Sonntag, 19. Juli 2020

Ulf Schiewe: Die Kinder von Nebra

Quelle: Pixabay
Nebra ist ein kleiner Ort in Sachsen-Anhalt mit gerade mal etwas über 3.200 Einwohnern. Also absolut verständlich, wenn man diesen Ort nicht kennt. Doch Nebra ist wie aus heiterem Himmel zu archäologischer Berühmtheit gelangt. Denn hier wurde 1999 ein archäologischer Schatz entdeckt, der sich erst im Nachhinein als Sensationsfund herausstellte: Die Himmelsscheibe von Nebra. Diese Scheibe aus Bronze und Gold gilt als die früheste bekannte Himmelsdarstellung in der Geschichte der Menschheit. Ihr Alter wird auf etwa 4000 Jahre geschätzt. Dafür ist sie noch prima in Schuss, wie viele beeindruckende Darstellungen dieser Scheibe beweisen. Die Himmelsscheibe von Nebra hat demnach in der Bronzezeit ihren Weg zur Menschheit gefunden.
In der Bronzezeit gab es Nebra noch nicht. Sachsen-Anhalt war nicht Sachsen-Anhalt. Und Deutschland war nicht Deutschland. Was die Geographie der damaligen Zeit betraf, darf viel spekuliert werden. Einiges ist überliefert, von dem man sich ein ungefähres Bild der Gegend um das heutige Sachsen-Anhalt machen kann.
In dieser mir völlig fremden, aber dennoch ein Stück weit vertrauten Umgebung spielt der Roman "Die Kinder von Nebra" von Ulf Schiewe. Er erzählt uns die Geschichte dieser Gegend und der Menschen, die dort gelebt haben könnten. Und natürlich erzählt er uns die Geschichte der berühmten Himmelsscheibe von Nebra.
Quelle: Bastei Lübbe
"Bronze ist besonders für Waffen geeignet. Sie ist allerdings auch viel wertvoller als Kupfer, weshalb nur Hauptleute und Anführer der Hundertschaften mit bronzenen Dolchen, Äxten und Stabdolchen ausgestattet sind. Manche Edle besitzen auch bronzene Schwerter. Doch nur wenige Schmiede beherrschen die Kunst, sie herzustellen, denn ein langes Schwert muss hart sein, aber auch biegsam genug, damit es nicht bricht. Einfache Krieger dagegen tragen Kupferäxte, und die Bauern benutzen nicht selten noch Steinbeile. An der Art seiner Waffe oder der Farbe seines Dolchs oder seiner Streitaxt erkennt man so den Stand eines Kriegers." 
Ulf Schiewe schreibt historische Romane. Er webt seine Protagonisten, in spannende Geschichten ein, die sich ganz eng, nahezu deckungsgleich an realen Ereignissen orientieren. Auch seine Charaktere sind häufig real existierende Personen der Historie bzw. denen sehr dicht nachempfunden. Häufig lassen sich Fiktion und Realität kaum auseinanderhalten. Um diesen Wirklichkeitsbezug herzustellen, betreibt Ulf Schiewe einen enormen Rechercheaufwand. Je nachdem, in welcher Zeit seine Romane spielen, machen es ihm die Archive sicherlich leicht, ihn mit Informationen zu versorgen. Doch bei "Die Kinder von Nebra" kann dies nicht der Fall gewesen sein. Man bedenke, die Handlung spielt in der Bronzezeit - einer Ära in der die Schrift noch nicht erfunden war. Die Ausbeute, was Hintergrundinformationen betrifft, war daher sicherlich sehr dürftig. Und mit dem wenigen, was er zur Verfügung hatte, hat Ulf Schiewe eine Geschichte geschrieben, die farbenprächtig und überbordend an menschlichem Miteinander, an Abenteuern, an Religion, an Politik, an Kampf zwischen Gut und Böse, an Mythologie und natürlich an Fantasie ist. Einfach ein großartiger Schmöker!

