Mittwoch, 4. September 2019

Giosuè Calaciura: Die Kinder des Borgo Vecchio

Quelle: Pixabay/Hans
Der Roman "Die Kinder des Borgo Vecchio" von Giosuè Calaciura steckt voller Rätsel. Eines der leichteren Rätsel sind Schauplatz und Zeitpunkt der Handlung: 
Schauplatz ist ein Dorf irgendwo in Italien - enger kann ich ihn nicht eingrenzen. Das Geschehen muss irgendwann in den letzten Jahren stattgefunden haben, zumindest gab es bereits moderne Errungenschaften wie das Handy. Und den Euro gab es vermutlich auch schon.

Das Zusammenleben in diesem Dorf ist von Grausamkeit und Unbarmherzigkeit geprägt. Insbesondere die Kinder haben unter diesem Leben zu leiden. Wahrscheinlich sind sie sich dessen gar nicht bewusst, kennen sie doch nichts anderes als dieses Leben. 

Wer mit seiner Kindheit so richtig in die Sch… gegriffen hat, ist Cristofaro, der sich jeden Tag aufs Neue fragen muss, ob er die nächste Nacht überleben wird. Als persönlicher Prügelknabe des eigenen Vaters, der seinen Sohn jeden Abend zusammenschlägt, wie andere die Nachrichten im Fernsehen ansehen, sind die Überlebenschancen für ihn sehr gering.
Quelle: Aufbau Verlag
"Im Borgo Vecchio wusste man, dass Cristofaro jeden Abend das Bier seines Vaters weinte. Wenn die Nachbarn nach dem Abendbrot vor dem Fernseher saßen, hörten sie sein Jaulen, das sämtliche Geräusche des Viertels verschluckte. Sie drehten den Ton leiser und lauschten. Anhand der Schreie konnten sie erahnen, wo die Faust zuschlug, harte, treffsichere Hiebe." 
Vielleicht geht es Celeste sogar noch schlimmer als Cristofaro. Als Tochter der Dorfhure erhält sie von klein auf Anschauungsunterricht in Sachen Liebespraktiken, in dem sie bei jedem „Termin“ ihrer Mutter auf den Balkon verbannt wird, wo sie durch ein Guckloch live und in Farbe mitbekommt, wie ihre Mutter für den Unterhalt der Familie sorgt. Zumindest muss Celeste nicht um ihr Leben bangen wie Cristofaro, ganz sicher aber um ihre Zukunft. 
Dann haben wir noch Mimmo, der relativ unbehelligt von seinem Vater vor sich hin lebt. Der Vater ist der Metzger im Dorf und verwendet viel Zeit darauf, seine Kunden zu betrügen. Da bleibt keine Zeit für einen Sohn, der wahrscheinlich nicht ganz richtig im Kopf ist. 
Das Vorbild und der Held der Kinder ist Totó, Dorfganove, vor dem jeder im Dorf Respekt hat, denn er ist derjenige mit der Knarre. In den Fantasien der drei Kinder wird Totó zum Retter von Cristofaro.

Jetzt komme ich zu den großen Rätseln dieses Romans.
Gibt es eine Handlung in diesem Roman? Nicht wirklich. Bestenfalls geht die Handlung in die Richtung, dass es mit Cristofaro und seinem prügelnden Vater nicht weitergehen kann wie bisher. Der rote Faden in diesem Buch läuft darauf hinaus, dass sich unter der Gluthitze der Sonne Italiens etwas anbahnt, was auch immer das sein wird. Man ahnt nur, dass der Ganove Totó dabei eine Rolle spielen wird.

Aber tatsächlich ist die Handlung Nebensache. Denn der Autor hält den Leser durch ausufernde Symbolik und Metaphern auf Trab. Die ersten Seiten faszinieren durch den eindringlichen Sprachstil des Autors. Sofort denkt man an die Anmerkung einer italienischen Tageszeitung zu diesem Roman: "Eines der schönsten und grausamsten Bücher des Jahres". Diese Behauptung möchte man zunächst gerne unterschreiben. Doch es dauert nicht lange, da stolpert man über die ersten religiösen Ansätze und findet sich in einem Buch wieder, das sich eng an der biblischen Geschichte orientiert. Je bibelfester der Leser ist, um so besser wird er mit diesem Buch zurechtkommen. Mich haben die spirituellen Verbindungen überfordert, daher war ich sehr dankbar, dieses Buch in einer Leserunde bei Whatchareadin gelesen zu haben. Zum Einen war ich nicht allein mit meiner Ratlosigkeit, zum Anderen gab es Teilnehmer in der Leserunde, die ein fundiertes religiöses Wissen hatten und daher mit ihren Erklärungen ein wenig für Erleuchtung sorgen konnten.
Ich kann nur mutmaßen, dass der Autor aufzeigen will, dass in der Religion Gut und Böse sehr dicht beieinander liegen. Über meine Spekulation lässt sich jedoch streiten – wie die Leserunde gezeigt hat.
"Der Brotgeruch zog über den Platz und machte den abendlichen Eifer der in Marktkisten gepferchten Zitrusfrüchte zunichte, die eine letzte Duftspur in der Nacht hinterlassen wollten, er zerstörte die Illusion von Frühling, die sich im duftenden Geheimnis der Frangipaniblüten verbarg, vereinnahmte die Kreuzungen und machte sich in den Gassen und Tavernen breit, auf dass niemand seiner Umarmung entkäme."
Bei aller Verwirrung, was die religiöse Symbolträchtigkeit dieses Buches angeht, möchte ich jedoch betonen, dass der Sprachstil von Giosuè Calaciura für vieles entschädigt hat. Denn Schreiben kann der Mann. Er vermittelt Gefühle und Stimmungen, die bis ins Mark gehen. „Die Kinder des Borgo Vecchio“ ist kein Wohlfühl-Buch. Stattdessen wird man mit einer Grausamkeit konfrontiert, die an die Nerven gehen kann. Die Welt im Borgo Vecchio ist schrecklich. Aber Schrecken übt Faszination aus, insbesondere wenn er dermaßen poetisch beschrieben wird, wie Giosuè Calaciura es getan hat. Grausamkeit und Schönheit liegen sehr dicht beieinander.

Eine Leseempfehlung wage ich nicht auszusprechen. Denn dieses Buch ist ein symbolträchtiges Experiment, das den Leser (heraus)fordert. Daher sollte man sich als Leser auf einiges gefasst machen. Bei dem einen wird es gut ankommen. Bei dem anderen wird es für Irritationen sorgen. Ich liege irgendwo dazwischen.

© Renie