Mittwoch, 28. August 2019

Tom Perrotta: Mrs. Fletcher

Quelle: Pixabay/uwekern
Milf, Transe, Cougar …., man lernt nie aus. Da habe ich mit „Mrs. Fletcher“ einen Roman gelesen, der mir die Definition zu Begriffen lieferte, die irgendwo in der hintersten Ecke meines Wortschatzes schlummerten – keine Ahnung, wie sie dahin gekommen sind -, von denen ich jedoch nur eine vage Vorstellung hatte, was sie bedeuten. In diesem Roman  geht es um Sex, aber nicht in der Form, dass man dieses Buch in die Schublade der Erotik-Literatur stecken möchte.

Denn dieser Roman ist viel viel mehr. Natürlich spielt er mit Fantasien, die sich die wenigsten eingestehen wollen. Doch in erster Linie beschreibt er das Miteinander in der modernen Gesellschaft, bestimmt von Sex, Partnerschaft, Geschlechterrollen und Familienleben. Also ein Buch, mitten aus dem Leben.
„Mädchen tragen Rosa, Jungen tragen Blau. Jungs sind zäh. Mädchen sind süß. Frauen sind Betreuungspersonen mit weichen Körpern. Männer Anführer mit harten Muskeln. Mädchen werden angeguckt. Jungs sind die, die gucken. Beharrte Achseln. Hübsche Fingernägel. Das geht, jenes nicht.“
Gleich zu Beginn des Romans lernen wir die geschiedene Mrs. Eve Fletcher kennen. Es ist der Tag, an dem Sohn Brendan, das heimische Nest verlässt. Denn er geht aufs College. Also ein besonderer Tag für Eve, die sich zukünftig einer wesentlichen Aufgabe ihres Lebens beraubt sieht, nämlich dem Bemuttern. Zeit für einen Neuanfang, mit interessanten Freizeitgestaltungen, neuen Freunden, anregenden Gesprächen, und was mutter sich sonst noch so vorgaukelt, was frau machen kann, wenn das Nest plötzlich leer ist. 

Bis hierhin bin ich davon ausgegangen, dass der Roman sich auf die Erweckung von Mrs. Fletcher zu einer neuen Persönlichkeit konzentriert: von der Mutter, die fast 20 Jahre ihres Lebens für ihren Sohn gelebt hat und nun zu neuen Ufern aufbricht.
Quelle: dtv
„Im Laufe ihres Lebens hatten sich die Dinge derart verändert, dass Frauen ihres Alters all diese unterschiedlichen Rollenmuster im Kopf hatten – man konnte ein Fünfzigerjahre-Heimchen sein und eine selbstständige berufstätige Frau, eine überzeugte Feministin wie eine errötende Braut, eine leidenschaftliche Sportlerin wie eine unterwürfige, bedürftige Geliebte. Meistens konnte man ohne allzu große Schwierigkeiten von einer in die andere Rolle wechseln, ohne zu merken, dass man sich dabei womöglich selbst widersprach.“
Spätestens mit Wechsel der Erzählperspektive auf Brendan, der von seiner ersten Zeit am College berichtet, wird man als Leser eines Besseren belehrt. Brendans Fokus liegt auf Sex, Alkoholexzessen, Drogen und mit Kumpels abhängen. Und darüber wird ausführlich berichtet. Dieser Perspektivwechsel auf Brendan hat sogar nichts mit dem Thema „Selbstfindung von Mrs. Fletcher“, zu tun, zumal Mutter Eve in der Handlung auch gar nicht mehr stattfindet – bestenfalls noch als besorgte Mutter, die sich bei ihrem Sprössling mit der einen oder anderen SMS in Erinnerung ruft. 

Ein irritierender Wechsel. Und wer als Leser nicht darauf erpicht ist, sich mit dem Collegealltag eines spätpubertierenden Jugendlichen auseinander zu setzen, wird Zweifel daran haben, ob er dieses Buch überhaupt weiterlesen soll. 

Aber der Sprachstil von Tom Perrotta ist einfach zu quirlig und spritzig, als dass man den Roman so ohne weiteres abbrechen wird. Und Durchhalten, was dank des Sprachstils nicht schwierig ist, wird belohnt. Mrs. Fletcher wird wieder am Geschehen teilnehmen. Und nicht nur sie. Tom Perrotta zieht seine Kreise durch die Umgebung von Eve und Brendan. Randfiguren, die irgendwann aufgetaucht sind, werden auf einmal zu Protagonisten, die aus ihren eigenen Erzählperspektiven über ihre Sorgen und Nöte im Zusammenleben miteinander berichten.
- Da haben wir natürlich Mrs. Fletcher, die ihre Leidenschaft für Pornos und ihre sexuelle Experimentierfreudigkeit entdeckt.
„Im Idealfall vergaß man, dass man einen Porno schaute, und begriff das Ganze, wenn auch nicht als der Wahrheit letzten Schluss, so doch als flüchtigen Blick in eine Welt, die besser war als die eigene, eine Welt, in der alle insgeheim dasselbe wollten und jeder es tatsächlich bekam.“
- Oder Amber, ein Mädchen, in das sich Brendan am College verguckt, die aber herzlich wenig seinem Beuteschema einer sexwilligen Cheerleaderin entspricht. Sie ist eher der Typ, der die Welt retten möchte und deren Persönlichkeit durch die Kindheit mit ihrem autistischen Bruders geprägt ist. 
- Oder Dr. Margo Fairchild, ehemals Mark Fairchild, die nicht damit hinterm Berg hält, früher ein Mann gewesen zu sein. Sie will die Welt sensibler machen. Eine kaum zu lösende Aufgabe.

Dies sind nur einige wenige der verschiedenen Charaktere dieses erfrischenden Romans. Mit ihnen bietet sich dem Leser ein Querschnitt der Gesellschaft – nicht nur der amerikanischen. Und vermutlich wird sich jeder Leser oder Leserin in der einen oder anderen Rolle wiederfinden. Bei mir hat Tom Perrotta auf jeden Fall einen Nerv getroffen.

Leseempfehlung!

© Renie