Ein Roman über fünf Kinder und ihre ganz besondere Freundschaft. Die Geschichte spielt zu einer Zeit, in der sich Deutschland für den Nationalsozialismus und gegen Vernunft und Menschlichkeit entschieden hat. Dadurch weist dieser eindrucksvolle Roman erschreckend viele Parallelen zu unserer heutigen Gesellschaft auf.
Quelle: Aufbau Verlag |
Worum geht es in diesem Roman?
Poetisch und berührend erzählt Anna Gmeyner die Geschichte von fünf Kindern, die in derselben Nacht im Frühjahr 1920 gezeugt werden, aber in ganz unterschiedlichen Milieus aufwachsen. Eigentlich trennen sie Welten, und dennoch sind sie zu Freunden geworden, verbunden durch eine innige Zuneigung zu Manja – dem Mädchen aus armen ostjüdischen Verhältnissen. Für ihre Freundschaft nehmen die fünf Konflikte in Kauf, mit den Eltern, der Schule, der Hitlerjugend. Letztlich aber bleiben sie Gefangene ihrer Zeit, an der Manja tragisch zerbricht und mit ihr die Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft. (Quelle: Aufbau Verlag)
Die fünf Kinder, deren Geschichte hier erzählt wird, kommen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen. Doch für Kinder spielt so etwas keine Rolle - zumindest, wenn die Kinder klein sind. Da interessiert nicht, was der Vater von Beruf ist oder welcher Religion man angehört. Mit den fünf Familien präsentiert die Autorin Anna Gmeyner einen Querschnitt durch die deutsche Gesellschaft in der Zeit vor dem Dritten Reich.
"Trommeln, gellende Rufe, Sprechchor, Blasinstrumente, Fahnen und Stiefel, Stiefel über das ganze Land. Bricht ein Krieg aus, oder feiert man einen seltsamen Karneval? Männer und Frauen werfen sich aus der abgelaufenen Spur ihres Lebens in den Tumult dieser Nacht. Arme sollen reich werden, Müde kräftig, vertrocknete Weiber begehrt. Blinde werden sehen und Lahme gehen. Alles wird anders, nichts ist vorüber. Jahrmarkt und Erlösung. Sie jubeln und winken. 'Heil Hitler! Juda verrecke! Deutschland ist erwacht!'" (S. 255)
Die Familien
Familie Müller - linksorientiert, aus dem Arbeitermilieu. Der Vater setzt sich für die Rechte der Arbeiter ein und wird aufgrund seiner "falschen" politischen Gesinnung im Nazi-Deutschland verfolgt.
Familie Meissner - spießig und kleinbürgerlich. Der Vater ist ein Neider und Opportunist. Er missgönnt seinen besser gestellten Zeitgenossen ihren Wohlstand, biedert sich aber gern an und buhlt um deren Anerkennung. Für ihn kommt der Nationalsozialismus gerade recht. Verlierer werden zu Gewinnern. Und er ist somit bei der Machtverteilung der Nazis ganz vorne dabei. Endlich kann er Rache nehmen für die vermeintliche Ungerechtigkeit, die er in seinem bisherigen Leben erdulden musste.
Familie Hartung - wohlhabend, mächtig und angesehen, jüdisch. Kommerzienrat Hartung hatte bisher ein Händchen, wenn es um Geldangelegenheiten ging. Kaum ein Geschäft, bei dem er nicht mitgemischt und verdient hat. Die Familie ist jüdischer Abstammung. Aber Jude scheint nicht gleich Jude zu sein. Herr Hartung unterstützt die arische Bewegung und ihre Rassengesetze. Denn er sieht sich nicht als Jude - dafür ist er zu einflussreich und wohlhabend. Die Juden, das sind die Anderen. Ein fataler Irrtum, wie sich für ihn herausstellen wird.
Familie Heidemann - intellektuell und humanistisch. Ernst Heidemann ist Arzt und Menschenfreund. Herkunft, politische und religiöse Gesinnung eines Menschen sind ihm egal. Gewalt ist ihm zuwider. Er setzt sich bedingungslos für jene ein, die Hilfe brauchen. Dabei ist er kein mutiger Mensch. Aber sein Gerechtigkeitsempfinden lässt es nicht zu, sich von der politischen Rechtsbewegung in Deutschland vereinnahmen zu lassen. Dadurch bringt er sich und seine Familie in Gefahr. Denn die Nazis lassen keine anders Denkenden zu.
Manjas Familie - ostjüdisch, arm, die Mutter alleinerziehend. Manja muss die Erwachsenenrolle in ihrer Familie übernehmen. Sie kümmert sich um ihre jüngeren Brüder .... und um ihre Mutter. Denn Lea Meirowitz ist psychisch labil und trinkt. Als jüdische alleinerziehende Mutter ist sie der Willkür der von Männern dominierten Gesellschaft ausgeliefert. Sie droht, an der Verantwortung für ihre Familie zu zerbrechen.
