Donnerstag, 22. August 2013

Stefanie Zweig: Die Kinder der Rothschildallee

Der zweite Teil spielt in der Zweit zwischen 1926 und 1937. Während sie zu Anfang ja noch gehofft haben, als jüdische Deutsche in Deutschland leben zu können, kommt die Bedrohung ihres Lebens nun immer näher.
Die Juden werden immer mehr ausgegrenzt. Und als Leser leide ich mit. Weil Stefanie Zweig ihre Figuren so liebevoll geschrieben hat. Alle sind sie mir nah, keiner bleibt blass oder mir fremd. Und so nach und nach müssen sich alle von ihrer Illusion, friedlich in Deutschland leben zu können, verabschieden. Und das mittlerweile Schlag auf Schlag. Die Männer der Familie verlieren ihre Existenzgrundlagen. Sie dürfen in ihren Berufen nicht mehr arbeiten. Die Mädchen werden in der Schule gemobbt, werden nicht zum Abitur zugelassen. Die "arischen" Dienstboten werden aufmüpfig, wollen nicht mehr für das "jüdische Pack" arbeiten und bestehlen ihre Arbeitgeber obendrein, die sich nicht mal dagegen wehren können.
Die jungen Leute spielen mit dem Gedanken, Deutschland zu verlassen. Doch je mehr Zeit vergeht, wird das immer schwieriger.

Johann Isidor schickt seine uneheliche Tochter außer Haus wohnen. In keinem Papier steht, dass ihr Vater ein Jude ist. Vielleicht bleibt sie so ja unbehelligt von diesem Wahnsinn.

Was für Ängste die jüdischen Menschen ausgestanden haben müssen, hat Stefanie Zweig eindrucksvoll in diesem Abschnitt beschrieben:

Morgens um halb vier schellte im dritten Stock das Telefon. Drei Mal im Abstand von zwei Minuten. Johann Isidor eilte umgehend in den Salon, doch er überwand erst beim dritten Mal seine Angst, den Hörer abzunehmen. Keinen Moment zweifelte er, dass er gleich eine schlechte Nachricht hören würde; er sah Erwin oder auch Fritz verhaftet und ins Gefängnis abtransportiert, und in Sekundenschnelle stellte er sich vor, sie wären zusammengeschlagen worden und würden um ihr Leben kämpfen. Mit pochendem Herzen überlegte Johann Isidor, der in seinem ersten, dem freien Leben bei Freunden und Rivalen dafür bekannt war, dass er nie einer Schwäche nachgab, welche von beiden Möglichkeiten die schlimmere wäre. Ängstigte er sich mehr um seinen Sohn oder um den Mann seiner Tochter? Panik und Scham nahmen ihm den Atem. Er fragte sich, ob der Gott, der nicht mit sich handeln ließ, die Ichbezogenheit der Kleingläubigen und Egoisten ahndete. Oder hatte der Gerechte Nachsicht mit den Entmutigten, den Schwachen und Gejagten? Anna fiel ihm ein. Um ihretwillen durfte er nicht aufgeben. Nie. [...]
"Nein", flüsterte Johann Isidor. Er wiederholte das Wort, konnte kaum noch den Hörer in seiner Hand halten, konnte nicht mehr stehen, fühlte schon den Sturz. Sein geschwächtes Knie gab nach, der rechte Fuß war geschwollen. Er nannte seinen Namen, sagte auch noch "Posamentier und Handelsmann", was er noch nie getan hatte, hörte das Rauschen in der Leitung, duckte sich, um der Bedrohung zu entgehen, doch sie wurde lauter, bedrängender, unausweichlicher. Die Kiefer schmerzten, er kaute Luft und konnte doch nicht sprechen, wollte die kleine Schreibtischlampe neben dem Telefon anknipsen, fand aber den Schalter nicht. Mit Augen, die in ihren Höhlen austrockneten, starrte er in die Dunkelheit und wartete auf den Moment, da ihn seine Angst erwürgen würde.
Da geschah das unfassliche. Ein Felsbrocken, so gewaltig wie der, aus dem Moses Wasser geschlagen hatte, sprengte sich von seiner Brust. Die Stimme, die sein Ohr peitschte, hatte er als die von Frau Meyerbeer erkannt...

Diese Angst auszustehen, jedes Mal, wenn das Telefon klingelt oder es an die Haustür klopft. Ich mag mich da gar nicht reinversetzen.
Es ist auch das erste Mal, dass ich so dicht dran bin am Leben einer jüdischen deutschen Familie. Bisher kenne ich ihr Leben zumeist aus TV-Dokumentationen.