Freitag, 16. Februar 2018

Lionel Shriver: Eine amerikanische Familie

Quelle: Pixabay / RyanMcGuire
Amerika(s Wirtschaft) geht den Bach runter - eine abstrakte Floskel, die in Lionel Shrivers Roman "Eine amerikanische Familie" Wirklichkeit wird. Welche Auswirkungen Schulden, Inflation und Geldpolitik auf den Mikrokosmos einer Familie haben können, demonstriert die Autorin mit einem unnachahmlichen und sehr vergnüglichen Sarkasmus.
Der Roman setzt im Jahre 2029 ein, also quasi demnächst. Von ferner Zukunft kann man nicht sprechen, steht sie doch fast vor unserer Tür.
Am Beispiel der Familie Mandible kann man sich ungefähr vorstellen, was mit dem Einzelnen passiert, wenn das Große und Ganze zusammenbricht.
Die Mandibles des Jahres 2029 haben sich halbwegs mit dem Alltag, der aus der verqueren Finanzpolitik Amerikas resultiert, arrangiert. Vieles, was sich in den Jahren zuvor bereits angekündigt hat, ist in 2029 Wirklichkeit geworden. Doch immer noch herrscht bei vielen Amerikanern das Verständnis, ihr Land sei heimlicher Herrscher dieser  Welt. Doch die Zeiten haben sich geändert, die Weltpolitik hat sich geändert. Amerika wird in der Welt nicht mehr ernst genommen, der Dollar hat seinen Status, diejenige Währung zu sein, die die Weltwirtschaft dominiert, verloren. Amerika kann mit den anderen Ländern nicht mehr mithalten, China hat jetzt das Sagen. Dank einer eigentümlichen Schuldenpolitik, verabschiedet sich das Land der unbegrenzten Möglichkeiten in die Isolation. Es gibt weder Export noch Import. Die Inflation schießt in unendliche Höhen.
"Seit Monaten schon beschrieben die Moderatoren die Ereignisse mit Begriffen wie Krise, Kollaps, Katastrophe und Kalamitäten, bis ihnen die K-Wörter ausgingen. Worte wie Unheil, Debakel, Verheerung, Not, Tragödie, Drangsal und Leiden verloren ihre Bedeutung, sie funktionierten nicht mehr, bezeichneten Erfahrungen, die nichts Besonderes waren. So litt auch die Sprache unter einer Inflation, und als sich alles immer noch weiter verschlechterte waren die Fernsehleute praktisch aufgeschmissen." (S. 272)
Quelle: Piper
Die derzeit 4 Generationen der Mandibles haben bis jetzt ein normales, mehr oder weniger sorgenfreies Leben geführt, da sie es zu mehr oder weniger Wohlstand gebracht haben. Den einzigen Ausreisser bildet der Älteste der Sippe, Urgroßvater TGM (Toller großer Mann), der es in jüngeren Jahren durch geschickte Spekulationsgeschäfte und Investitionen zu sehr viel Vermögen gebracht hat, und somit der Hoffnungsträger für die Zukunft der anderen Familienmitglieder ist, winkt doch eine hohe Erbschaft.
Doch die Inflation macht TGM und seinen Nachkommen einen Strich durch dir Rechnung. Innerhalb kürzester Zeit steht die Familie am finanziellen Abgrund. Sie sind gezwungen näher zusammenzurücken. Familienmitglieder, die sich früher geliebt und gehasst haben, die sich gern besucht haben, aber auch froh waren, wenn die Verwandschaft wieder weg war, müssen auf einmal auf engstem Raum zusammenleben. Das birgt Zündstoff, insbesondere, wenn die einzelnen Familienmitglieder einen unterschiedlichen Umgang mit der Krise pflegen. Optimisten treffen auf Pessimisten. Da sind diejenigen, die nicht wahr haben wollen, dass Amerikas Wirtschaft in den Supergau geschliddert ist, und diejenigen, die ahnen, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Da sind diejenigen, die nicht die nötige Sparsamkeit im Umgang mit dem wenigen, was die Familie noch hat, an den Tag legen, und diejenigen, die zum Hamster mutieren und  eine hohe Erfindungsgabe beweisen, wenn es darum geht, die Familie am Leben zu erhalten.
