Montag, 24. Juli 2017

Rebecca Hunt: Everland

Quelle: Pixabay / Mariamichelle
Sommer, Sonne, Portugal bei 36 °C. Ich schwitze und suche Abkühlung bei einem Buch: "Everland" von Rebecca Hunt. Mehr Kälte geht fast nicht mehr. Denn dieser Roman führt mich in die Antarktis, auf eine kleine Insel namens Everland.

Everland ist das Ziel zweier Antarktisexpeditionen. Die erste Expedition findet 1913 statt und scheitert. Die Zweite findet 100 Jahre später als Jubiläumsexpedition statt. Auch sie scheitert.

1913
Das britische Schiff Kismet ist damit beauftragt, die Tier- und Pflanzenwelt der Antarktisinsel zu erforschen. Die Expedition wird von 3 Besatzungsmitgliedern durchgeführt: Ned, 1. Offizier und somit Anführer der Gruppe; Millet-Bass, ein erfahrener Matrose sowie Dinners, ein Wissenschaftler, ohne jegliche Erfahrungen auf dem Gebiet der Feldforschung.
Die drei Männer legen in einem Beiboot der Kismet die letzten Meilen zur Insel zurück. Dabei geraten sie in einen Sturm, der das Boot kurz vor der Küste Everlands zum Kentern bringt. Die Männer schaffen es mehr tot als  lebendig auf die Insel und warten nun auf ihre Rettung. Doch die Kismet ist aufgrund des Packeises, das sich in der Zwischenzeit gebildet hat, nicht mehr in der Lage, die Männer zurückzuholen. Man bedenke: Eisbrecher hatten damals noch nicht die Kraft, die sie heute haben. Funkgeräte gab es noch nicht. Es gibt also keine Kommunikation zwischen den Männern auf der Insel und der Kismet. Stattdessen setzt das lange zermürbende Warten auf Rettung ein, in einer unbarmherzigen Umgebung und mit einer Ausrüstung, die herzlich wenig mit dem Hightec-Equipment der heutigen Zeit zu tun hat.
"Alles war aschgrau, pechschwarz, lehmbraun und rostrot in unterschiedlichen Abstufungen, bis auf den Himmel, der die Farbe von schmutziger Wolle hatte. Der Vulkan, der siebzig Prozent der Insel für sich beanspruchte, war aus der Nähe betrachtet ein trister Schlackehügel. Everland war still, leblos und auf brutale Weise unspektakulär. Mehr als trostlos, es war hässlich." (S. 34)
Quelle: Randomhouse / Luchterhand
Der erste Offizier Ned entwickelt sich nicht nur aufgrund seiner Funktion zum Alphatier in der Gruppe. Er ist willensstark, eine Kämpfernatur, jegliche Zeichen von Schwäche sind ihm zuwider. Womit wir bei Dinners wären. Denn der verkörpert genau diese Schwächen. Er ist unerfahren, ungeschickt, kaum allein überlebensfähig in der Situation, in der sich die drei Männer befinden. Seine Gesundheit hat bei dem Kentern vor der Insel am meisten gelitten. Auf der Insel ist er den anderen Männern ein Klotz am Bein. Für die Drei werden Tage zu Wochen, Wochen zu Monaten, und es ist keine Rettung in Sicht. Die scheinbar ausweglose Situation, in der die Männer sich befinden, verändert sie. Der Aufenthalt auf der Insel entwickelt sich zum Psychodrama. Mit der Zeit lassen sie die schreckliche Gewissheit zu. Wenn sie sich nicht selbst helfen, sind sie verloren.

