Donnerstag, 29. April 2021

Helga Schubert: Vom Aufstehen

Aus sportlicher Sicht bin ich eher der Mittelstrecken-Leser. Ab und zu wage ich mich auch an die Langstrecke. Aber Kurzstrecke ist nicht so meins. Denn habe ich gerade meine Lesegeschwindigkeit erreicht, ist der Leselauf bereits vorbei. 

Anders ausgedrückt: Ich lese höchst selten Kurzgeschichten und Erzählungen. Wenn allerdings die Autorin einer Erzählung das Prädikat Bachmann Preisträgerin trägt, begebe ich mich auch mal auf eine Kurzstrecke, so geschehen bei Helga Schuberts Lebensgeschichten "Vom Aufstehen". Mit der titelgebenden Geschichte gewann Frau Schubert in 2020 den Ingeborg Bachmann Preis.

Die Geschichten in diesem Buch beinhalten Erinnerungen und Episoden aus Helga Schuberts Leben, genauso wie Gedanken über das Leben und Alter(n) an sich. Frau Schubert ist mittlerweile Anfang 80 und blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Geboren und aufgewachsen in der DDR, hat sie sich in späteren Jahren bereits hier einen Namen als Schriftstellerin gemacht. Als erfolgreiche DDR-Schriftstellerin hatte sie das Privileg, berufliche Reisen in fremde Länder zu unternehmen. Sie erlebte die Wende und die Maueröffnung, engagierte sich politisch und schrieb auch später noch das eine oder andere Buch. Ihre Heimat hat sie nie verlassen. Sie lebt nach wie vor in den neuen Bundesländern (sofern man heute noch von "neu" sprechen kann). Mittlerweile ist es ruhiger um Frau Schubert geworden. Doch sie hat immer  noch viel zu erzählen, wie sie mit dem Buch "Vom Aufstehen" unter Beweis stellt.

Sie erzählt darin von ihrem schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter, sie erzählt von ihrem Leben als DDR-Schriftstellerin und Bürgerin der DDR, sie erzählt von ihrem Leben als Bürgerin der BRD und sie erzählt vom Alter(n). 
"In allen Zügen sitze ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und sehe in die entschwindende undeutlicher werdende Landschaft, sie trennt sich von mir und bleibt doch da, bei jeder Fahrt erkenne ich sie erst, wenn sie schon vorüber ist. In der Fahrtrichtung sitzend, bin ich der Zukunft ohnmächtig ausgeliefert, kann ich nicht entweichen, müsste die Augen schließen oder wegsehen, mich unterhalten, lesen, die Sonne mit all ihren Schatten stürzt durch die Scheibe, in mich hinein, ist in mir gefangen.
Ich sehe in die Vergangenhiet, wende mein Gesicht in die Schatten und spüre die Wärme der Sonne in meinem Rücken."
Ich kann nicht behaupten, dass mich jedes Kapitel abgeholt hat. In Summe waren es diejenigen Kapitel, die das Alter(n) betreffen, die mir sehr viel gegeben haben. Frau Schubert legt im Alter eine Haltung an den Tag, die ich mir für mich ebenfalls erhoffe: Gleichmut und Freude gegenüber dem, was noch kommt, ohne die bange Frage zu stellen, wieviel Zeit noch bleibt. Unduldsamkeit gegenüber Menschen und Dingen, die einem nicht gut tun. Niederlagen, Verluste und Tiefschläge als Teil seines Lebens zu akzeptieren, und die dazu beigetragen haben, dass man zu dem Menschen geworden ist, der man ist.

Die Eindrücke, die ich aus diesen besonderen Episoden über das Alter(n)mitgenommen habe, überdecken die Ratlosigkeit oder Ungerührtheit, die andere Geschichten dieses Buches bei mir erwirkt haben. Dies sind Geschichten über das Leben und Ereignisse in der DDR. Oder aber auch Geschichten, deren tieferer Sinn sich mir entzog und meine Interpretationsfähigkeit an ihre Grenze brachten. 

Schriftstellerisch betrachtet beherrscht Frau Schubert die Schreibkunst ganz hervorragend. Diejenigen Geschichten, die mir gefallen haben, strahlen eine große Ruhe und Poesie aus. Die Autorin ist unglaublich wortgewandt und tiefgründig. Aber diese Tiefgründigkeit findet sich erst, wenn man Frau Schuberts Geschichten die volle Aufmerksamkeit schenkt, sich also weder äußerlich noch innerlich von irgendetwas ablenken lässt. Bei Frau Schubert scheint jedes Wort wohl überlegt zu sein. Sie schreibt nicht, um dem Leser zu gefallen, sondern um mit sich selbst im Einklang zu sein. Auch ein Vorzug des Alter(n)s: Das zu machen, was man will und nicht das, was andere von einem erwarten.
Viele werden dieses Buch vermutlich anders wahrnehmen als ich. Aber das macht gute Literatur aus: wenn bei jedem Leser eine eigene Wirkung erzielt wird, wird das Gelesene für den Leser sehr persönlich. Und das kriegen nur die wenigsten Autoren hin.
"Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht auch hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz.
Mein unveräußerlicher."
Wie bewerte ich nun einen Erzählband, dessen Geschichten mir mal mehr und mal weniger gefallen haben? Nach dem Mehrheitsprinzip? Je mehr positiv wahrgenommene Geschichten, umso besser fällt das Gesamturteil aus? Nein, ich bewerte dieses Buch anhand der Nachhaltigkeit dieses Buches, die bei mir durch einzelne Kapitel hervorgerufen werden. Es reichen einige wenige Geschichten aus, die bei mir den nötigen bleibenden Eindruck hinterlassen, um dieses Buch als besonderes Lesevergnügen weiter zu empfehlen.

© Renie