Sonntag, 11. Juli 2021

Ann Petry: Country Place

Schauplatz des Romans "Country Place" von Ann Petry ist der beschauliche Touristenort Lennox im amerikanischen Bundesstaat Connecticut. Hier verbringen Touristen gern ihre Sommerfrische und begeben sich auf die Suche nach Ruhe, Wärme und Erholung.
Es scheint, dass Lennox eine Idylle paradiesischem Ausmaßes ist. Da zu einem anständigen Paradies auch mindestens ein Sündenfall gehört, ist natürlich auch Lennox nicht davor gefeit. Dafür sorgen die Bewohner von Lennox und einige davon im Besonderen. 
Diese Beobachtung macht auch der Apotheker vor Ort: Doc Fraser, von vielen Pop genannt, der sich gleich zu Beginn des Romans als Ich-Erzähler präsentiert. Im Verlauf der Geschichte wird er diese Rolle jedoch nur sporadisch einnehmen. Denn in diesem Roman wechseln die Erzählperspektiven zwischen den Hauptfiguren, welche sind 
- die alte Mrs. Gramby und ihr Sohn Mearn, sehr wohlhabend, bewohnen ein Anwesen inklusive Hausangestellten. Die beiden sind angesehene Stützen der Gesellschaft, Mrs. Gramby noch mehr als ihr Sohn. Mearn ist verheiratet mit 

- Lil, ehemalige Schneiderin, die sich den reichen Mearn geangelt hat, um in die höheren Gesellschaftskreise aufzusteigen und ein Leben in Saus und Braus zu führen. Schwiegermutter und Schwiegertochter können sich nicht ausstehen, versuchen jedoch den Schein zu wahren – was ihnen mehr schlecht als recht gelingt. Lil ist in den 40ern und hat eine Tochter: 

- Glory, die in einem Laden in Lennox als Verkäuferin arbeitet. Einfach gestrickt und charakterlos wie ihre Mutter betrachtet sie Männer als Versorger, weshalb sie verheiratet ist, mit 

- Johnny Roane, der die letzten Jahre in Vietnam verbracht hat, soeben aus seinem Kriegseinsatz zurückgekehrt ist und nun auf eine glückliche Zukunft mit seiner Glory hofft. 

Neben diesen Hauptfiguren treffen wir in Lennox auf Nebendarsteller, die aber trotz ihrer untergeordneten Rolle einen enormen Einfluss auf die Handlung haben. 
Quelle: Nagel und Kimche
"Jetzt fiel ihm wieder ein, dass überall geklatscht und getratscht wurde - im Postamt, im Gemischtwarenladen, im Drugstore und sonntags nach dem Gottesdienst vor den Kirchen. Diese Sorte Grinsen im Gesicht des kleinen Mannes hinterm Lenkrad stand für die ganze Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit der Stadt, für ihr hinterhältiges Gespött über andere." 
Der Roman erzählt die Geschichte dieser Menschen und entwickelt sich zu einer Tragödie, die an Dramatik kaum zu überbieten ist. Es wird geliebt, gehasst, geneidet, gegiert und betrogen. Eifersucht und Intrigenspiel gehören dabei auf die Tagesordnung. 

Ann Petry nimmt den Leser an die Hand und führt ihn durch Lennox. Die Menschen, die uns dabei begegnen werden von ihr in den schillernsten Farben bis ins kleinste Detail geschildert. Dominiert wird dabei das Geschehen von den Frauenfiguren dieses Romans, wobei Ann Petry klar zwischen Gut und Böse unterscheidet. Die Femmes Fatales bekriegen sich mit den Charakteren von untadeligem Ruf. 

Trotz aller hochkochender Emotionen behält dieser Roman seine Beschaulichkeit, die durch den Ferienort Lennox assoziiert wird, bei. Der Sprachstil ist ruhig und sortiert. Petry konzentriert sich auf die Rolle des Beobachters, die teilweise durch den Apotheker besetzt wird, der sich als Chronist der Ereignisse vorstellt, aber diese Rolle nicht gänzlich ausfüllt. 

Ann Petry hat mit "Country Place", der im Jahre 1947 erstmalig veröffentlicht wurde, ihren zweiten Roman geschrieben. Ihr erster Roman "The Street" aus dem Jahre 1946 sorgte für Furore, weil er in einer Zeit veröffentlich wurde, als afroamerikanische Literatur eine Männerdomäne war und eine deutliche Anklageschrift gegen Rassismus und das vorherrschende Frauenbild war. Mit "Country Place" konnte die Autorin nicht in Gänze an ihren Erfolg anknüpfen. Denn hier fehlte die "Protestnote", die in "The Street" zu finden war. "Country Place" ist gemäßigter als sein Vorgänger. Bis auf wenige Ausnahmen ist das Personal in diesem Roman weiß-amerikanisch. Aber "weiß" ist nicht gleich "weiß", wie der Umgang der Bevölkerung von Lennox mit einem jüdischen Anwalt sowie nicht-amerikanischen Hausangestellten der Familie Gramby verdeutlicht.

Hat mir "The Street" von Ann Petry schon ausgesprochen gut gefallen, hat sie mit "Country Place" mein Herz erobert. Mir gefällt diese Mischung aus Ruhe und Beschaulichkeit eines amerikanischen Kleinstadtromans, gepaart mit der emotionalen Dramatik, die durch das Miteinander der Charaktere entsteht. 

Ich freue mich, dass der Verlag Nagel und Kimche Ann Petry für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt hat. Der Roman "The Street" wurde bereits im letzten Jahr veröffentlicht, "Country Place" erschien im Mai diesen Jahres. Für das Frühjahr 2022 ist nun der dritte und letzte Roman von Ann Petry avisiert Und ich bin sehr gespannt, ob für mich noch eine Steigerung zu "Country Place" möglich sein wird.

© Renie