2013
Einhundert Jahre später wird eine 3-köpfige Crew mit einer Hightec-Ausrüstung per Flugzeug auf Everland abgesetzt. Die mehrwöchige Expedition soll sich mit der Erforschung der Tierwelt befassen. In erster Linie ist diese Aktion jedoch als Gedenkfahrt an die gescheiterte Expedition von 1913 zu sehen. Es gibt einige Parallelen zu der ersten Expedition - teilweise beabsichtigt, teilweise dem Zufall geschuldet. Auch hier besteht das Team aus 3 Personen: Chester, ein erfahrener Antarktisforscher, Jess, die ehrgeizige Feldassistentin und Brix, die Wissenschaftlerin, unerfahren auf dem Gebiet der Feldforschung, die ihren Platz in dem Team durch Beziehungen und einen reichen Onkel ergattert hat. Chester und Jess haben unter der Unerfahrenheit und Unsicherheit von Brix zu leiden. Denn Brixs Schwäche birgt ein ständiges Risiko. Insbesondere Chester ist anfangs permanent damit beschäftigt, die Fehler und Missgeschicke von Brix auszubügeln. Auch wenn sich 100 Jahre später die Ausrüstung erheblich verbessert hat, sind die Gefahren, mit denen die Crew zu kämpfen hat, die Gleichen. Kälte, Schneestürme, Erfrierungen, Verletzungen, die nicht behandelt werden können, weil die Mitglieder auf sich allein gestellt sind.... die Natur ist mörderisch und stellt sich gegen den Menschen. Es passiert das, was passieren muss. Auch diese Expedition wird scheitern. 
"'Die Schwachen werden nicht von den Starken getragen, sonder reißen sie mit in die Tiefe.'" (S. 68)
Rebecca Hunt erzählt die Geschichte der beiden Expeditionen, in dem sie 3 Handlungsstränge parallel verlaufen lässt. Handlungsstrang 1 behandelt die Zeit nach der Rettung von Dinners. Damit beginnt dieser Roman. Die Kizmet hat es geschafft, nach Everland zurückzukehren. Dinners wird gerettet, was mit den anderen beiden Expeditionsmitgliedern passiert ist, bleibt offen. Kapitän, Schiffsarzt und die Crew der Kismet spekulieren, was auf der Insel passiert ist und versuchen auch Ned und Millet-Bas aufzuspüren.
Handlungsstrang 2 schildert den Überlebenskampf der 3 Männer auf Everland (1913). Mit Handlungsstrang 3, der Gedächtnisexpedition schließt sich der Kreis.

Sehr gelungen fand ich die Verknüpfungen zwischen den beiden Expeditionen. So stößt das Team um Chester bei seinen Forschungen auf Überbleibsel und Spuren der ersten Expedition. Spuren, die zunächst Rätsel aufgeben. Da diese Spuren und Überbleibsel auch in Handlungsstrang 2 eine Rolle spielen, ergibt sich dadurch zumindest für den Leser des Rätsels Lösung.
"Es gab Dinge, die Everland verlassen würden, und andere, die zurückblieben und darauf warteten, entdeckt zu werden. Ein Rucksack, der im Eis abgestellt worden war, oder eine Sammlung von sechs Amethysten. Die Geschichte dieser Gegenstände und ihrer Lage würde man eines Tages verstehen oder auch nicht." (S. 410)
Der Sprachstil von Rebecca Hunt ist bildgewaltig. Dadurch lässt sie den Leser den Überlebenskampf der beiden Teams fast schon körperlich spüren. Insbesondere die Beschreibungen der Naturgewalten lassen Bilder im Kopf entstehen, die den Leser ganz klein vor Überwältigung und Ehrfurcht werden lassen. Allein diese Bilder im Kopf sind es wert, diesen spannenden Roman zu lesen.

Fazit:
Ein atemberaubender Abenteuerroman, der nicht nur durch die besondere Geschichte sondern auch durch den bildgewaltigen Sprachstil von Rebecca Hunt überzeugt. Leseempfehlung!

© Renie




Über die Autorin:

Rebecca Hunt wurde 1979 in Coventry geboren und hat am Central Saint Martin's College, einer bekannten Londoner Hochschule für Kunst und Design, studiert. Rebecca Hunt ist Malerin und lebt in London. Ihr erster Roman „Mr. Chartwell“ stand auf der Longlist des Guardian First Book Award und auf der Shortlist des Galaxy National Book Award, ihr zweiter Roman „Everland“ kam auf die Shortlist des Encore Award 2014. (Quelle: Randomhouse/Luchterhand)