Dienstag, 12. Oktober 2021

Charles Lewinsky: Melnitz

Der Roman "Melnitz" ist über 900 Seiten starke Fabulierkunst, wie nur Charles Lewinsky sie beherrscht. Er erzählt darin die Geschichte der jüdisch-schweizerischen Familie Meijer über einen Zeitraum von fünf Generationen. Die Handlung beginnt im Jahre 1871 und endet 1945.

Die Familie kommt aus dem gutbürgerlichen Milieu. Familienoberhaupt Salomon, mit dem die Geschichte beginnt, ist Viehhändler. Mit den nächsten Generationen werden die Meijers ihren Lebensunterhalt im Einzelhandel verdienen. Sie haben Erfolg bei dem, was sie machen. Der Erfolg sorgt für Wohlstand, mal mehr, mal weniger bescheiden. Die nachfolgenden Generationen werden davon profitieren. Es wird Nachkommen geben, die das Vermächtnis ihrer Eltern fortführen, genauso wie es Nachkommen geben wird, die einen eigenen beruflichen Weg einschlagen werden.

Die Ehen in dieser Familie werden anfangs weniger aus Liebe, sondern eher aus Vernunft geschlossen. Erst über die Jahre wird es zu Verbindungen kommen, die aus Liebe entstanden sind.
Quelle: Diogenes

Bei den Meijers wird gemenschelt und gejüdelt. Denn die jüdische Familie lebt nach den Regeln des Talmud. Ob aus Frömmigkeit oder Tradition, der jüdische Glaube bestimmt das Leben der Meijers.

Charles Lewinsky lässt in diesem Roman Schweizer Geschichte stattfinden, denn er bettet die Handlung in einen historischen Rahmen. Erzählt wird die Geschichte des Judentums in der Schweiz, vom 19. Jahrhundert bis hin zum 2. Weltkrieg am Beispiel der Meijers. 

Der Roman "Melnitz" ist ein großes Lesevergnügen, was nicht zuletzt an dem Sprachstil des Schweizer Autors liegt. Mit großer Fabulierlust und viel Ironie schildert Charles Lewinsky die großen und kleinen Probleme und Ereignisse aus dem Familienlebens der Meijers. Die Charaktere werden von ihm überspitzt dargestellt. Persönliche Macken und Eigenheiten werden dabei genüsslich ausgeschlachtet. er Autor lässt nur wenig Spielraum, um sich ein eigenes Bild von den Figuren zu schaffen. Dafür sind seine Beschreibungen viel zu akribisch, aber dafür gestochen scharf, so dass sie ein stimmiges Bild des jeweiligen Charakters ergeben.

Und dieser Roman ist unverkennbar jüdisch. Denn die Sprache ist von jiddischen Begriffen, Aussprüchen und Lebensweisheiten durchsetzt, die aber in einem mehrseitigen Glossar am Ende des Buches für den nicht-jiddisch sprachigen Leser übersetzt werden.

Namensgebende Figur dieses Romans ist übrigens ein Verwandter - Onkel Melnitz -, um wieviele Ecken er mit den Meijers verwandt ist, lässt sich schwer sagen. Doch irgendwie scheint er zur Mischpoche dazuzugehören. Und wie das häufig mit Verwandten ist, taucht der Onkel meistens dann auf, wenn man nicht mit ihm rechnet und sorgt für verstörende Unruhe. Doch wie jeder weiß, kann man sich Verwandtschaft bekanntlich nicht aussuchen.

Fazit:

Über 900 Seiten jüdische Familiengeschichte und keine Seite zuviel. Der Geschichtenerzähler Lewinsky hat wieder Höchstform bewiesen und mich mit seinem Roman verzaubert. Meine Begeisterung für diesen Autor hält an.