Donnerstag, 7. Juli 2016

Petra Hofmann: Nie mehr Frühling

"Nie mehr Frühling" - ein symbolträchtiger Titel für einen beeindruckenden Roman. Petra Hofmann erzählt in ihrem Erstlingswerk die Geschichte eines Dorfes und seiner Bewohner. Im Mittelpunkt steht dabei Hermine Stoll (*1910 - 1997), der durch den Verlust ihrer großen Liebe jegliche Lebenslust abhanden kommt und die sich nie mehr von dem Schmerz erholen wird. Der Leser begleitet Hermine von ihrer Jugend bis zu ihrem Tod.
Die Handlung dieses feinen eindringlichen Romans entwickelt dabei einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Einmal begonnen, legt man dieses Buch so schnell nicht mehr aus der Hand.
Worum geht es in diesem Roman?
Hermine ist sicher die eigensinnigste, lebenslustigste Frau im Dorf, als sie, verrückt vor Liebe, an einem Tag im Mai ihren Karl heiratet. Ewige Treue schwört sie ihm – bis in den Tod und darüber hinaus. Karls Einberufung in die Wehrmacht zerstört die Idylle jedoch auf einen Schlag. Hermine wartet auf ihn – ohne Rücksicht auf ihre kleinen Söhne und die Notwendigkeiten des täglichen Lebens. Sie weigert sich, den Tod ihres Geliebten zu akzeptieren, während sich die Frauen im Dorf längst den Mund über sie zerreißen und ihre Nachbarin Erna sie gleichermaßen beneidet wie verachtet. Der Krieg ist vorüber, das Leben in Deutschland geht weiter, aber Hermine lebt weiterhin in der Vergangenheit. (Klappentext)
"Auf dem Küchenboden liegt sie, vor dem Herd, zusammengekrümmt.Sie regt sich nicht.Mutter?, sagt Paul. In den Kleidern liegt sie da, die dünnen Beine in Gummistiefeln." (S. 9)
Hermine ist tot. Damit beginnt dieser Roman. Die 87-jährige Frau wird von ihrem Sohn Paul in ihrer Küche tot aufgefunden. Der Anblick seiner toten Mutter erfüllt ihn mit Abscheu und Erleichterung. Die alte Hermine schien kein Mensch zu sein, der von ihren Mitmenschen geliebt wurde. Warum eigentlich? Was ist passiert, dass aus Hermine, dem einst lebenslustigen Mädchen eine derart schreckliche und verkommene Alte geworden ist?
Der Leser erhält eine Antwort auf diese Frage, in dem in einzelnen chronologisch angeordneten Episoden der Lebensweg von Hermine dargestellt wird. Dabei wird aus der Sicht der unterschiedlichsten Personen erzählt, in der Regel Hermines Söhne, ihre Schwester und Nachbarn. Nur Hermine kommt nie zu Wort. Sie ist diejenige, die unter Beobachtung steht. Sowohl vom Leser als auch von der Dorfgemeinschaft. 
"Eine deutsche Frau lässt sich nicht gehen. Sie stellt eine anständige Mahlzeit auf den Tisch. Sie hält Ordnung, unter allen Umständen." (S. 77)
Hermine war immer etwas anders. Schon als junges Mädchen tat sie sich schwer, sich den dörflichen Konventionen zu unterwerfen. Sie hat von der großen und leidenschaftlichen Liebe geträumt, die sie in Karl gefunden hat. Schon allein dafür wurde sie von den anderen Frauen aus dem Dorf misstrauisch beäugt, aber auch insgeheim beneidet. Als der Nationalsozialismus in Deutschland Einkehr hält, hat Hermine zusammen mit ihrem Karl den Mut, gegen den braunen Strom zu schwimmen. Da sie mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hält, stößt sie auf Unverständnis bei der Dorfgemeinschaft, die sich von der braunen Welle begeistert mitreißen lässt. Doch mit Karl ist sie stark und kann dem Druck ihrer Umgebung standhalten. Als Karl in den Krieg geschickt wird, bricht Hermine zusammen. Sie hält daran fest, dass Karl wieder zu ihr nach Hause kommen wird. Bis dahin wird das Leben für sie still stehen. Sie vernachlässigt sich selbst und kümmert sich nicht mehr um ihre beiden Söhne, die bis dahin ein liebevolles Zuhause gewöhnt waren. Für die Kinder bricht eine Welt zusammen. Sie verstehen nicht, warum ihre Mutter sich nicht mehr um sie kümmert. Anfangs suchen sie die Schuld bei sich und versuchen der Mutter zu gefallen. Doch Hermine zieht sich zurück. Die beiden Jungen begreifen schnell, dass ihre unbeschwerte Kindheit vorbei ist und sie von jetzt an allein auf sich gestellt sind, auch wenn sie Seite an Seite mit der Mutter unter einem Dach wohnen. 
"Wie sie dasitzt, auf ihrem Hocker, ungerührt, starr. Und schon hört er sich schreien, Herrgott, schreit er und geht zu ihr und packt sie an den Schultern, diesen steifen, knochigen Schultern, und schüttelt sie, Herrgott, beweg dich doch endlich, schreit er, tu, was alle Mütter tun, ist das denn zu viel verlangt!? Er schreit und schüttelt sie, und es ist, als schüttelte er eine Holzpuppe, und da lässt er es. Und weiß nicht wohin mit all der Wut in sich." (S. 128 f.)
Als der Krieg vorbei ist, kehren nach und nach die Männer von der Front zurück. Hermine wartet auf ihren Karl. Sie ist vorbereitet auf seine Rückkehr. Doch Karl wird nicht zurückkehren. Ein Brief informiert darüber, dass Karl während des Krieges gefallen ist. Selbst dieser Brief reicht nicht aus, um Hermine vom Tod ihres Mannes zu überzeugen. Sie hält nach wie vor an dem Glauben fest, dass Karl eines Tages heimkehren wird. Menschen, die ihr in dieser schwierigen Zeit beistehen wollen, weist sie zurück. Sie reagiert mit Beschimpfungen und zieht sich immer mehr in ihre eigene Gedankenwelt zurück. Und so gehen die Jahre ins Land. Das Dorf und seine Menschen verändert sich. Der Fortschritt hält Einzug. Und mittendrin bewegt sich die alte verbitterte bösartige Hermine, die immer noch auf ihren Karl wartet, misstrauisch beäugt von ihrem Umfeld. Die Zeit scheint für Hermine stillzustehen.

