Samstag, 27. Oktober 2018

Tom Rachman: Die Gesichter

Quelle: Pixabay/NadineDoerle
Kind oder kein Kind? Das ist eine Frage, die sich jeder irgendwann mal in seinem Leben stellen wird. Bereichern Kinder das Leben, oder schränken Kinder das Leben ihrer Eltern ein? Welche Opfer müssen Eltern bringen und sind diese Opfer  gerechtfertigt?
Als Tom Rachman den Roman "Die Gesichter" geschrieben hat, war er kinderlos. Und ebendiese Fragen haben ihn beschäftigt. Sowohl Elternschaft als auch Autoren-Dasein fordern Opferbereitschaft und Hingabe. Was ist, wenn nicht genügend davon für beide Rollen vorhanden ist? Was ist, wenn die Vaterrolle zugunsten der schriftstellerischen Karriere auf der Strecke bleibt, und somit auch die Zuwendung für das Kind? Was macht das mit dem Kind?
In der Vater-Sohn-Beziehung, die im Mittelpunkt seines Romanes "Die Gesichter" steht, hat Tom Rachman diese Ausgangssituation für seine Protagonisten zugrunde gelegt.
Quelle: dtv

Bear Bavinsky ist ein gefeierter Maler und eine Naturgewalt. Er ist charismatisch, humorvoll und strotzt nur so vor Selbstbewusstsein. Und ganz nebenbei macht er sich die Welt, wiedewiedewie sie ihm gefällt. Und ihm gefallen Frauen. Viele davon. Monogamie passt nicht in sein Lebenskonzept. Im Laufe der Jahre wird er es auf 17 Kinder bringen, von mehreren Frauen, mit denen er verschiedene Familien gründet, oft nacheinander, aber oft auch zeitgleich. Eines dieser Kinder ist Pinch, eigentlich Charles. Mit Pinch und Ehefrau Natalie, lebt Bear in Rom. Die Geschichte setzt 1955 ein, als Pinch 5 Jahre alt ist. Natalie ist deutlich jünger als ihr Mann. Als sich die beiden kennenlernten, war sie eine junge ambitionierte Künstlerin, die Töpferei als Kunstform betrieben hat. Mittlerweile vernachlässigt sie ihre Kunst, um sich um Bear und Pinch zu kümmern. Der charismatische Bear erdrückt die beiden mit seiner Präsenz. Er steht immer und gern im Mittelpunkt, Natalie ist dabei eine Randfigur, "nur" seine Ehefrau und ist daher für die Kunstszene als Künstlerin nicht existent. Pinch leidet unter dem großen Ego seines Vaters, er weiß es nur noch nicht. Bereits mit 5 Jahren ist er ständig auf der Suche nach Anerkennung durch seinen Vater, die er selten bekommt.
Dieses Streben nach Anerkennung wird auch nie nachlassen. Zunächst versucht Pinch in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, lässt jedoch seine Malversuche bleiben, als er ihn nicht damit beeindrucken kann. Da nützt auch nicht, dass Natalie ihm Talent bescheinigt. Das Einzige, was zählt, ist Bears Anerkennung, die Pinch jedoch nicht erhält.
"Ich konnte kein Maler sein, und jetzt darf ich nicht mal Kritiker werden. Ich bin ein Angeber, ein Simulant, ein Versager."
Der Roman ist in mehrere Abschnitte unterteilt, die chronologisch aufeinanderfolgen, jedoch in unregelmäßigen Zeitsprüngen.
Hier begleitet der Leser Pinch - der Roman ist aus dessen Sicht geschrieben - ein Leben lang, bis hin zu dessen Tod.
Und ein Leben lang sucht Pinch nach Anerkennung bei seinem Vater. Als Maler konnte er ihn nicht überzeugen. Um mit der Kunstszene verbunden zu bleiben, strebt er ein Kunststudium an, zudem er jedoch nicht zugelassen wird. Am Ende bleibt ihm ein Leben in der Mittelmäßigkeit. Er wird Fremdsprachen unterrichten - wieder nichts, mit dem er bei seinem Vater punkten kann.