"Wenn man ihn gefragt hätte, warum er sich der Gefahr der Entdeckung und der Grausamkeit von Strafen aussetze, um zweimal in der Woche an der Mauer, wie seine neuen Freunde sich ausgedrückt hätten, den Sohn eines Schiebers und eines Kulturbolschewisten, eine schmierige kleine Ostjüdin und seinen roten Schulkameraden zu treffen, hätte er darauf keine Antwort gewusst. Eine ihm sonst unbekannte Treue zwang ihn, daran festzuhalten. In der Kameradschaft der Hitlerjungen, die seine sonstige freie Zeit füllte und seinen Sprachschatz mit neuen Worten, blieb der Raum, den diese Abende einnahmen, unbesetzt, und die Zärtlichkeit, die er für Manja wie für keinen anderen Menschen fühlte, war wie eine kleine Insel, über die, ohne sie zu zerstören, die neuen Worte hinspritzten." (S. 362)
Wenn ich auf das Cover des Buches blicke und dieses kleine Mädchen mit ihrem unbeschwerten Lachen betrachte, sehe ich tatsächlich Manja vor mir. Ihre Unbeschwertheit ist ihre Stärke. Trotz aller Sorgen zuhause und der Verantwortung, die sie von der Mutter aufgebürdet bekommt, schafft sie es, sich ihre Kindlichkeit zu bewahren. Sie ist ein Sonnenschein, voller Fantasie und Träumen. Ihre Begeisterung für das Leben hat etwas Ansteckendes. Mit ihrem Elan reißt sie ihre Freund mit, die sie nahezu anbeten. Es macht Spaß, die fünf Freunde in ihrer Kindlichkeit und Unbeschwertheit zu erleben. Man möchte ihnen ewig beim Spielen in ihrer kleinen idyllischen Welt zusehen und wünscht sich so sehr, dass hier Freundschaften entstanden sind, die ein Leben lang andauern werden. Man ahnt jedoch, dass dieses Glück nicht von Dauer ist.
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Die Kinder haben ein gemeinsames Versteck - "die Mauer". Hier haben sie sich eine eigene sichere Welt geschaffen, in der Erwachsene keinen Zugang haben und das, was in der Gesellschaft passiert, keine Rolle spielt. Ihre Freundschaft liefert ihnen die Kraft, mit dem Alltag zurechtzukommen. Denn jedes der Kinder hat seine Sorgen, ob es nun die Angst vor dem überstrengen und brutalen Vater ist, ... oder die Suche nach Anerkennung bei dem Vater, der sich lieber einen anderen Sohn gewünscht hätte, ... oder die Angst um den verschleppten Vater ... oder einfach das Problem, jüdisch zu sein.
Die Geschichte um Manja und ihre Freunde hat mich sehr betroffen gemacht. Anfangs genießt man die Unbeschwertheit der Kinder. Mit der Zeit wird diese jedoch durch die braune Stimmung in der Gesellschaft überschattet. Man spürt, dass sich Schreckliches anbahnt und die Kinder nur noch als Verlierer aus ihrem Alltagskampf hervorgehen können. Die Entwicklung der damaligen Gesellschaft weist erschreckend viele Parallelen zu unserer heutigen Zeit auf. Damals wie heute braucht es nur ein paar, die das "braune" Gedankengut verbreiten, und damals wie heute gibt es leider zuviele Dumme, die sich von diesem Gedankengut vereinnahmen lassen.
"'Wir schwören, dass wir uns nie verlassen', sagte Manja. 'Wir sind nicht allein, wir sind fünf. Wir schwören, dass wir nicht auseinandergehen, auch wenn wir groß sind, auch wenn etwas geschieht, auch wenn alles anders wird, auch wenn es die Großen haben wollen.' Sie zögerte einen Augenblick, suchte nach Worten. 'Wir schwören, dass wir uns helfen werden, mehr als allen anderen Menschen, dass nichts, nichts und nichts uns auseinanderbringt, wir schwören ...', schloss sie leise mit der sinnlosen, ewigen Formel aller Eide, 'dass alles immer so bleiben wird wie jetzt.'" (S. 248)
Die Sprache von Anna Gmeyner ist sehr kontrastreich. Sie wirkt fantasievoll und bildhaft. Und doch gibt es ganze Textpassagen, in der Anna Gmeyner dazu übergeht, mit Teilsätzen und Aufzählungen zu arbeiten, die den Lesefluss zum Stocken bringen. Dies wirkt oft verstörend und macht sprach- und atemlos, wird jedoch den traurigen und bedrückenden Passagen in diesem Roman mehr als gerecht.
Fazit:
Anhand der Geschichte von 5 Familien unterschiedlicher sozialer Herkunft präsentiert Anna Gmeyner einen eindrucksvollen Querschnitt durch die Gesellschaft in der Zeit vor dem Dritten Reich. Die hier erzählte Geschichte hat leider nichts an Aktualität eingebüßt. Selten hat mich in letzter Zeit ein Buch so tief berührt wie dieses. Klare Leseempfehlung!
© Renie
Manja - Ein Roman um fünf Kinder von Anna Gmeyner, erschienen im Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum: 6. Oktober 2014
ISBN: 978-3351034153
Über die Autorin:
Anna Gmeyner, 1902 in Wien geboren, zählte zur literarischen Avantgarde der zwanziger Jahre. Ab 1932 arbeitete sie in Paris, wo sie Drehbücher u. a. für G. W. Pabst schrieb. Nach ihrer Heirat emigrierte sie nach England. Dort entstand der Roman Manja, der 1938 bei Querido in Amsterdam herausgegeben wurde. Gmeyner starb 1991 in York. (Quelle: Aufbau Verlag)