, der auf ein Geheimnis um das Schwanenhaus hindeutet.
"Beim Ausräumen von Klaras Schränken und Schubladen fühlte sie sich gelegentlich wie eine Archäologin, die Schicht um Schicht abtrug und sich so durch die Relikte eines langen Lebens arbeitete. Durch das, was am Ende übrig blieb. Ganz profane Dokumente, wie Steuererklärungen, Rentenbescheide und Arztbriefe. Geschirr, Gläser und sonstiger Hausrat. Bücher und Videofilme. Kleidung, Wäsche und die persönlichen Dinge wie Fotoalben, Briefe und Postkarten."
Ein weiterer Handlungsstrang bringt uns in die Zeit des Nationalsozialismus, der Kriegsjahre sowie der Nachkriegszeit und wird aus der Sicht von Tante Klara erzählt. Diese war in den 30er/40er Jahren ein junges Mädchen und mit der gleichaltrigen Jüdin Mirjam befreundet war. Mirjam lebte mit ihrer Familie ebenfalls im Schwanenhaus. Durch den Nationalsozialismus war die jüdische Familie gezwungen, ihr Zuhause aufzugeben: Mirjam ging ins Ausland. Dennoch haben die beiden Freundinnen Klara und Mirjam nie den Kontakt zueinander verloren. Über Jahre schrieben sie sich Briefe. Einen Teil dieser Briefe findet Mona schließlich in 2018 in dem Nachlass von Tante Klara.
Und schließlich gibt es noch eine dritten Handlungsstrang - ebenfalls in 2018 -, der anfangs nicht zu den beiden Bisherigen passen will. Wir begegnen Sabine, Mutter von 2 mittlerweile erwachsenen Kindern und Hartz-IV-Empfängerin. Sie träumt davon, irgendwann einmal ein Leben in Saus und Braus führen zu können. Protzige Klamotten, dicke Autos und Luxus-Reisen stehen dabei an vorderster Traumfront. Ellen Sandberg bedient sich bei der Darstellung von Sabine vermutlich sämtlicher Klischees, die es in Verbindung mit Hartz-IV-Empfängern gibt. 
An diesem Punkt hätte ich mir von der Autorin eine differenziertere Darstellung des Charakters Sabine gewünscht. Aber da das Leserleben bekanntlich kein Wunschkonzert ist, muss man mit dieser Sabine leben, für die man wahrlich keine Sympathien entwickeln kann. Bestenfalls reicht es für Mitleid, mehr lässt die Autorin auch nicht zu. Eine andere Möglichkeit der Reaktion auf die klischeehafte Darstellung des Charakters Sabine wäre natürlich, das Buch abzubrechen. Doch damit würde man sich um das Vergnügen einer hervorragend konstruierten Geschichte bringen. Der Aufbau dieses Romans ist nahezu perfekt. Der Handlungsverlauf ist selten vorhersehbar. Dadurch entwickelt sich eine ungeheure Spannung, die durch diverse Cliffhanger verstärkt wird. Das Zusammenspiel der Charaktere ist sehr ausgefeilt. Selbst, wenn man glaubt, dass man die Rolle eines Protagonisten verstanden hat, wird man eines Besseren belehrt. Denn wie man feststellen wird, spielen einige Charaktere eine Doppelrolle. 
Die Bücher der Bestseller-Autorin Ellen Sandberg sind der Unterhaltungsliteratur zuzuordnen. Das merkt man ihrem sehr gefälligen Sprachstil an, der den Leser geschmeidig durch die Handlung rutschen lässt. Insbesondere Leser, die sich von einem Buch gern durch einen anspruchsvollen Sprachstil begeistern lassen, werden hier nicht auf ihre Kosten kommen. Bei "Das Erbe" ist jedoch nicht entscheidend, wie Frau Sandberg die Geschichte erzählt, sondern das, was sie zu erzählen hat.   Frau Sandberg bringt dem Leser das Thema "Arisierung" sehr informativ in einer unglaublich fesselnden Geschichte näher und macht somit ihren Roman "Das Erbe" zu dem, was er ist: Unterhaltungsliteratur auf hohem Niveau.

© Renie