Das erste Mal, dass ich einen Gewinner des Deutschen Buchpreises las! Bodo Kirchhoff hat mit seiner Novelle Widerfahrnis in diesem Jahr abgeräumt. Obwohl ich den Wettbewerb um den Deutschen Buchpreis immer mit Interesse verfolge, hat mich noch keiner der bisherigen Gewinnertitel zum Lesen gereizt. In diesem Jahr war das anders. Schon auf der Shortlist stach Kirchhoffs Novelle für mich hervor. Das Thema war für mich hochinteressant. "Kirchhoff erzählt in seiner großartigen Novelle von der Möglichkeit einer Liebe sowie die Parabel von einem doppelten Sturz: in die Liebe, ohne ausreichend lieben zu können, und in das Mitmenschliche, ohne ausreichend gut zu sein." (Quelle: FVA) Das hörte sich fast schon philosophisch an. Nun war ich auf die Umsetzung gespannt.
Klappentext:
Reither, bis vor kurzem Verleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist ...
Liest man einen Buchpreis-Gewinner anders? Ich denke schon, zumindest habe ich ein anderes Leseverhalten an mir beobachtet. Ich war kritischer als sonst, habe nahezu jeden Satz akribisch unter die Lupe genommen. Denn schließlich wollte ich wissen, was Widerfahrnis zu dem macht, was es geworden ist - dem Gewinnertitel des Deutschen Buchpreises 2016.
Widerfahrnis ist mit nichts vergleichbar, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Das Herausragende an dieser Novelle ist definitiv Kirchhoffs Sprache. Ich brauchte ein paar Seiten, bis ich mich an seinen Stil gewöhnt hatte. Kirchhoff wählt seine Worte mit Bedacht und Präzision, nichts ist leichtfertig formuliert. Er denkt häufig über die Sinnhaftigkeit seiner Worte nach und hinterfragt seine eigene Wortwahl. Ich konnte gar nicht anders, als mich auf diese Gedankenspiele einzulassen und ebenfalls zu hinterfragen und zu deuten. Dadurch eröffnete sich eine Unmenge an Interpretationsspielraum, so dass ich nicht nur bei der Lektüre gut beschäftigt war, sondern mich auch dabei ertappt habe, auch ohne Buch Kirchhoffs Gedankengänge verstehen zu wollen. Allein dadurch habe ich diese Novelle mit Begeisterung gelesen. Denn ich liebe Bücher, die einen gedanklich herausfordern.
"Jedes Wort sitzt, jeder Satz steht, und alle Sätze erschließen ein Stück Welt mit einer Sprache von so unplausibler Effektivität wie die der Mathematik für das Geschehen im Universum." (S. 108)
Der Fokus in Kirchhoffs Novelle liegt für mich eindeutig auf der Sprache. Die sprachliche Virtuosität Kirchhoffs hat mich schlichtweg umgehauen. Ich habe dieses Buch im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin gelesen. Je tiefer man in die Geschichte eindrang, umso mehr stellte man fest, dass Widerfahrnis unterschiedlich wahrgenommen wird. Wo viel Interprationsspielraum ist, kommen auch viele Interpretationsansätze zusammen. Ich gehörte zu denjenigen, die die Geschichte nicht ganz überzeugen konnte. Für mich baut Kirchhoff eine Distanz zu seinen Protagonisten auf, die mir die beiden Charaktere Reither und Palm von Anfang bis zum Ende fremd erscheinen lassen. Insbesondere die Handlungen von Reither sind für mich teilweise nicht verständlich. Aber durch die Distanz zu den Charakteren eröffnete sich wieder viel Raum zur Interpretation, wie die Kommentare der Teilnehmer in der Leserunde bewiesen haben. Ich habe selten eine so lebhafte und anspruchsvolle Leserunde erlebt wie diese. Das war großartig!
"Wie oft hatte er lesen müssen, dass am Schluss einer Geschichte zwei getrennte Hauptpersonen noch einmal aufeinandertreffen, aus Zufällen, die dann gar keine sind, als steckte eine tiefere Notwendigkeit dahinter, tiefer als die eines Endes, wie es gewöhnliche Leser schätzen." (S. 220)
Klappentext und Buchbeschreibung deuten darauf hin: Es geht um zwei Menschen, Julius Reither und Leonie Palm, die nicht auf die große Liebe vorbereitet sind, was man ihnen deutlich anmerkt. Zwischen beiden besteht über weite Strecken der Handlung eine Distanz, die sich nicht so ohne weiteres überbrücken lässt und zumindest von Reuther anfangs gewollt ist. Es fällt ihm schwer, Palm bei ihrem Vornamen zu nennen. Denn sich beim Vornamen zu nennen und sich zu duzen, bedeutet Nähe und Vertrautheit. Das ist nichts für zwei Menschen, die in ihrer Vergangenheit die Höhen und Tiefen von Beziehungen durchgemacht haben und auf mehr oder weniger schwere Schicksalsschläge zurückblicken. Die beiden haben im Alter gelernt haben, sich allein zu genügen. Und doch gibt es sie ... die Momente der Vertrautheit zwischen den beiden ... die zufälligen Berührungen, die dann doch kein Zufall sind; das Anzünden der Zigarette für den anderen; das Tragen der Jacke des anderen. Aber reicht dies aus, um sich am Ende auf die Liebe einzulassen? Kirchhoff beantwortet diese Frage erst zum Schluss.
"Ein Paar? Nein, kein Paar. Nur Mann und Frau. Sie haben sich gesiezt. Ein Du taugt nur etwas, wenn es aus dem Sie hervorgeht." (S. 22)
Fazit:
Widerfahrnis zeichnet sich durch einen herausragenden Sprachstil und eine Handlung aus, die viel Raum für Interpretationen zulässt. Es ist kein einfaches Buch, aber ein Buch, das den Leser zu Gedankenspielen herausfordert. Das macht für mich ein gutes Buch aus. Schließlich will ich als Leser beschäftigt werden und mich auch lange über die Lektüre hinaus an dieses Buch erinnern können. Bodo Kirchhoffs Novelle wird mit Sicherheit dazugehören.
Ob Kirchhoff den Deutschen Buchpreis zu Recht erhalten hat, kann ich nicht beantworten. Ich habe leider noch kein weiteres Buch der diesjährigen Shortlist gelesen. Aber wenn die Shortlist-Bücher nur ansatzweise das Niveau von Widerfahrnis haben, lohnt es sich, auch einen Blick auf die anderen Titel zu werfen.
© Renie
Widerfahrnis von Bodo Kirchhoff, erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt (September 2016)
ISBN:978-3-627-00228-2