Dienstag, 11. Januar 2022

Shumona Sinha: Das russische Testament

Mit „Das russische Testament“, hat die französische Autorin Shumona Sinha ein interessantes Stück multikultureller Literatur geschrieben. Die Autorin ist in Kalkutta geboren, lebt sei 20 Jahren in Frankreich, ist Herausgeberin mehrerer Lyrikbände auf Bengalisch und Französisch und erzählt in ihrem aktuellen Roman über russische Literatur und einem russischen Verlag im Besonderen, eingebunden in die Geschichten zweier Frauen: einer Inderin und einer Russin.

Tania, ein junges Mädchen, wächst in den 80er Jahren in Kalkutta auf. Ihr Vater betreibt eine kleine Buchhandlung, die auf russische Literatur spezialisiert ist. Tania hat das Pech, als Mädchen geboren zu sein und keinen Bruder zu haben. Grund genug für die Mutter, ihr das Leben unerträglich zu machen. Tanias Zuflucht vor ihrem Leben zuhause sind die russischen Bücher, in denen sie sich in dem Laden ihres Vaters verliert. 

Nach der Schule beginnt Tania ein Literaturstudium und wird sich dabei politisch engagieren. Eine kommunistische Studentenbewegung bietet ihr zunächst die Familie, die sie bisher nicht hatte. Sie führt ein Leben, das ihren Eltern unbekannt bleibt, was natürlich auf Dauer in einem Land mit einer Kultur, die Frauen ein selbstbestimmtes Leben verweigert, nicht gut ausgehen kann. 
Die einzige Zuflucht vor der Realität ist und bleibt für Tania die Literatur.
Quelle: Edition Nautilus

Während ihres Studiums lernt Tania die Bücher eines kleinen russischen Verlages - Raduga - kennen und schätzen. Die Geschichte des Verlages, der in den 20er Jahren Bücher veröffentlicht hat, die weder ideologisch noch realitätsbezogen waren und somit auf Dauer gegen die Vorgaben der Stalin Regierung verstießen, fasziniert Tania. Sie verbringt viel Zeit damit, Nachforschungen über den Verlag und seinen Verleger, der 1933 starb, anzustellen. Sie nimmt Kontakt zu der inzwischen über 80-jährigen Tochter (Adel) des Verlegers auf, die in einem Altenheim in Sankt Petersburg lebt und bittet sie um Unterstützung bei ihren Recherchen. 

Adel erinnert sich an ihre Kindheit und das Schicksal ihres Vaters Lew Kljatschko, Journalist und Verlagsgründer des russischen Verlages Raduga. Kljatschko kämpfte zeitlebens darum, die Unabhängigkeit seines Verlages in einem Land zu bewahren, dessen damalige Ideologie jegliche Phantasie und Schönheit ersticken wollte. Am Ende verlor er diesen Kampf. 

Adel spinnt den Erzählfaden weiter. Denn die Geschichte des Verlages und ihres Vaters ist auch ihre eigene Geschichte, die sich nach seinem Tod 1933 fortsetzt, eingebettet in einen historischen Rahmen: vom Stalinismus bis hin zur heutigen Zeit.
"In meiner Kindheit habe auch ich meinen Körper unter den farbenfrohen Büchern versteckt. Ich will nicht, dass man die alte Decke aus kunstvoll gewebten Lügen lüftet. Es gibt nichts Schlimmeres, als eine zarte Seele dieser zerstörten, eisigen Welt auszusetzen, die kein Strahl eines Traums mehr wärmt."
"Das russische Testament" ist ein wundervolles Stück Literatur, das in einem poetischen und bildhaften Sprachstil erzählt wird. Die Autorin lässt den Leser in fremde Kulturen eintauchen und erzählt dabei in separaten Handlungssträngen die Geschichte von zwei Frauen, deren einzige Verbindung die Literatur zu sein scheint. Einziger Makel an diesem Buch: Die Motivation der Protagonistin Tania für ihr Interesse an dem russischen Verlag und seinem Verleger bleibt vage. Dennoch sind die beiden Handlungsstränge - jeder für sich genommen - unglaublich faszinierend, so dass ich diesen Roman sehr gern gelesen habe.

Leseempfehlung!

© Renie