Die Dorfgemeinschaft entwickelt mit der Zeit eine eigene Dynamik. Bemerkenswert ist der Umgang mit Hermine: Als Mädchen misstrauisch beäugt, als Nazigegnerin bedroht, als Mutter verachtet, als Witwe unverstanden (Männer fallen nun mal im Krieg, damit muss man sich abfinden). Auch wenn sie im Alter gehasst wird, findet man mit den Jahren gerade bei den älteren Dorfbewohnern so etwas wie Respekt vor ihrer Sturheit. Denn Veränderungen und Fortschritt, die mit den Jahren im Dorf Einzug gehalten haben, sind vielen nicht geheuer. Wie gern erinnert man sich der alten Zeiten. Und Hermine ist ein Sinnbild für diese alte Zeit. 
"Ich glaube, auch die Zugezogenen betrachten sie als Teil des Dorfes, eine alte wirre Frau eben, fremd und unnahbar, übrig geblieben aus einer anderen Zeit, ein Stück Dorfgeschichte vielleicht, die sie nichts angeht." (S. 172)
Wenn man die ersten Seiten dieses Buches gelesen hat, will man es nicht so schnell aus der Hand legen. Die episodenhafte Handlung entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Die einzelnen Kapitel sind kurz gehalten, so dass die Sichtweise auf Hermine häufig und schnell wechselt. Dabei erzählt Petra Hofmann die Geschichte Hermines in einer sehr symbolträchtigen und eindringlichen Sprache. Sie schafft es, die Gefühlswelt der einzelnen Charaktere sehr präzise wiederzugeben. Da ist es ein Leichtes für den Leser, sich von der jeweiligen Stimmungslage vereinnahmen zu lassen.

Der Titel „Nie mehr Frühling“ ist nicht von ungefähr gewählt. Häufig stößt man auf Textpassagen, die das Wetter zum Thema haben. Man kann gar nicht anders als die Symbolhaftigkeit zu erkennen und Parallelen zur Handlung zu finden.
"Vor dem Haus war die Mutter auf der Bank gesessen. Ein wunderbarer Frühling, hatte sie gesagt, kaum ein trüber Tag, und die Sonne wärmt schon. Lene hatte sich neben sie gesetzt. Wenn der Sommer nur auch so schön wird, hatte Lene gesagt. Das weiß man nie, hatte die Mutter gesagt. Wenn der Wind dreht, kann es kalt werden. Auch mitten im Sommer." (S. 26)
Dieses Buch hat mich in seinen Bann gezogen. Petra Hofmann hat einen bemerkenswerten Erzählstil, der die Stimmungen der Protagonisten eindringlich vermittelt und den Leser mit sich reißt. Dieser Roman macht daher eindeutig Lust auf mehr aus der Feder von Petra Hofmann. Klare Leseempfehlung!

© Renie


Nie mehr Frühling von Petra Hofmann, erschienen im Picus Verlag
Erscheinungsdatum: Februar 2015
ISBN: 978-3711720191


Über die Autorin:
Petra Hofmann, geboren 1959 in Süddeutschland. Studium der Germanistik, Linguistik und Philosophie auf dem zweiten Bildungsweg, gleichzeitig Theaterarbeit, nach Abschluss des Studiums Umzug in die Schweiz. Lebt seit 1996 bei Basel, arbeitet als freie Regisseurin und Lektorin für wissenschaftliche Texte und schreibt Erzählungen. Veröffentlichungen u. a. in der Schweizer Literaturzeitschrift "entwürfe". (Quelle: Picus)