Freitag, 28. Dezember 2018

Juan Pablo Villalobos: Ich hatte einen Traum

Quelle: Pixabay/Jeffdiabolus
"Wir haben ein Flüchtlingsproblem" - ein Satz, der in Deutschland häufig zu hören ist. Was auch immer dieses Problem sein mag, ist es doch nichts im Vergleich zu den Problemen, die Flüchtlinge selber haben. Flucht ist immer mit Angst verbunden. Und wie groß die Angst sein muss, dass ein Mensch seine Existenz aufgibt, um auf eine ungewisse Zukunft in einem völlig fremden Land, sogar völlig fremder Kultur, zu bauen, ist für mich unvorstellbar.
Noch viel weniger kann ich mir vorstellen, dass sich Kinder und Jugendliche gezwungen sehen, ihr Zuhause und ihre Familie zu verlassen, ganz einfach, weil die Angst um ihr Leben keine andere Entscheidung zulässt. Tatsächlich passiert dies in Mittelamerika täglich. In den letzten 5 Jahren haben etwa "189.000 Minderjährige ihre Heimat Guatemala, Honduras oder El Salvador verlassen, und wurden in den USA als 'unbegleiteter Minderjähriger' erfasst." (aus dem Buch) Diese Kinder und Jugendlichen träumen von einer Zukunft, zumindest von einem Leben in Sicherheit. Wenn sie Glück haben, lebt in den USA, dem Ziel ihrer Flucht,  bereits ein Verwandter. Der Fluchtweg führt sie dabei über Mexiko. Sind sie einmal über die Grenze in die USA gelangt, kommen sie in Auffangstationen, wo zunächst einmal ihr Status "unbegleiteter Minderjähriger" festgelegt wird. Der offizielle Flüchtlingsstatus gemäß Genfer Konventionen steht ihnen nicht zu. Daher haben sie auch keinen Anspruch auf jegliche Flüchtlingsrechte, allen voran das Recht auf Nichtabschiebung. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 definiert, welche Angst einem Menschen zugestanden wird, dass er sich offiziell "Flüchtling" nennen darf: "die begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung". Die flüchtigen Kinder und Jugendlichen Mittelamerikas treibt eine andere Angst um. Denn sie kommen aus Ländern, mit den höchsten Mordraten der Welt.
© Marius Kowalski
"... Mordraten, die die Zahlen mancher Länder übertreffen, in denen offener Krieg herrscht." 
Nahezu alle dieser "unbegleiteten Minderjährigen" haben bereits am eigenen Leib erfahren, was es heißt, um das eigene Leben bzw. das, seiner Angehörigen zu fürchten. Sie werden in ihrer Heimat nicht aufgrund ihrer Rasse, Religion etc. bedroht, sondern einfach, weil ihr Alltag von skrupellosen Menschen dominiert wird, denen ein Menschenleben nichts bedeutet. Wer kann es den Kindern und Jugendlichen also verdenken, wenn sie ihrem persönlichen Albtraum entfliehen wollen, mit der Hoffnung auf eine Zukunft in Sicherheit?
"Aber ich fühlte mich nicht mehr sicher, ich hatte Angst, dass sie mir an der nächsten Ecke auflauern und mich umbringen würden. Sie haben Taschenmesser, andere Messer, vielleicht sogar Schusswaffen. Ich habe gehört, dass sie andere Jungs zusammengeschlagen haben, und ich habe mir Sorgen gemacht, dass sie mir oder meiner Familie etwas antun könnten, denn dort kann alles passieren, man ist vor nichts sicher, manchmal bringen sie die ganze Familie um, und das machte mir am meisten Angst."
Juan Pablo Villalobos, mexikanischer Autor, ist einigen von ihnen begegnet und hat sich von ihren Träumen erzählen lassen - sowohl von ihren Albträumen zuhause und während der Flucht in die USA als auch von ihren Zukunftsträumen. In seinem Buch "Ich hatte einen Traum" lässt er sie zu Wort kommen.

Dabei fällt zunächst auf, wie emotionslos und distanziert, die Kinder und Jugendlichen ihre Geschichten wiedergeben. Sie sind zwischen 10 und 17 Jahren und ihnen ist Schreckliches widerfahren. Dient diese Art, ihre Geschichte zu erzählen, ihrem  Selbstschutz, um den seelischen Schmerz nicht wieder und wieder erdulden zu müssen? Auf jeden Fall lösen diese Emotionslosigkeit und Distanz beim Leser das genaue Gegenteil aus. Man kann sich vor ihren Schicksalen nicht verschließen. Die Geschichten gehen sehr sehr nahe.
Die Kinder und Jugendlichen scheinen während der Flucht in einem eigenen Mikrokosmos zu leben. Dabei beweisen sie eine Willensstärke, die sie seltsam erwachsen erscheinen lässt. Ihr Denken ist nur davon bestimmt, den Weg unbeschadet in das gelobte Land zu schaffen. Wem kann ich vertrauen? Wem muss ich misstrauen? Andere Gedanken, außer dem Traum von einer besseren Zukunft, lassen sie nicht zu. Dieser Traum scheint ihnen die Kraft zu geben, um die Gefahren auf ihrem Weg zu meistern.
"Vielleicht kann ich ja Pilot werden, wenn ich groß bin."
Fazit
Der Autor gibt die Geschichten dieser Kinder ungeschönt wieder. Die Emotionslosigkeit der Kinder auf der Flucht geht dabei sehr nahe. Juan Pablo Villalobos ist mir aufgrund seines humoristischen Romans "Ich verkauf dir einen Hund" ein Begriff. Doch in "Ich hatte einen Traum", inmitten des Flüchtlingsdramas um die Kinder Mittelamerikas, ist dem Autor nicht nach Lachen zumute. Ganz im Gegenteil! Der Autor prangert die Situation in Mittelamerika und den USA an, zu Recht. Dabei wird er in einem sehr aussagekräftigen Nachwort von seinem Journalistenkollegen Alberto Arce unterstützt, der die Hintergründe zu diesem Drama liefert. 

Mir hat gefallen, dass Villalobos am Ende des Buches in wenigen Sätzen erwähnt, was aus jedem der interviewten Kinder und Jugendlichen geworden ist. Und sie haben es alle geschafft, am Ende durften sie in den USA bleiben. Für wie lange, bleibt jedoch bei vielen offen. Denn die USA macht es Menschen, die immigrieren wollen, nicht einfach. Und das Risiko, am Ende doch ausgewiesen zu werden, bleibt bestehen.

© Renie