"Avery fühlte sich wie eine Idiotin. Sie war stolz darauf, angesichts der zu meisternden Schwierigkeiten eine gewisse Cleverness im täglichen Überlebenskampf entwickelt zu haben. Doch trotz all der abgebrochenen Fingernägel, weil sie jetzt selbst mit anfasste, flatterte da offenbar noch der Washingtoner Gesellschaftsschmetterling in ihr. Sie schien nach wie vor in einer Welt von Essensverabredungen, Kaffeekränzchen und Sammelaktionen für die Brustkrebsforschung zu leben, einer Welt, in der das Schlimmste, was einem passieren konnte, ein Gast war, der mit einer beleidigend billigen Flasche Rotwein zum Essen kam." (S. 330)
Einer der Realisten der Familie ist Willing, mit seinen 13 Jahren einer der jüngsten der Mandibles und ein Jugendlicher, der so völlig anders ist als andere Jugendliche seines Alters. Willing hat vor der Wirtschaftskrise Dinge getan, die andere als merkwürdig empfanden: Er hat sich für Amerikas Politik interessiert. Daher war er auch in der Lage, das Chaos und die Auswirkungen auf den Alltag vorherzusagen. Nur keiner hat ihm geglaubt, war er ja nur ein Jugendlicher mit verrückten Ideen. Zumindest seine Mutter Florence erkennt, dass er in den schrecklichen Zeiten zu einem Überlebenskünstler wird, an dem man sich durchaus orientieren sollte.
Der erste Teil des Romanes endet damit, dass die Großfamilie gezwungen ist, ihr Haus aufzugeben und in den nächstgelegenen Stadtpark zu ziehen, wie viele andere Familien auch.  Was dort passiert, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. 
An dieser Stelle gibt es in dem Roman einen Cut. Die Handlung setzt etwa 20 Jahre später wieder ein. Die Kinder Willing und seine Cousins und Cousinen sind erwachsen geworden. Dank einer stringenten Politik hat Amerika sein Chaos in den Griff bekommen. Doch der Alltag in Amerika nimmt Orwellsche Ausmaße an. Die Meisten nehmen dies hin und versuchen sich mit dem neuen  Leben zu arrangieren. Einige wenige - wozu auch Willing gehört - begeben sich auf die Suche nach einem besseren Ort in diesem verrückten Land.
"'Die Amerikaner leiden nicht unter Depressionen, .... Sie wollen nur die Wahrheit nicht sehen. Alle denken, wir befänden uns in einer vorübergehenden Krise und dass wir morgen wieder anfangen, in Cafés zu sitzen und Cappuccino zu schlürfen. Unsere früheren Wirtschaftskrisen waren auch irgendwann vorbei. Im schlimmsten Fall sorgen wir uns  um ein 'verlorenes Jahrzehnt'. Der Gedanke, alles zu verlieren und einen fortdauernden, unumkehrbaren Abstieg zu erleben, passt nicht zur Psyche dieses Landes.'" (S. 279)
Lionel Shrivers Roman ist ein Lehrstück der Ökonomie. Auf sehr amüsante und anschauliche Weise zeigt sie auf, wie die Prozesse innerhalb eines Wirtschaftssystem ineinandergreifen und welche Konsequenzen eine abstrakte Finanzpolitik auf den Mikrokosmos eines Familienalltags hat. Der amerikanische Traum wird zum Albtraum. Verzweiflung wird zum ständigen Begleiter im Leben der Familie Mandible. Die Autorin bedient sich dabei eines genüsslichen und manchmal süffisanten Sprachstils, der diesen Roman, den man fast schon als Dystopie bezeichnen kann, sehr amüsant und unterhaltsam macht. Man kommt aus dem Grinsen nicht mehr raus. Insbesondere, wenn Familiencharaktere aufeinanderprallen und die Eitlen unter ihnen dabei manches Mal abgewatscht werden.
Alles in allem ist dieser Roman ein großer Spaß, jedoch mit ernstem Hintergrund, der zum Nachdenken anregt und den Leser mit einem mulmigen Gefühl zurücklässt. Am Ende wird sich der Gedanke einschleichen, dass nicht viel fehlt, damit der hier skizzierte Albtraum zur Wirklichkeit wird. 
© Renie