Sonntag, 5. Juli 2020

Claire Lombardo: Der größte Spaß, den wir je hatten

Quelle: Pixabay / lanben
Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen. (Augustinus Aurelius)

In dem Roman "Der größte Spaß, den wir je hatten" vom Claire Lombardo geht es um die amerikanische Familie Sorenson: die Eltern David und Marilyn - mittlerweile bereits in den 70ern sowie  den 4 erwachsenen Töchtern Wendy, Violet, Liza und Nesthäkchen Grace. Während Wendy, Violet und Liza nur ein paar Jahre auseinanderliegen, ist Grace die Nachzüglerin unter den Schwestern. Den Status der „Kleinen“ konnte sie dabei nie ablegen.
Die Ehe von David und Marilyn war stets vorbildlich für die vier Töchter. Die Messlatte hing unerreichbar hoch, konnten die Töchter mit ihren eigenen Ehen und Familienleben nie an das strahlende Vorbild der Eltern heranreichen.
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"'Wir hatten schon wirklich eine gute Kindheit, Wendy. Aber wenn man erwachsen ist, hängt die Latte dann ganz schön beschissen hoch.'"
Wendy war zwar glücklich verheiratet. Doch das Schicksal hat es nicht gut mit ihr gemeint. Ihr Mann starb an Krebs. Die Ehe blieb kinderlos. Wendy bleibt als reiche Witwe zurück, denn ihr Mann war das, was man landläufig eine gute Partie bezeichnet.

Violet kommt mit ihrer Ehe dicht dran an das Ideal von David und Marilyn – oberflächlich betrachtet. Ihr Ehemann ist ein erfolgreicher Anwalt, was der Familie ein Leben in Wohlstand ermöglicht. Die zwei Söhne – beide noch im Kindergartenalter - werden von Muttertier Violet behütet. Sie strebt nach Perfektion bei der Erziehung ihrer Kleinen. Ihre heile Familienwelt bekommt einen Riss, als plötzlich Jonah auftaucht. Der 16-Jährige ist Violets "Unfall" aus ihrer Jugend, aus einer Zeit, als ein Kind nicht zu ihrer Zukunfts- und Karriereplanung passte. Daher gab sie Säugling Jonah am Tag seiner Geburt zur Adoption frei.

Lizas Ehemann ist schwer depressiv. Den lieben langen Tag verbringt er auf der Couch und hadert mit seinem Schicksal. Lizas Job als Unidozentin hält die Beiden finanziell auf der Höhe. Als Liza schwanger wird, hat sie kaum noch die Kraft, ihren antriebslosen Göttergatten weiter zu bemuttern. Er hat genug mit sich selbst zu tun. Da Liza kaum auf Unterstützung von ihrem Ehemann hoffen kann, stellt sich die Frage, wo diese Ehe hinführen soll.

Bei Grace sind weder Ehe noch Beziehung in Sicht. Auch sie hat genug mit sich selbst zu tun. Gilt es doch, die Fassade der jungen Frau, die auf dem besten Weg ist, Karriere zu machen, gegenüber ihren Eltern und ihren Schwestern aufrechtzuerhalten. Doch Grace ist meilenweit von einer beruflichen Karriere entfernt. Ganz im Gegenteil: ohne Collegeausbildung kommt sie eher schlecht als recht über die Runden.

