Freitag, 5. Oktober 2018

Chris Kraus: Sommerfrauen, Winterfrauen


Quelle: Pixabay/ShonEjai
Eines meiner Roman-Highlights des letzten Jahres war "Das kalte Blut" von Chris Kraus. Wen wundert's, dass ich ungeduldig auf den Nachfolger gewartet habe. Vor ein paar Wochen ist dieser nun erschienen: "Sommerfrauen, Winterfrauen". Der Titel hat bei mir allerdings für Irritationen gesorgt: Chris Kraus hat also einen Frauenroman geschrieben, also einen Roman über Frauen - wenn auch besondere Frauen - und womöglich für Frauen? Och nö.
Doch wie gut, dass der erste Eindruck nicht immer der Richtige ist. Die Buchbeschreibung hat mich eines Besseren belehrt und wieder hoffen lassen. Und die Hoffnung wurde bestätigt: Das Warten hat sich gelohnt!

In "Sommerfrauen, Winterfrauen" (eine Meerjungfrau gibt es im Übrigen auch in diesem Buch) geht es um den Regiestudenten Jonas und einige wenige Frauen, die großen Einfluss auf sein Leben nehmen. Jonas zieht es im Rahmen seines Filmstudiums nach New York. Er bildet die Vorhut für eine Studentengruppe des bekannten Regisseurs Lila von Dornbusch, die ein paar Wochen in New York verbringen wird. New York soll dabei die Quelle der Kreativität und Inspiration für die Filmversuche der Studenten sein. Bei seinen ersten Gehversuchen durch die Stadt, ist Jonas mit dem Großstadtleben völlig überfordert. Dank der Kontakte von Lila - warum muss ich nur immer an Rosa von Praunheim denken? - kommt er bei dem legendären und exzentrischen Filmemacher Jeremiah unter, der in den letzten Jahren eher durch seine adipöse Erscheinung und seinem divenhaften Gemüt als durch cineastische Erfolge im Gespräch war. Und doch hat er sich einen Namen in der Künstlerszene gemacht, von dem auch Jonas profitiert. 
"Vor vielen Jahren muss Jeremiah ein schöner Mann gewesen sein. Auf den Schwarz-Weiss-Fotos aus jener Zeit sieht man ein weiches, melancholisches, fast mageres Gesicht, in dem ausdrucksvolle Augen etwas scheu und gebrochen in die Welt blicken. Wenn man jung ist, ist Gebrochenheit schön und faszinierend, später will man es nicht mehr sehen. Nun ist der Mann wie ein Walfisch am Leben gestrandet, erfüllt von Bitternis, oft zynisch."
Quelle: Diogenes
Schon nach ein paar Tagen gewinnt Jonas an Selbstbewusstsein und lernt, mit der aggressiven Stadt zurechtzukommen. Unterstützung erhält er dabei von Nele, die ihn und die anderen Studenten, die mittlerweile eingetroffen sind, betreut. Doch Jonas bekommt den Kopf nicht frei für seine Aufgaben. Was zum Einen an seiner daheimgebliebenen eifersüchtigen Freundin Mah liegt, die ihn mit obskuren Anrufen nervt; und zum Anderen an Tante Paula, die in einer Seniorenresidenz in New York lebt und mit ihm über seinen Großvater reden möchte. Denn Jonas Großvater hat sich und seine Familie durch seine Karriere als Mitglied der SS nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Eine Familiengeschichte, mit der sich Jonas höchst ungern auseinandersetzen möchte. Doch Tante Paula, die eigentlich nicht seine Tante ist, sie war jedoch das Kindermädchen seines Vaters und gehört daher zur Familie, hat überzeugende Argumente, um ihn (und dem Leser) ihre Geschichte und die des Großvaters zu erzählen.
"... Wer sich in den Nazischeiß begibt, kommt darin um. Und ich will das nicht. Ich will nicht im Nazischeiß umkommen. Apapa war ein Täter. Tante Paula mag ihn trotzdem. Ist das mein Problem?"
"Sommerfrauen, Winterfrauen" ist ein Buch des Gegensatzes:
Banalität trifft auf Tiefsinn! Komik trifft auf Ernsthaftigkeit! Zum Einen haben wir die ersten Laufversuche eines Filmemachers in der großen weiten Künstlerwelt, verbunden mit fast schon slapstickhaften Einlagen. Zum Anderen geht es um den ernsthaften Umgang von Jonas mit der Nazivergangenheit eines sehr nahestehenden Familienmitgliedes. Diese Themen scheinen zunächst einmal nicht zusammenzupassen. Und doch gelingt dem Autor das Kunststück, beide Themen miteinander in Einklang zu bringen. Denn trotz aller humoristischen Einlagen in diesem Buch, wird der Aufenthalt in New York zu einer Reise zu sich selbst. Die Zeit in Amerika lässt den anfangs flapsigen und unbedarft erscheinenden Jonas reifen. Die Auseinandersetzung mit Tante Paula und der Familiengeschichte trägt dazu bei, dass er sein bisheriges Leben und das, was er tut, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.
"Ich könnte mit vierzig sterben. 
Ich könnte mit dreißig sterben, zerspant von all den Martern, die ich mir zumute oder gönne oder was auch immer. 
Ich könnte morgen sterben. 
Doch im Augenblick, in diesem vorüberstreichenden Augenblick totaler Ungewissheit, will ich ewig leben."
Dabei wird es mit Chris Kraus nie langweilig. Sein Sprachstil zeichnet sich durch Sprachwitz, Lust am Fabulieren und Sarkasmus aus. Dieser Sarkasmus kann manchmal richtig biestig sein. Das macht Spaß. Aber trotzdem weiß der Autor immer ganz genau, wann Sarkasmus deplatziert und wann Ernsthafigkeit gefragt ist.

Mit "Sommerfrauen, Winterfrauen" hat mich Chris Kraus genau wie in seinem ersten Roman als unterhaltsamer und ernsthafter Geschichtenerzähler überzeugt. Und wieder bin ich gespannt auf den nächsten Roman, dem ich selbstverständlich wieder voller Ungeduld entgegenfiebern werde. Leseempfehlung

© Renie