Mittwoch, 24. Januar 2018

Bernhard Schlink: Olga

Quelle: Pixabay/Printeboek
Der Roman "Olga" von Bernhard Schlink ist ein Wohlfühlbuch. Es gehört für mich zu den Büchern, bei denen du nach den ersten Zeilen schon weißt, dass du dich in der Geschichte verlieren wirst. Tiefenentspannung tritt ein. Die Geschichte lässt dich nicht los. Und du liest, und liest, und am Ende bist du traurig, dass die Geschichte einen Schluss hat. Und du bist voller Eindrücke und weißt nicht, was du als nächstes lesen sollst. Denn keines deiner Bücher auf deinem SuB scheint nur ansatzweise an das gerade Gelesene heranzukommen.
Also schreibst du erstmal eine Rezension...;-)

Olga's Geschichte beginnt zum Ende des 19. Jahrhunderts, als sie gerade mal 1 Jahr alt ist. Gleich zu Anfang erfährt der Leser, dass Olga ein braves Kind ist, ein kleines Mädchen, das gerne still steht und einfach nur ihre Umgebung betrachtet. Sie lässt die Welt auf sich wirken. Und dabei saugt sie alles an Eindrücken auf, die sich ihr bieten. Auch als sie älter wird, lässt ihre Wissbegier nicht nach. Dank der Hilfe einer Nachbarin lernt Olga lesen und schreiben, noch bevor sie in die Schule kommt. Mit dem plötzlichen Tod ihrer Eltern ist es zunächst vorbei mit der besonderen Förderung. Olga zieht zu ihrer Großmutter in ein Dorf in Pommern. Die alte Frau hat nicht viel übrig für den Wissensdurst ihrer Enkelin. In dem Dorf lebt auch die reiche Familie Schröder. Sohn Heinrich und Tochter Viktoria freunden sich mit Olga an. 
"Viktoria hat einen schmollenden Zug um den Mund, der verrät, dass sie, wenn mit der Welt nicht im Frieden, verdrießlich werden kann. Olga hat zu ihrem festen Kinn starke Wangenknochen und eine breite, hohe Stirn, ein kraftvolles Gesicht, an dem der Blick sich desto mehr freut, je länger er auf ihm verweilt. Beide schauen gewichtig, bereit zu heiraten, Kinder zu kriegen und ein Haus zu führen. Sie sind junge Frauen. Herbert will ein junger Mann sein, ist aber noch ein Bub, klein, stämmig, kräftig, der die Brust hebt und den Kopf reckt und die beiden Mädchen doch nicht überragt und auch nie überragen wird." (S. 22)
Quelle: Diogenes
Mit den Jahren werden Olga und Heinrich ein Paar. Denn Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Olga, das Mädchen, das am liebsten stillsteht und die Welt betrachtet, verliebt sich in Heinrich, der, seit er laufen kann, nicht still stehen möchte. Denn die Welt hat viel zu bieten, das es zu erforschen gilt. Die Heimat ist Heinrich zu klein. Ihn zieht es in die Welt hinaus. Die Verbindung zwischen Olga und ihm wird nicht gern gesehen. Heinrichs Familie ist gegen diese Beziehung. Sie wünschen sich für ihren Sohn eine standesgemäße Ehefrau und drängen ihn zu einer Entscheidung gegen ein Leben mit Olga. Heinrich entzieht sich dieser Entscheidung, indem er sein Heil in der Flucht sucht. Er bereist die Welt. Alles, was er auf seinen Reisen erlebt, ist immer noch nicht genug und gibt ihm nur einen Vorgeschmack auf die Größe dieser Welt. Seine letzte Reise führt ihn in die Arktis, von der er leider nicht zurückkehren wird.

