Freitag, 31. März 2017

Mário de Andrade: Senhorita Elsa



Der Münchner Verlag Louisoder hat immer ein ganz besonderes Händchen, wenn es um die Gestaltung seiner  Buchcover geht. So auch in diesem Fall. Die Dame, die uns von dem Cover des Buches "Senhorita Elsa" von Mário de Andrade anstrahlt, versprüht gute Laune und viel Temperament. Ich nenne sie mal klischeehaft eine rassige Brasilianerin. Die Dame muss la Senhorita Elsa sein.

Wie groß war meine Überraschung, als sich herausstellte, dass la Senhorita in Wirklichkeit Elsa Schumann aus Hamburg ist, die seit 20 Jahren in Brasilien lebt und sich allein durchs brasilianische Leben schlägt. 
Nachdem ihre Mutter gestorben ist, erhält sie von einer Tante, die seit Jahren in Brasilien lebt, die Einladung, zu ihr zu ziehen. Da Elsa nichts mehr in Deutschland hält, tritt sie die Reise an. In Brasilien lernt sie einen Deutschen kennen, die beiden heiraten kurz darauf. Das Glück dauert nicht lange, denn ihr Gatte lässt sie schmählich im Stich, nachdem er sich seiner Noch-Ehefrau in Deutschland erinnert und ihr den Vorzug vor Elsa gibt. Hier ist sie nun in der Fremde gestrandet, ohne Angehörige (die Tante ist mittlerweile verstorben), mittellos und ungeliebt. Arme Elsa.
"Es war schwer für sie gewesen, so allein in einem fremden Land und doch hatten die beschwerlichen Jahre sie zu einer Frau gemacht, die fieberhaft nach Wissen und Bildung strebte, die abgeschieden von ihrer Umgebung lebte und sich Zukunftsvisionen hingab." (S. 37)
Wie so viele Frauen der damaligen (und wahrscheinlich auch heutigen) Zeit, träumt sie immer noch davon, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Sie sehnt sich danach, wieder nach Deutschland zurück zu kehren. Fehlt nur noch der passende Mann zu ihrem Glück. Der erste hat sich ja als Fehlgriff erwiesen. Ihr Zukünftiger muss natürlich Deutscher in Deutschland sein. In ihren Träumen existiert er bereits. Sie nennt ihren "Traummann" Karl. Doch es ist noch ein langer Weg bis zur Erfüllung ihres Traumes, zumal ihr das nötige Kleingeld für die Überfahrt nach Europa fehlt. Aber daran arbeitet sie. Vor einigen Jahren hat sie eine brasilianische Marktlücke entdeckt. Reiche Brasilianer geben viel Geld dafür aus, dass die Söhne der Familie auf den rechten Weg der Liebe verwiesen werden. Söhne sollen ihre ersten Liebeserfahrungen nicht in einem Bordell machen. Zu groß ist das Risiko für Leib und Seele. Stattdessen sollen sie behutsam in die Kunst der Liebe eingeführt werden. Hier kommt Elsa ins Spiel. Sie hat sich darauf spezialisiert, reiche Heranwachsende nach allen Regeln der Liebeskunst zu verführen, und diesen das Gefühl zu geben, unsterblich verliebt zu sein. Nachdem Elsa von einem fürsorglichen Vater engagiert wird, zieht sie als Kindermädchen und Hauslehrerin in den Haushalt der Familie. Sie unterrichtet die Kinder offiziell in Deutsch und Musik. Carlos, der Filius des Hauses, wird darüberhinaus inoffiziell in dem Fach "Liebe" unterrichtet, ohne, dass ihm dieses Arrangement bewusst ist. So lautet die Absprache mit dem Vater. Elsa lässt sich von Carlos erobern und gibt ihm das Gefühl, ein ganzer Mann zu sein.
Der körperliche Aspekt steht dabei gar nicht so sehr im Vordergrund. Vielmehr soll Carlos lernen, dass zur Liebe nicht nur der Körper, sondern auch Geist und Seele sowie Respekt  und Verantwortung gehören.
"Sie unterrichtete Kinder, junge Männer und hatte nie irgendwelche Selbstzweifel wegen der moralischen Implikationen, die ihre Unterweisungen mit sich brachten. Sie lehrte sowohl das Geistige als auch das Körperliche, keines existierte ohne das andere. So war es immer gewesen, und sie war rein, das wusste sie." (S. 35)
Anfangs tat ich mich mit diesem Szenario schwer. Lehrerinnen, die ihre Schüler verführen - ein Gedanke, der meine Toleranz an ihre Grenzen bringt. Doch mit der Zeit hat mich dieser Roman dann doch in seinen Bann gezogen. Elsa empfindet ihren Beruf als Berufung. Sie hat sich selbst Prinzipien auferlegt, von denen sie nicht abweicht und versucht mit großer Professionalität an ihre Aufgaben heranzugehen. Sie ist bemüht, sich nicht gefühlsmäßig von ihrem jeweiligen Schützling vereinnahmen zu lassen, was ihr jedoch nicht immer gelingt. Gerade in Carlos Fall schwankt sie zwischen Vernunft und tiefer Zuneigung.
Irgendwann ist jedes Engagement zu Ende. Welcher Vater möchte sie schon als Schwiegertochter haben? Eine Deutsche mittleren Alters, ohne gesellschaftliches Ansehen. Das ist auch nicht der Deal. Stattdessen wird sie nach Beendigung des Jobs in den nächsten Zug gesetzt, und man hofft sie nie wiederzusehen. Zurück bleibt ein von Liebeskummer geplagter Jüngling. 

