Ich bin in die Breite gegangen. Freundlich ausgedrückt: Ich habe in den letzten Jahren Gewicht aufgebaut ;-) Aber das ist nun mal die logische Konsequenz aus einem Missverhältnis zwischen Nahrungsaufnahme und körperlicher Bewegung. Ein unerfreulicher Zustand.
Seit der Lektüre von Brigitte Halentas Roman "Die Breite der Zeit" habe ich gelernt, dass auch die Zeit in die Breite gehen kann. Aber anders als bei meinen Kilos, ist die Breite der Zeit ein durchaus erstrebenswerter Zustand.
Worum geht es in diesem Roman?
Am Abend ihres 70-jährigen Geburtstages bereitet sich Henriette auf eine Auszeit von ihrem bisherigen Leben vor. Am nächsten Morgen will sie eine Reise nach Amerika antreten. Dort wird sie eine Freundin besuchen, die in jungen Jahren einen Amerikaner geheiratet hat und mit ihm ausgewandert ist. Die beiden Freundinnen haben sich seit ihrer Jugend nicht mehr gesehen.
Henriette hat diese Auszeit bitter nötig. Zusammen mit ihrem Mann Achim, der 94-jährigen bösartigen Schwiegermutter und ihrem erwachsenen Sohn, lebt sie auf einem Bauernhof in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein. All die Jahre hat sie ihrem Mann selbstlos den Hof geführt, die Schwiegermutter versorgt und sich um den Sohn gekümmert. Ihre eigenen Bedürfnisse hat sie dabei immer hinten an gestellt. Sie war für andere da, aber nie für sich selbst. Dabei musste sie die Ablehnung und Anfeindung der Schwiegermutter über sich ergehen lassen. Ihr Mann begegnet ihr seit Jahren mit Gleichgültigkeit. Henriettes einziger Lichtblick waren die wöchentlichen Treffen mit Bernd, mit dem sie ein Verhältnis hatte. Doch Bernd ist vor einigen Jahren gestorben.
„Sie hat es immer in dem Blick, mit dem die anderen sie anschauen, gelesen: Ablehnung, Missachtung. Irgendetwas ist grundsätzlich falsch an ihr. Sie hat sich ihr Leben lang Mühe gegeben, alles richtig zu machen, aber zu einer Richtigen hat sie das nicht gemacht.“ (aus "Die Breite der Zeit")
Henriette nimmt also ihr Leben in die Hand und tritt die große Reise ins Unbekannte an. Je länger und weiter sie von zu Hause weg ist, umso selbstständiger und mutiger wird sie. Aus Henriette wird Henny. Sie gewinnt neue Freunde und entdeckt verborgene Talente an sich. Schleswig-Holstein ist weit weg. Nur selten verschwendet sie einen Gedanken an Zuhause. Aber irgendwann ist ihre Zeit in Amerika vorbei. Der Aufenthalt hat ihr gut getan. Sie hat die neue Henny lieben und schätzen gelernt. Die Herausforderung ist jetzt, die Dinge, die ihr wichtig geworden sind, in ihren Alltag auf dem Bauernhof zu integrieren.
Doch alles läuft anders als geplant. Zuhause erwartet sie eine Tragödie, die sie zunächst völlig aus der Bahn wirft. Sie braucht einige Zeit, um wieder zu ihrer neuen Stärke zurückzufinden.
Das Schicksal scheint es gut mit ihr zu meinen. Sie schafft es, den in Amerika begonnen Weg der Selbstfindung in Deutschland fortzusetzen. Sie widmet sich ganz ihrem künstlerischem Talent, das sie in Amerika für sich entdeckt hat. Sie führt auf einmal ein Leben, das ihr auf dem Hof nie vergönnt war und von dem sie noch nicht einmal geträumt hat.
Dieser Roman ist ein Liebesroman. Natürlich darf daher der Passende für Henny nicht fehlen. Sie lernt Carl kennen, ein Mann in den 70ern, der ihre Leidenschaft für die Kunst teilt. Er umwirbt sie und am Ende kriegen sie sich.
„Henriette richtet sich innerlich auf und sagt sich wieder einmal, dass sie siebzig ist und dass es, wenn nicht jetzt, wann dann, Zeit ist, andere Seiten aufzuziehen. Was doch nur heißen kann, die alten hinderlichen Gefühle in den Müll zu kippen und neue auszuprobieren: die Berechtigung, den eigenen Wünschen zu folgen, die aufregende Freiheit zu entscheiden, die Lust, die alleinige Urheberin all dessen zu sein, was in ihrem Leben passiert.“ (aus "Die Breite der Zeit")
Dieser tolle Roman von Brigitte Halenta passt in die derzeitige Diskussion um den Mangel an „Seniorenromanen“ in der aktuellen Literaturszene. Ich stoße häufig auf die Frage nach den Büchern von Alten über Alte für Alte gemacht. „Altenliteratur“ halt! Ein fürchterlicher Begriff. Ich tue mich schwer mit diesem Schubladendenken. Wenn mich ein Roman interessiert, ist das Alter der Protagonisten nebensächlich. Für mich sind andere Kriterien ausschlaggebend. Das sind eine außergewöhnliche Geschichte und bemerkenswerte Charaktere.