Zuhause wartet Olga auf ihn. Völlig untypisch für die Frauen ihrer Generation, hat sie gelernt auf eigenen Füßen zu stehen. Sie ist Lehrerin geworden und lebt ihr eigenes Leben. Ist Herbert der Getriebene, ist sie die, in sich Ruhende. Sie ist zufrieden, mit dem, was sie erreicht hat. Sicher wäre es schöner, Herbert an ihrer Seite zu wissen. Aber sie akzeptiert seine Eigenheiten, wie sie auch jeden Schicksalsschlag akzeptiert, der ihr in ihrem Leben widerfährt.
"Olga mochte, wenn Herbert etwas nicht verstand, nicht erklären, nicht ausdrücken konnte. Er war stark, ließ sich nicht einschüchtern und nicht unterkriegen, und so einen Mann wollte sie. Zugleich wollte sie zu ihrem Mann nicht nur aufschauen, sondern hatte ihm gerne etwas voraus." (S. 68)
Die Jahre vergehen, Olga erlebt und überlebt die beiden Weltkriege. Und sie wartet immer noch auf Herbert. In der Zwischenzeit hat sich ihr Leben geändert. Sie unterrichtet nicht mehr, stattdessen arbeitet sie als Näherin. Ferdinand, das Kind eines ihrer Auftraggeber, entwickelt eine innige Beziehung zu Olga. Auch nachdem sie zu alt ist, um noch zu arbeiten, reisst der Kontakt zwischen den beiden nicht ab. Das Verhältnis erinnert an das einer Großmutter zu ihrem Enkel.
Mit 94 Jahren stirbt Olga. Ihr Tod reisst eine schmerzhafte Lücke in das Leben von Ferdinand. Er wird sich ein Leben lang an sie erinnern. Später gelangt er an Briefe, die Olga einst ihrem Herbert geschrieben hat. Die Briefe schildern ihre Gefühle und Gedanken, die sie in all den Jahren beschäftigt haben und offenbaren manches Geheimnis.

Der Roman hat einen besonderen Aufbau. Er ist in drei Teilen geschrieben. Im ersten Teil erfährt der Leser die Geschichte über Olga aus der Sicht eines Erzählers. Da erzählt jemand eine Geschichte, über eine Frau, die er mal gekannt hat, oder von der er gehört hat. Der Sprachstil ist dabei sehr reduziert und konzentriert sich auf das Wesentliche. Wörtliche Rede findet so gut wie nicht statt. Und doch gelingt Bernhard Schlink das Kunststück, Bilder im Kopf entstehen zu lassen, die von trauriger Melancholie geprägt sind. Der Leser verliert sich dabei gern in der Geschichte um diese, für die damalige Zeit, so besondere Frau.
Mit dem zweiten Teil findet ein Wechsel in der Erzählperspektive statt. Plötzlich ist es Ferdinand, der von "seiner" Frau Rinke (Olga) erzählt, von der Zeit, die er mit ihr verbracht hat, von den Geschichten, die sie ihm erzählt hat. Die Erzählung wird lebhafter. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Person Olga, sondern das Verhältnis zwischen Ferdinand und ihr.

Der dritte Teil besteht aus Olgas Briefen an Herbert. Sie hat ihm jahrelang geschrieben, selbst dann noch, als er bereits seit Jahren verschollen war und auch keine Hoffnung mehr auf seine Rückkehr bestand. Den letzten Brief an Herbert schreibt sie kurz vor ihrem Tod. Diese sehr persönlichen Briefe haben mich zutiefst berührt. Manches Mal standen mir die Tränen in den Augen. Denn Olga offenbart in diesen Dokumenten ihr Herz und ihre Seele. Anfangs hegt sie noch die Hoffnung, dass Herbert zu ihr zurückkehren wird. Doch die Hoffnung schwindet mit der Zeit und macht Verzweiflung Platz. Olga geht jedoch mit diesem Schicksalsschlag um, wie sie ihr ganzes Leben bewältigt hat. Egal wie groß ihr Schmerz ist, am Ende nimmt sie ihn als gegeben hin und versucht, mit dem zufrieden zu sein, was sie hat.
"'So ist das, Kind. Du kannst aus dem, was dir gegeben ist, nicht das Beste machen, wenn du es nicht annimmst.'" (S. 151)
Ich möchte nicht den Eindruck vermitteln, dass man sich beim Lesen dieses Romanes in Rührseligkeit verliert. Bernhard Schlink lässt zunächst vieles um Olga offen und beschäftigt somit den Leser. So ganz nebenbei werden sich im Verlauf der Geschichte ein paar Geheimnisse abzeichnen. Es tauchen Fragen auf, die man beantwortet haben möchte. Das macht auch die Spannung in diesem Buch aus. Und Schlink liefert Antworten - wenn auch überraschende ;-)

Fazit:
Ein Roman mit einem ungewöhnlichen Aufbau, einem wohltuenden Sprachstil sowie einer Geschichte über das berührende Schicksal einer starken Frau. Ein Roman, den man nicht vergessen wird.

© Renie




Über den Autor:
Bernhard Schlink, geboren 1944 bei Bielefeld, ist Jurist und lebt in Berlin und New York. Der 1995 erschienene Roman ›Der Vorleser‹, 2009 von Stephen Daldry unter dem Titel ›The Reader‹ verfilmt, in über 50 Sprachen übersetzt und mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, begründete seinen schriftstellerischen Weltruhm. (Quelle: Diogenes)