Pinch war schon immer ein Eigenbrötler. Schüchtern, ohne jegliches Selbstvertrauen, hat er von klein auf Schwierigkeiten, sich auf Menschen einzulassen, wozu nicht nur die Frauen zählen. Daher lassen sich diejenigen Personen, die er auch als Erwachsener als Freunde bezeichnen kann, an einer Hand abzählen. Immer wieder versucht er in seiner Rolle als Sohn eines berühmten Vaters bei anderen Aufmerksamkeit zu erregen. Mit den Jahren findet er sich mit seinem durchschnittlichen Leben ab, wobei ihm auch immer wieder seine regelmäßigen Ausflüge in die, für sich wiederentdeckte Malerei helfen. In diesen Momenten verliert er sich und lässt sein gewöhnliches Leben für kurze Zeit hinter sich. Aber immer treibt ihn die Frage um, ob seine künstlerischen Fähigkeiten vor den Augen des Vaters bestehen können.
"Um als Künster Erfolg zu haben, braucht es ein seltenes Zusammentreffen von Persönlichkeit, Talent und Glück - alle in eine einzige Lebensspanne gebündelt. Was für ein Typ mein Dad doch war! Pinch sagt sich, dass er vielleicht die nötige Fertigkeit besessen hätte, doch das allein genügt nicht: Ihm fehlt es an Persönlichkeit. Die Kunstwelt wird ihm immer verschlossen bleiben."
Tom Rachman hat mit "Die Gesichter" einen sehr berührenden Roman geschrieben. Anfangs konzentriert er sich auf die Naturgewalt Bear und stimmt den Leser darauf ein, welch ein schwieriges Vater-Sohn-Verhältnis sich hier anbahnen wird. Nach dieser Einstimmung wird die Geschichte aus der Sicht von Pinch erzählt. Es tut beim Lesen fast schon weh, wenn Pinch seine Bemühungen um Anerkennung und die damit verbundenen Enttäuschungen schildert. Der Verlauf der Handlung schildert Pinchs Leben als Erwachsener. Bear tritt fast in den Hintergrund. Aber nur fast. Denn auch wenn er keinen großen Anteil an der Handlung hat, ist sein übermächtiger Einfluss auf Pinch trotzdem spürbar. Mit den Jahren passiert nicht viel im Durchschnittsleben von Pinch. Sobald man als Leser jedoch meint, dass Pinch sich mit seinem "gewöhnlichen" Leben abgefunden hat, nimmt die Handlung eine Entwicklung an, die mehr als überraschend ist. Auf einmal entsteht ein Sog, der mitreisst, verblüfft und fesselt. Es scheint, dass sich Pinch am Ende seines Lebens von dem Einfluss seines Vaters befreien wird, und er Anerkennung erhält, allerdings nicht in der Form, wie er und der Leser es erwartet haben. Ein sehr versöhnliches Ende, das den Leser mit einem guten Gefühl zurücklässt.
"Kritiker nennen irgendwas wichtig, bis es wichtig ist, was sie selbst dann wiederum wichtig macht."
Besonders und hochinteressant sind die Einblicke die Tom Rachman in die Kunstszene gewährt. Er beschreibt diese Gemeinschaft fernab von jeglicher Künstlerromantik. Hier wird deutlich, dass die Kunstszene eine Tummelplatz für Über-Egos und Eitelkeiten ist. Und am Ende geht es immer nur ums Geld.

Fazit:
Ganz großes Erzähl-Kino. Ein sehr persönlicher Roman, der berührt, mitreisst und überrascht.
Leseempfehlung!

© Renie






Über den Autor:
Tom Rachman, geboren 1974 in London, wuchs in Vancouver auf. Er war Auslandskorrespondent der Associated Press in Rom, die ihn u. a. nach Japan, Südkorea, Ägypten und in die Türkei entsandte. Später arbeitete er als Redakteur des International Herald Tribune in Paris. Rachmans erster Roman ›Die Unperfekten‹ wurde gleich nach Erscheinen zu einem internationalen Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in London. (Quelle: dtv)