Zum Inhalt:
In der Zeit vor 4000 Jahren herrschen Clans über die Gegend des heutigen Sachsen-Anhalts. Jeder Clan beansprucht ein Hoheitsgebiet für sich. Herrscher über alle Clans ist Orkon, Anführer der Helminger. Mit Unterstützung und im Namen des Gottes Hador übt er eine Schreckensherrschaft über das Land aus, in dem er die einfachen Leuten - i. d. R. Bauern und Handwerkern - ausbeutet, so dass diese in in Armut leben müssen.
Der Gott Hador gehört einer Gruppe von Göttern an, die ähnlich der uns eher bekannten griechischen Götter, einen Teil des alltäglichen Lebens vertreten und beschützen, bspw. Hella, die Göttin des Herdes und der Familie. Hador ist das schwarze Schaf der Götterfamilie. Eigentlich ist sein Platz in der Unterwelt und dem Totenreich. Wird Hador erzürnt, droht den Menschen Tod, Unwetter oder Pestilenz. Und wer will das schon? Um Hador bei Laune zu halten, werden Menschenopfer erbracht. Orkon, der in Hadors Namen über die Menschen in der Gegend herrscht, manifestiert also seine Schreckensherrschaft, indem er mit dem Zorn Hadors droht. Und die Menschen glauben ihm. Und wenn sie nicht freiwillig glauben wollen, werden sie auf blutige Weise dazu gezwungen.
Aber nicht jeder lässt sich von Orkons Herrschaft einschüchtern.
Rana, ein junges Mädchen aus einem Dorf in der Nähe, Tochter eines Schmieds und einer Priesterin der Göttin Destarte, die für Fruchtbarkeit, Liebe und Magie steht, wird diejenige sein, die den Kampf gegen Orkon und seinen Sohn Arrak, aufnehmen wird. Als Tochter ihrer Mutter wird sie sich ebenfalls zur Priesterin der Destarte weihen lassen. Destarte ist die Gegenspielerin des Gottes Hador. Somit wird es zum Kampf der beiden Glaubensrichtungen kommen. Unterstützung erhält Rana dabei von ihrer Familie und anderen Menschen, die schon lange erkannt haben, dass Orkons Herrschaft die Menschen in dieser Gegend vernichten wird. Bei dem Kampf gegen das Böse wird die Himmelsscheibe von Nebra eine wichtige Rolle spielen. Denn sie steht für die Macht der Göttin Destarte und wird als Symbol der Hoffnung zum Einsatz kommen.
"'Die Götter sind im Grunde unser Spiegelbild, Rana. Oder wir das ihre. Sie sind eitel und schnell beleidigt. Sie streiten sich, sind eifersüchtig und nachtragend. Nicht viel anders als wir Menschen. Nur dass sie unsterblich sind und Macht über uns haben.'"
In diesem Roman ist sehr viel los. Es gibt einen munteren Wechsel in den Erzählperspektiven und diversen Handlungssträngen. Und was mir besonders gut gefallen hat: man weiß zwar, wo die Reise hingehen wird - denn am Ende siegt das Gute über das Böse. Doch der Handlungsverlauf ist selten vorhersehbar. Die Geschichte nimmt Wendungen an, an die man in keinster Weise gedacht hat. Dadurch ist das Spannungsniveau von Anfang bis zum Ende unglaublich hoch.

Hinzu kommt der Eindruck, dass die Geschichte erst gestern geschehen ist. Was ich damit ausdrücken möchte: Ulf Schiewe hat eine Erzählweise gewählt, die mit unserem Sprachgebrauch und der modernen Ausdrucksweise nahezu identisch ist. Man hat nie das Gefühl, dass es sich um eine Geschichte handelt, die vor 4000 Jahren gespielt hat. Darüber bin ich sehr froh. Denn die Bronzezeit ist für uns kaum noch greifbar. Erzählungen, die diese Zeit behandeln, laufen Gefahr, mit dem Fantastischen verwechselt zu werden. In "Die Kinder von Nebra" geschieht dies in keinem Moment.

Und natürlich, wie auch in anderen Romanen von Ulf Schiewe, gibt es einen interessanten Lerneffekt. Denn wer wissen will, wie die Himmelsscheibe von Nebra denn nun zu deuten ist, bekommt hier die Erklärung. Das ist hochinteressant. Netterweise wird in den über 600 Seiten starken Buch mehrfach auf die Erklärung eingegangen, so dass am Ende auch jemand wie ich, der astronomisch nicht ganz auf der Höhe ist, das Prinzip der Himmelsscheibe von Nebra verstehen kann.

Mein Fazit
Meine anfänglichen Bedenken bezüglich des drohenden Fantasycharakters eines Romans, der in der Bronzezeit spielt, hat sich als völliger Blödsinn herausgestellt. Ich habe jede Seite dieses Romans verschlungen und bin begeistert.

Leseempfehlung!

© Renie