Sonntag, 4. November 2018

Christine Mangan: Nacht über Tanger

Quelle: Pixabay/MonicaVolpin
"Nacht über Tanger" von Christine Mangan - ein Roman, der es in sich hat: ein entspanntes Lesen ist das nicht. Eher ein angespanntes. Denn der Roman ist herrlich nervenaufreibend und zum Nägelkauen spannend.
Es geht um die Freundschaft zweier Frauen - Alice und Lucy. Ihre "Freundschaft" begann in den 40/50er Jahren auf der Highschool, wo sie Zimmergenossinnen waren. Es fällt mir schwer, von einer Freundschaft zu sprechen. Denn tatsächlich handelt es sich hier um ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis. Alice, Tochter reicher Eltern, die leider vor einigen Jahren verstorben sind, ist die Schwache in dieser Beziehung. Der Tod ihrer Eltern hat sie in ein seelischen Tief gestürzt, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Sie ist psychisch angeschlagen, ohne Selbstbewusstsein. Das Gegenteil von ihr ist Lucy, ebenfalls Waise. Sie ist taff, selbstbewusst und gibt in der Beziehung der beiden Mädchen den Ton an. Mit beiden stimmt etwas nicht. Lucys Zuneigung zu ihrer Freundin ist obssessiv und manipulativ. Sie wäre gern wie Alice (was ihre Herkunft angeht, denn Alice kommt aus einer wohlhabenden Familie). Alice hat sie durchschaut, hat aber nicht die Kraft, gegen Lucy aufzubegehren.
"Es war mein sehnlichster Wunsch, dass alles wieder so war wie früher; vor dieser schrecklichen Nacht. Diese Hoffnung lebte noch immer in mir, wenn auch verborgen in meinem leeren Herzen. Doch ihre Körperhaltung, ihr Art, sich zu bewegen - wie ein verängstigter, eingesperrter Vogel, fand ich -, machten mich stutzig, und ich fragt mich, ob das Problem gar nicht die Geheimnisse waren, die wir teilten, sondern vielmehr etwas völlig anderes." 
Quelle: Blessing
Die Geschichte der Anfänge ihrer Freundschaft erfährt man in der Retroperspektive. Denn eigentlich spielt der Roman in Tanger (1956), wo sich die beiden Frauen ein paar Jahre nach ihrer gemeinsamen Schulzeit wiedersehen. Alice ist mittlerweile verheiratet und mit ihrem Mann nach Marokko gezogen. Lucy steht eines Tages bei Alice überraschend vor der Tür. In den letzten Jahren scheint viel geschehen zu sein. Man erfährt, dass es damals an der Schule ein mysteriöses Ereignis gab, welches die Ursache für das abrupte Ende der Freundschaft war. Doch für Lucy scheint die Freundschaft noch lange nicht vorbei zu sein. Heute wie damals hat Alice nicht die Kraft, sich gegen Lucy zur Wehr zu setzen. Alice scheint Menschen, die Besitzansprüche auf sie erheben wollen, förmlich anzuziehen. Denn Ehemann John hat sie wegen ihres Vermögens geheiratet. Solange er mit Alice zusammen ist, braucht er sich keine Sorgen um seine finanzielle Zukunft zu machen. So betrachten sich Lucy und John gegenseitig als Störfaktoren, wenn es darum geht, Alice zu vereinnahmen. 
"Mein Blick wanderte zwischen den beiden hin und her; dem Ehepaar; und ich kam zu dem Schluss, dass irgendwas nicht stimmte - ich konnte es spüren, denn es füllte den Raum aus, knisternd, zischend, es schrie förmlich danach, bemerkt zu werden."
Die Geschichte wird im Wechsel aus der Sicht von Lucy und Alice erzählt. Das ist hochinteressant. Denn dieselben Ereignisse sind noch lange nicht dieselben Ereignisse. Und man wird das Gefühl nicht los, dass beide Frauen nicht ganz richtig im Kopf sind. Die Autorin macht das ganz geschickt: Jede der Frauen wirkt im ersten Ansatz völlig normal und weckt Sympathie. Doch auf einmal kommt eine klitzekleine Andeutung im Text, die Zweifel an der jeweiligen Person weckt. Nach und nach stellt sich heraus, was damals in der Schule passiert ist. Scheinbar kann jede der Frauen zu allem fähig sein.
Das Lesen wird von der ersten Zeile an von einer unterschwelligen Spannung begleitet. (Daher das "angespannte Lesen", s. o.) Hier bahnt sich etwas an. Und schnell ist man sich sicher: Mindestens eine(r) der Protagonisten wird auf der Strecke bleiben. 

Ich habe über die Autorin gelesen, dass sie Creative Writing studiert und zur Gothic Literature (läuft in Wikipedia unter Schauerliteratur) promoviert hat. Es hat sich gelohnt, denn Christine Mangan beherrscht diese Disziplin par excellence: "Nacht über Tanger" ist richtig richtig schaurig, aber schaurig genial.
"Jetzt fiel mir auf, dass Tanger in vielerlei Hinsicht eine Geisterstadt war. Nur war sie nicht tot, leer und öde, sondern lebendig. Sie blühte und quoll über vor Erinnerungen an die großartigen Denker, die durch ihre Gassen geschlendert waren. Die hier nachgedacht und Tee getrunken hatten und inspiriert worden waren. Sie war ein Zeugnis, ein Grabmal derjenigen, die vorher hier gewesen waren. Doch die Stadt machte nicht den Eindruck, als sei schon alles vorbei. In ihr blühte und schäumte noch immer etwas, das darauf wartete, entdeckt oder freigesetzt zu werden. Ich konnte es spüren, an dem Kribbeln in meinen Händen."
Bemerkenswert ist auch die Stimmung, die diesen Roman durchzieht. Neben der permanenten unterschwelligen Spannung, der man ausgesetzt ist, meint man auch "Tanger" zu spüren: unerträgliche Hitze, grelles Sonnenlicht, das pulsierende Leben in einer arabischen Stadt, exotische Gerüche, fremde Menschen, die etwas Bedrohliches an sich haben. Die Autorin zieht hier sämtliche Register und hat damit einen Roman geschaffen, der der Bezeichnung Schauerliteratur alle Ehre macht.
Lesempfehlung!

© Renie



Über die Autorin:
Christine Mangan, geboren 1982, hat Creative Writing studiert und am University College Dublin zur Gothic Literature promoviert. Nacht über Tanger ist ihr erster Roman, der sich in 20 Länder verkauft hat. Die Filmrechte gingen an die Produktionsfirma von George Clooney. Christine Mangan lebt in Brooklyn, New York, und schreibt an ihrem zweiten Rom (Quelle: Blessing)