Mittwoch, 11. März 2020

Jonathan Coe: Middle England

Quelle: Pixabay/pixel2013
"'... Manche Leute finden ja, wir sind eine ganze Nation harmloser Spinner.'"
"..., die Hecken am Straßenrand, die Pubs, die Gartenzentren, die Mini-Märkte, also alles, was das moderne England so kennzeichnete."
"'Nostalgie ist die englische Krankheit. ... Die Engländer sind von ihrer verdammten Vergangenheit besessen - und wir haben gesehen, wohin das führt. ...'"
Dies sind die Worte eines Mannes, der es wissen muss. Denn er ist Brite. Manche würden ihn als Nestbeschmutzer bezeichnen, hält er doch mit seinen fast schon gehässigen Äußerungen über seine Landsleute nicht hinter dem Berg. Es geht um Jonathan Coe.
In seine Büchern beschäftigt sich der britische Autor, gern mit den Briten und dessen Alltag. Dabei ist er für seinen gnadenlos bissigen Humor in seiner Heimat berühmt berüchtigt.
Quelle: Folio Verlag

Auch sein aktueller Roman „Middle England“ ist eine Gesellschaftssatire auf das englische Königreich, geschildert am Beispiel von mehreren Protagonisten, die miteinander verwandt, befreundet oder bekannt sind. Die Handlung findet während der Jahre 2010 bis 2018 statt. Schauplätze sind vorwiegend Birmingham, welches das Zentrum der West Midlands ist (mittiger geht fast nicht in UK) sowie London. Gemessen an den aktuellen Ereignissen um den Austritt der Engländer aus der EU, kann man diesen Roman durchaus als Pre-Brexit-Roman bezeichnen. Zumindest wird hier im Detail durchleuchtet, wie es zu dem Brexit kommen konnte.

Die Handlung ist geprägt vom Alltag der Protagonisten. Das hört sich erstmal unspektakulär an. Doch man lernt schnell, dass das Leben die besten Geschichten schreibt. Und vor allem die Lustigsten. Lustig zumindest für den Außenstehenden. Denn die Protagonisten in diesem Roman erweisen sich alle als tragische Gestalten, denen das Leben in der britischen Gesellschaft ein Schnippchen schlägt. Dabei werden sie von Coe dermaßen klischeehaft überzeichnet dargestellt, dass ich manches Mal schallend gelacht habe. 
Die Charaktere bilden dabei einen Querschnitt durch die britische Gesellschaft inklusive sämtlicher politischer Ausrichtungen.
"'Es gibt im ganzen Land höchstens zwölf Leute, die verstehen, wie die EU funktioniert, oder gar, wie ihre Bestimmungen mit dem globalen Wirtschaftssystem verzahnt sind. Du verstehst es nicht, und ich verstehe es erst recht nicht, und wenn du glaubst, dass die Menschen in drei Monaten besser Bescheid wissen werden, lebst du im Wolkenkuckucksheim. Die Menschen werden so abstimmen, wie sie es immer tun - mit dem Bauch. ...'"
Jonathan Coe ist ein Meister der Satire. Das „Opfer“ seiner Satire ist die britische Gesellschaft, deren Entwicklung in Zeiten des Pre-Brexit der Autor akribisch herausarbeitet. Als Europäer, der das Theater um den Brexit bestenfalls in der Presse mitverfolgt hat, bekommt man einen ungefähren Eindruck, welcher gesellschaftliche Wandel in Großbritannien stattgefunden hat.
Anfangs konzentriert sich dieser Roman auf das Leben und den Alltag in Großbritannien, doch je näher wir uns in der Handlung dem tatsächlichen Beschluss zum Austritt aus der EU nähern, umso politischer wird der Roman. Denn Coe bindet politische Ereignisse und Stimmungen in die Handlung ein. Seine Protagonisten bekommen direkt oder indirekt mit, welche Auswirkungen der Brexit auf ihr Leben haben wird. 
Insofern bezeichne ich den satirischen Roman „Middle England“ als visionäres Lehrstück zum Thema „Brexit“, das einen Höllenspaß macht – vorausgesetzt, man ist kein Engländer. Denn Jonathan Coe zerpflückt in seinem Buch gnadenlos die englische Seele. Und das kann fies wehtun.
"'Wir sind komplett und hoffnungslos am Arsch. Es ist ein einziges Chaos. Alle rennen herum wie kopflose Hühner. ... Niemand hat damit gerechnet. Niemand war darauf vorbereitet. Niemand weiß, was ein 'Brexit' eigentlich ist. Niemand weiß, wie das geht. Vor eineinhalb Jahren nannten das alle noch 'Brixit'. Niemand weiß, was 'Brexit' bedeutet.'"
Ich habe diesen Roman mit großem Vergnügen gelesen. Die von mir zitierten Textpassagen aus dem Roman beweisen es: Jonathan Coe geht erbarmungslos mit der britischen Gesellschaft um. Als Nicht-Brite kann man darauf nur mit Schadenfreude reagieren. Doch Vorsicht, lieber Leser: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!

Leseempfehlung!

© Renie