Soviel zu dem sehr amüsanten und kuriosen Inhalt dieses Romanes. Die Komik wird noch durch einen weiteren Aspekt verstärkt. Der Autor Mário de Andrade geht nicht gerade respektvoll mit seinen Landsleuten um. Die Brasilianer bekommen ihr Fett weg. Das Bild, das er durch die Augen Elsas entstehen lässt, ist nicht sehr schmeichelhaft und bedient sich etlicher Klischees. Demgegenüber steht das Bild, das er von den Deutschen zeichnet, die nicht nur in der Person von Elsa dargestellt werden, sondern sich auch in einer sogenannten deutschen Gemeinde wiederfindet. Diese deutsche Gemeinschaft scheint generell aus Gestrandeten zu bestehen, die ihr Glück in Brasilien suchen, aber noch nicht gefunden haben. Daher vereint sie alle die Sehnsucht nach der Heimat, die sie durch regelmäßige Treffen ein Stück weit stillen wollen. Probate Mittel sind dabei das Lauschen zu klassischer Musik (deutscher Komponisten, versteht sich) und das gemeinsame Singen deutschen Liedgutes. Natürlich wird auch über die politische Situation in Deutschland diskutiert. Auch wenn man seit Jahren schon nicht mehr in Deutschland war, hat man doch eine Meinung. Man kann sich diese Treffen bildhaft vorstellen. Man spricht Deutsch und gibt sich der Heimatverbundenheit im Kollektiv hin. Natürlich wird auch die vermeintliche Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Einheimischen in den Vordergrund gestellt. 

Der Autor Mario de Andrade benutzt dabei eine Sprache, die sich durch Leichtigkeit auszeichnet. Es ist als ob die Worte nur so aus ihm heraussprudeln. Der Autor hatte scheinbar großen Spaß, an seiner Geschichte. Und das ist ansteckend. Lesen mit einem Lächeln im Gesicht ist vorprogrammiert.
"Deutsche Männer, zumindest die, die in der Liebe nicht nur praktisch und wie Tiere vorgingen, gehorchten irgendwie den Naturgesetzen. Der Lateinamerikaner lässt sich auf den Wellen der Liebe treiben, während der Deutsche wie ein Punkt in der Liebe verharrte." (S. 241)
Elsa ist eine äußerst bemerkenswerte Frau. Welche alleinstehende Frau hätte in den 20er Jahren gewagt, sich allein durch ein fremdes Land zu schlagen? Selbst heutzutage würden sich nur wenige Frauen auf dieses Abenteuer einlassen. Elsa hat an ihrem Traum festgehalten - den einer Familie in Deutschland. Und darauf arbeitet sie hin. Da spielt es auch keine Rolle, ob sie in einer Männer dominierten Gesellschaft unterwegs ist, was Brasilien zu dem Zeitpunkt nun mal war. Unbeirrt geht sie ihren Weg, macht sich die Schwächen der Männer sogar zunutze. Mit der Marktlücke, die sie für sich entdeckt hat, übt sie natürlich einen Beruf aus, der moralisch fragwürdig ist. Letztendlich verkauft sie ihre Liebesdienstleistung für Geld, auch wenn es für den Leistungsempfänger nicht offensichtlich ist. Dennoch unterscheidet sie sich von den anderen Damen des käuflichen Gewerbes. Zum Einen weigert sie sich, die Liebe auf das Körperliche zu reduzieren. Sie will ihren Schülern vermitteln, dass deutlich mehr zur Liebe gehört. Dabei sind ihr Dinge wie Respekt und Verantwortung gegenüber dem Partner wichtig. 
Zum Anderen lässt sie sich gefühlsmäßig auf ihre Schützlinge ein. Sie kann nicht anders. Sie gibt nicht nur ihren Körper, sondern auch einen Teil ihrer Seele. Den Abschiedsschmerz, den ihre Schüler verspüren, sobald ihr Engagement beendet ist, ist ihr daher ein Stück weit bekannt. Das Loslassen fällt ihr schwer. ...

Es scheint, als ob mir das Loslassen auch gerade schwer fällt. Ich ertappe mich dabei, wie ich mich gerade immer intensiver mit dem Charakter Elsa beschäftige und mich in Gedanken über sie verliere. Daher ziehe ich an dieser Stelle einen Schlussstrich und beende meine Rezension.

Fazit:
Ein unterhaltsamer Roman von einem Autor, der Spaß daran hat, die Geschichte einer besonderen Frau mit einer besonderen Berufung zu erzählen und dadurch das Herz des Lesers im Sturm erobert. Leseempfehlung!

© Renie




Über den Autor:
Mário de Andrade, 1893 in São Paulo geboren und 1945 ebenda gestorben, war ein brasilianischer Schriftsteller und Musikforscher. Als Wunderkind am Klavier nahm er zuerst ein Studium am Musik-Konservatorium in seiner Heimatstadt auf, um später Gesang und Musiktheorie zu studieren. Gleichzeitig beschäftigte er sich intensiv mit Literatur und veröffentlichte1917 seinen ersten Gedichtband. 1927 entstand de Andrades erster Roman „Amar, Verbo Intransitivo“, der jetzt auf Deutsch bei Louisoder vorliegt. (Quelle: Louisoder)