Samstag, 25. Februar 2017

Ryad Assani-Razaki: Iman

23 Euro - dafür bekommt man 4 BigMacs mit Pommes, 4 McFlurries (alles mit Gutschein versteht sich), und die Familie ist immer noch nicht satt. Oder man bekommt dafür 2 Kinokarten, eventuell mit Popcorn - bei einem 3D-Film wird's schon schwierig.

In manchen Ländern kann man für 23 Euro einen Menschen kaufen. Keinen ausgewachsenen Menschen, aber immerhin einen 6-Jährigen. Der ist billiger im Unterhalt, kann aber mit den notwendigen erzieherischen Maßnahmen genauso schuften wie ein Erwachsener. Ein Schnäppchen also!
Von solch einem 6-Jährigen erzählt der Anfang des Romanes "Iman" des Autors Ryad Assani-Razaki, geboren in Benin.

Klappentext:
Es war einmal ein sechsjähriger Junge mit schwarzer Haut, der wurde von seinen Eltern für dreiundzwanzig Euro verkauft. Eine fremde Frau nahm Toumani mit in die große Stadt. Dort traf er Alissa, die sein Schicksal teilte, und bekam einen Plastikohrring als Pfand. Toumani wurde verkauft an einen grausamen Mann, dem er fortan dienen musste. Er lernte rohe Gewalt kennen und Willkür, verlor erst sich selbst, dann beinahe sein Leben. Gerettet aus höchster Gefahr von einem Jungen mit Namen Iman, verlor Toumani ein Bein – und gewann einen Freund auf Leben und Tod. Doch Iman trug schwer am eigenen Schicksal. Nicht schwarz, nicht weiß, von der Mutter verstoßen, ging sein Blick in die Ferne. Er kannte nur eine Hoffnung: die Flucht. Bis eines Nachts Alissa ihn ansah und festhielt, obwohl sie zu Toumani gehörte. (Quelle: Wagenbach)

Der Anfang des Buches ist sehr verstörend. Es gibt viele Textstellen, bei denen ich hätte heulen können. 
  • Ein Kind, dass von seinem Vater verscherbelt wird. Der Verkauf ist eine Notwendigkeit, denn ohne den Erlös, den der Vater für seinen Sohn erzielt, kann der Rest der Familie nicht überleben.
  • Der grausame Besitzer dieses Kindes, der Null Hemmungen hat, diesen kleinen Menschen wie einen Gegenstand zu behandeln. Wenn der Gegenstand kaputt ist, wird er auf der Müllkippe entsorgt. Es gibt genügend Nachschub.
  • Erwachsene, die Kinder nicht als Kinder sehen, sondern als Dreck. Wenn das Kind dann auch noch ein Krüppel ist, fallen alle Hemmungen. Der Respekt vor einem Straßenköter ist größer.
Das sind die Dinge, die den Leser zu Beginn dieses Romanes erwarten. Starker Tobak, nichts für Zartbesaitete. Elend und Grausamkeit treffen den Leser mit voller Wucht.
"Bei den Unmengen Kindern, die Tag für Tag in die Stadt verkauft wurden, wer bemerkte da schon, wenn eins fehlte? Und wen kümmerte es? Wir waren schließlich nur Kinder. Davon gibt es so viele! Die meisten Familien haben zehn Kinder oder mehr. Wieso sollte man da eins vermissen? Die Leute bekommen viele Kinder, damit das nächste nachrücken kann, fall eins verloren geht." (S. 117)
Im weiteren Verlauf des Romanes entwickelt sich die Elendsgeschichte zu einer Dreiecksgeschichte. Der Autor konzentriert sich dabei auf seine 3 Hauptfiguren, die mittlerweile zu Jugendlichen herangewachsen sind. Im Mittelpunkt stehen fortan Freundschaft und Liebe sowie die Sehnsüchte und Träume dieser Charaktere. Das Buch liest sich mit einem Mal entspannter und fordert dem Leser gefühlsmäßig nicht mehr so viel ab wie sein Anfang.

Toumani liebt Alissa, Alissa liebt Toumani. Doch dieser lehnt seine Liebe zu ihr ab. Er, der Krüppel, kann Alissa nicht zumuten, ihr Leben mit ihm zu teilen. Toumani sieht eher Iman als den Mann an ihrer Seite. Iman hat viel für Toumani getan. Ihm verdankt er sein Leben, er ist sein bester (und einziger) Freund. Zwischen Iman und Alissa gibt es zwar Sympathie und eine gewisse Anziehungskraft. Aber dies ist nicht vergleichbar mit Alissas Gefühlen für Toumani.
"Ich bin wertlos, und je älter ich werde, desto mehr verliere ich an Wert. Bald werde ich in jeder Hinsicht nutzlos sein. Ich stecke von Geburt an in einer Sackgasse." (S. 239)
Iman träumt davon, ein neues Leben in Europa anzufangen. Er greift nach jedem Strohhalm, der sich ihm bietet, um das Elendsleben hinter sich zu lassen. In Anbetracht der Chancenlosigkeit in seiner afrikanischen Heimat und angesichts der Zustände (welches Land es ist, verrät der Autor nicht), ist nachvollziehbar, warum Iman den Wunsch hegt, nach Europa auszuwandern.

Fazit:
Dieser Roman hat einen zwiespältigen Eindruck bei mir hinterlassen. Es war schwierig für mich, beide Facetten des Buches in Einklang zu bringen. Der verstörende Anfang des Romans hat mich tief berührt und beschäftigt. Wohingegen die Dreiecksgeschichte so gut wie gar nichts in mir ausgelöst hat. Ganz im Gegenteil, es gab Momente, die mich gelangweilt haben. Es scheint fast so, als ob der Autor seine Empörung über die Zustände in dem afrikanischen Land mit aller Vehemenz zum Ausdruck bringt und damit den Leser mitreißt. Der Eindruck, den die Dreiecksgeschichte hinterlässt, kann jedoch in keinster Weise mit den hochkochenden Emotionen des Anfangs mithalten. Sie mag für sich gut konstruiert und ansprechend sein, verliert aber an Reiz, wenn man sie im direkten Vergleich mit dem Anfang des Romanes sieht.

Schade, denn der erste Eindruck vermittelte mir einen Roman, der aufwühlt und mitreißt. Doch dieser Eindruck hat sich für mich zum Ende hin leider nicht bestätigt.

© Renie






Über den Autor:
Ryad Assani-Razaki wurde 1981 in Benin geboren. Seine literarische Bildung verdankt er der Bibliothek seiner Mutter. 2004 wanderte er nach Québec aus, studierte Informatik und arbeitet seither in großen Computerfirmen in Toronto und Montreal. Nach einem preisgekrönten Erzählungsband ist Iman (La main d'Iman) sein erster Roman, der 2011 den Preis Robert-Cliche für das beste Debüt gewann. (Quelle: Wagenbach)