Brigitte Halenta hat mit ihrem Roman "Die Breite der Zeit" genau meinen Geschmack getroffen. Sie zeigt die Entwicklung einer mutigen Frau auf, für die mit 70 noch lange nicht Schluss ist. Dabei erzählt sie eine spannende und kurzweilige Geschichte, die den Leser zu den unterschiedlichsten Schauplätzen führt. Und am Ende ist dieses Buch eine romantische Liebesgeschichte, ein bisschen Seniorenroman und ganz viel Entwicklungsgeschichte einer bemerkenswerten Frau. Also einfach ein rundum gelungener Roman, der fesselt, den Leser träumen lässt, aber auch nachdenklich stimmt.
„Die Freude ist jäh geköpft worden. Irgendwie, will ihr scheinen, war das immer so. Kurz bevor eine Freude in ihren Armen angekommen war, so dass sie hätte zugreifen können, in ihren Beinen, so dass sie hätte loslaufen können, kam jemand, der die Freude erstickte. Aus der verlorenen großen Freude wurden dann all die kleinen Freuden der zweiten Wahl, die sie ersetzen sollten.“ (aus "Die Breite der Zeit")
Brigitte Halenta hat mich von Anfang an mit ihrer wundervollen Sprache gehabt. Sie schafft es, durch ihren Sprachstil emotionale und berührende Bilder hervorzurufen. Man nimmt sich gern Zeit beim Lesen und verweilt bei einzelnen Textpassagen, weil es Freude bereitet, diese mehrfach zu lesen. Ihre bildhafte Sprache ist ein Genuss. Und doch musste ich zum Ende feststellen, dass mich das, was ich an dem Sprachstil zu schätzen wusste, zum Ende ins Kitschige abgedriftet ist. "Die Breite der Zeit" ist immer noch ein Roman inklusive Liebe, Lust und Leidenschaft. Und gerade bei einer bildhaften Sprache wird der Grat zwischen Kitsch und Gefühl sehr schmal. Leider hat Brigitte Halenta diese Gratwanderung zum Ende nicht hinbekommen. Ich glaube aber, dass ich hier kein Maßstab sein sollte, da ich mich generell mit Liebesromanen schwer tue. Freunde von Liebesromanen werden hier gewiss zu einer anderen Meinung kommen. Und um es mit Brigitte Halentas Worten zu schreiben:
„Die Bewertung ‚kitschig‘ drückt doch oft nichts weiter als die Angst vor Gefühlen aus. Alle großen Gefühle sind, wenn man über sie redet, kitschig.“ (Auszug aus "Die Breite der Zeit")
Nun, liebe Frau Halenta, ich bin sicher, dass ich keine Angst vor Gefühlen habe. Ich denke nur, dass manchmal weniger mehr ist. Gefühle lassen sich auch in einer weniger bildhaften Sprache darstellen. Ich bin jedoch überzeugt, dass viele andere Leser bei diesem Gefühlsszenario dahinfließen werden. Ich bin halt nicht geflossen, was jedoch meiner Begeisterung für Ihren Roman keinen Abbruch tut.
„ …, dass es zwei Welten gibt, die Welt des Alleszugleich und die Welt des Alleshintereinander; zu der ersten gehört die Breite der Zeit, zu der zweiten ihre Länge. Um alles zugleich haben zu können, muss man einfach nur da sein, weiter nichts, mit allen Sinnen, aber wenn man handeln will, dann geht das nur alles hintereinander. Diese beiden Prinzipien darf man nicht durcheinanderbringen, sonst droht Unglück.“ (aus "Die Breite der Zeit")
Die Autorin verknüpft in ihrem Roman eine großartige Geschichte mit vielen philosophischen und lebensklugen Ansätzen. „Die Breite der Zeit“ - ein Zustand, den jeder anstreben sollte, egal in welchem Alter, je früher desto besser. Auch jetzt noch, einige Tage nachdem ich diesen Roman gelesen habe, ertappe ich mich dabei, nach der Breite der Zeit zu forschen. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Ich nehme in diesen Momenten des Innehaltens die Dinge um mich herum bewusster wahr, versuche mich auf das Jetzt zu konzentrieren und nicht auf das, was kommen könnte. Wahrscheinlich wird mir dies auf Dauer nicht immer gelingen. Aber ich arbeite daran. Und im Zweifelsfall werde ich immer wieder gern an die Ü70erin Henny denken, die - besser spät als nie - alles richtig gemacht hat und die Breite der Zeit für sich entdeckt hat.
Danke, Brigitte Halenta, für einen besonderen Roman voller Lebensfreude, Hoffnung und Zukunft.
© Renie
Die Breite der Zeit von Brigitte Halenta,
ISBN: 978-1522985662
Verlag: Martin Bühler Publishing
Über die Autorin:
Brigitte Halenta, Jahrgang 1937, lebt und schreibt in Lübeck. Bis 2010 war sie als Psychotherapeutin in ihrer eigenen Praxis tätig. Obwohl sie schon immer geschrieben hat und Texte von ihr in verschiedenen Literaturzeitungen erschienen sind, konnte sie sich erst nach der Aufgabe ihrer Berufstätigkeit ganz dem Schreiben widmen. Im März, 2007 stellte sie ihren ersten Roman DIE BREITE DER ZEIT (Orlanda Verlag, Berlin) in einer stark gekürzten Fassung im Buddenbrookhaus in Lübeck vor. Die Neuauflage des Romans ohne Kürzungen ist 2015 bei Martin Bühler Publishing erschienen. (Quelle: Martin Bühler Publishing)