Donnerstag, 18. Januar 2018

Angela Stoll: Die Lügen des Horatio Harthorn

Quelle: Pixabay/darkmoon1968
Wenn es kracht und qualmt und stinkt, wenn dampfbetriebene Maschinen die Szenerie bestimmen, wenn Science Fiction auf Historienroman trifft, Abenteuer- auf Kriminalroman, wenn Vertrautes auf Verfremdetes trifft, und Fiktionales in vertrauter Form dargestellt wird .... dann liest man Steampunk.
Angela Stoll hat mit ihrem Buch "Die Lügen des Horatio Harthorn" ein Paradebeispiel für dieses Fantasygenre gezaubert.

Irgendwo in einem britischen "Land der Technik und Vernunft" - wir schreiben das Jahr 1899 - verspürt Horatio Harthorn, ein wohlhabender und angesehener Händler, plötzlich Sehnsucht nach seinem Sohn Alan. Alans Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, woraufhin Horatio seinen Sohn in die Obhut seines Bruders gegeben hat. Mittlerweile lebt Alan bereits seit 15 Jahren bei seinem Onkel auf dem Land. Seinen mächtigen Vater kennt er nur durch Zeitungsartikel. Endlich ist es soweit, sein Vater holt ihn zu sich in die Stadt. Horatios derzeitige Ehefrau konnte ihm bisher keine Kinder schenken. Bleibt also die Frage, wer einmal sein Vermächtnis antreten wird. Damit kommt Alan auf den Plan. In der Stadt angekommen, wird Alan von seinem Vater zunächst mit offenen Armen empfangen. Für Alan, der sich all die Jahre nach seinem Vater gesehnt hat, geht ein Traum in Erfüllung. Doch Horatio ist nicht der liebevolle Vater, der er zunächst vorgibt zu sein. Nach Außen stellt er den erfolgreichen Geschäftsmann dar, der sich aufopferungsvoll um seine Angehörigen kümmert. Doch in Wirklichkeit ist er ein Tyrann, der Spaß daran hat, seine Untergebenen - wozu er auch seine Familie zählt - zu quälen. Dabei schreckt er auch nicht vor den grausamsten Methoden zurück. Alan werden schon nach kurzer Zeit die Augen geöffnet.
"Alan schien ein guter Kerl zu sein, kein bisschen wie sein Vater. Aber wenn er die Erwartungen seines Vaters auch nur einigermaßen erfüllen wollte, musste er so werden wie er: boshaft, gemein und ein Menschenschinder."
Quelle: Verlag in Farbe und Bunt
Die Charaktere:
Alan hat, abgesehen von seinem Aussehen, nur wenig mit seinem Vater gemeinsam. Ist Horatio skrupellos, grausam und böse, ist Alan eher ein Menschenfreund. Er ist freundlich, höflich, zeigt Empathie und Mitgefühl. Andere Menschen sind Alan wichtig, Horatio sind andere Menschen egal. Horatios Grausamkeiten machen auch vor seinem Sohn nicht halt. Doch Alan steht im Konflikt mit seinem Vater nicht allein. Überraschend erhält er Unterstützung von Rose, mit der er aufgewachsen ist, und die ihn heimlich und ohne sein Wissen in die Stadt begleitet hat. Rose ist die Tochter von Alans Amme. Die Zukunftsmöglichkeiten, die sich einem Mädchen auf dem Lande bieten, sind für Rose erschreckend. Daher nimmt sie ihr Leben in die Hand und will ihr Glück in der Stadt versuchen.
Die Geschichte wird zum Einen aus der Sicht von Alan erzählt, der sein neues Leben mit seinem Vater beschreibt, zum Anderen aus der Sicht von Rose. 
Der Neuanfang in der Stadt verläuft für sie nicht so, wie sie gehofft hat. Ganz im Gegenteil, sie gerät in große Gefahr, die sie nur mit fremder Hilfe meistern kann: Hap, einem schwerfälligen und geistig zurückgebliebenem Gleichaltrigen sowie einer mysteriösen Lady. Beide hüten Geheimnisse, die im Verlauf der Handlung aufgelöst und großen Einfluss auf das Geschehen nehmen werden.
"Aus der Nähe betrachtet wirkte die mit Wasserstoff gefüllte Hülle des Flugschiffes groß wie ein Haus. Der Lärm der Motoren folterte die Ohren und machte jede Unterhaltung unmöglich. Und erst der Gestank!"
Die Fantasyelemente:
Horatio besitzt eine Flotte dampfbetriebener Flugschiffe. Mit einem dieser Schiffe lässt er Alan in die Stadt holen. Flugschiffe gehören zum Alltag dazu. Auf den Straßen der Stadt ist mächtig viel los, denn Dampfkutschen bestimmen das Straßenbild. Man bedenke, die Handlung spielt in einer Zeit, in der Motoren erst in den Anfängen steckten. Doch für die Figuren in diesem Roman sind die knatternden und stinkenden Maschinen eine Selbstverständlichkeit.
Ein weiteres Fantasyelement sind übersinnliche Fähigkeiten, die manche Menschen in diesem Roman besitzen. Da hier das "Gesetz von Wissenschaft und Logik" herrscht, müssen diese Menschen ihre Fähigkeiten geheim halten.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Autorin Angela Stoll dieses Fantasyelement intensiver ausgebaut hätte. Doch der Leser erfährt nur, dass es diese Fähigkeiten sowie das Gesetz gibt, nicht jedoch die Hintergründe. 

Fazit:
Fast vergaß ich, dass "Die Lügen des Horatio Harthorn" ein Fantasyroman ist. Die Handlung hätte genauso gut in einem Abenteuer- oder Historienroman stattfinden können. Zwischendurch wurde ich jedoch durch die Fantasyelemente wieder in das richtige Genre geholt. Angela Stoll ist ein Roman gelungen, der mir sehr viel Spaß gemacht hat, wozu auch ihre sehr bildhafte Sprache beigetragen hat. Die Steampunk-Stimmung, die sie sehr authentisch vermittelt, hat mich vom Anfang bis zum Ende begleitet. Hinzu kommt ein Spannungsbogen, der von der ersten Seite an vorhanden ist und permanent auf hohem Niveau gehalten wird. Daher wollte ich das Buch, einmal begonnen, nicht weglegen. Ein Steampunk-Roman, der mir richtig schön den Kopf "freigedampft" hat und alles andere vergessen ließ.

© Renie