Die Eltern David und Marilyn haben ihren Töchtern immer vorgelebt, wie ein perfektes Ehe- und Familienglück aussieht. Doch man ahnt: es ist nicht alles Gold, was glänzt.
Durch einen häufigen Wechsel der Erzählperspektive und Rückblenden in die Vergangenheit blickt der Leser hinter die Fassade der angeblichen Vorzeigeeltern.
Wir lernen eine Marilyn kennen, bei der sich eine vielversprechende Karriere als Anwältin abzeichnete. Als sie das erste Mal schwanger ist, hängt sie diese an den Nagel. Sie wird ihre Karriere auch nicht wieder aufnehmen, denn kurz nach dem ersten Kind, kündigen sich Kind 2 und Kind 3 an. Zwangsweise widmet sie sich also der Rolle der perfekten Mutter. Doch Anspruch und Wirklichkeit driften sehr weit auseinander. Sie reibt sich in ihrer Mutterrolle auf, was auch Auswirkungen auf das Zusammenleben mit Ehemann David hat.
"Die Ehe, hatte sie gelernt, war ein merkwürdig vergnügliches Machtspiel, ein behutsamer Balanceakt zwischen zwei Egos im Wettstreit und Stimmungen, die nicht miteinander harmonieren. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen im Dienste der Beziehung. Sie trat in den Hintergrund un ließ seinen Stern damit umso heller strahlen. Sie durfte Selbstvertrauen und Freude nur zeigen, um Verzagtheit und Pessimismus auf seiner Seite auszugleichen." 
Claire Lombardo hat mit „Der größte Spaß, den wir je hatten“ einen Familienroman geschrieben, den man auf den ersten Blick der Trivialliteratur zuordnen könnte.
Kein Wunder. Sie schildert das banale Miteinander einer Familie in einem sehr gefälligen und lebhaften Sprachstil. Dabei vermittelt sie den Eindruck eines oberflächlichen Familienklischees, inklusiver harmonischer Abendessen, verständnisvoller Eltern-Kind-Gespräche und konspirativem Zusammenhalt der Schwestern. 
Unter der Oberfläche brodelt es jedoch. Jedes der Familienmitglieder hat mit Problemen zu kämpfen, die sich eigentlich im Familienverbund leichter bewältigen ließen. Doch innerhalb dieser Gemeinschaft scheint jeder mit seinen Problemen allein dastehen zu wollen. Die Töchter müssen schon einiges an Überwindungskraft aufbringen, um sich dem Rest der Familie gegenüber zu öffnen und sich somit die Blöße zu geben, meilenweit von dem Vorbild des perfekten Zusammenlebens, welches die Eltern gestaltet haben, entfernt zu sein.
„Man kann nicht mit ihr, man kann aber auch nicht ohne sie“. Dies ist ein Gedanke, der präzise die Beziehung der Schwestern untereinander beschreibt. Zwischen den Frauen herrscht von klein auf ein unterschwelliger Konkurrenzgedanke, hauptsächlich wenn es um die Gunst der Eltern geht. Eifersucht und schwesterliche Zuneigung wechseln miteinander ab. 
Blickt man also hinter die Fassade von Familienharmonie und Eheglück, entdeckt man Einzelcharaktere, die sich schwer tun, den Familiengedanken von Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung zu leben. Damit grenzt sich die Autorin vom Trivialen ab und bewegt sich auf tiefgründigerem Terrain als es der Sprachstil sowie die Darstellung des oberflächlichem Familienlebens vermuten ließen.

Fazit:
Zugegeben, der Grat zur Trivial-Literatur ist hier sehr sehr schmal, was vor allem an den oberflächlich erscheinenden Charakteren und deren Umgang miteinander liegt. Hier ist es wie im echten Leben: Der erste Eindruck zählt. Und wenn dieser lautet, dass man es mit oberflächlichen Personen zu tun hat, und der Autor diese Gestaltung seiner Charaktere konsequent durchzieht, ist es so gut wie unmöglich, diesen Eindruck zu revidieren. Doch der erste Eindruck ist nicht immer der Richtige. Denn wenn man sich die Mühe macht, hinter die Fassade des heilen Familienlebens zu blicken, wird man mit einer Familiengeschichte belohnt, in der viele Facetten des Zusammenlebens ausgeleuchtet werden und die mich gedanklich sehr beschäftigt haben. Ich habe diesen Roman daher sehr gern und mit großem Vergnügen gelesen – auch wenn 300 Seiten weniger diesen Roman noch besser gemacht hätten ;-)

Leseempfehlung!