"Kommt ein Pferd in die Bar. Meint der Barkeeper:“Was machst du denn für ein langes Gesicht?“' Dieser Witz ist so schlecht wie er alt ist. Aber keine Angst, dieser Witz kommt nicht in diesem Buch vor. Dafür trifft man auf andere schlechte Witze. Aber das ist gut so, denn beim Lesen dieser außergewöhnlichen Geschichte ist einem nur selten nach Lachen zumute.
Quelle: Hanser Verlag |
Worum geht es in diesem Roman?
Für eine gute Pointe gab Dovele schon immer alles. Als Kind lief er oft auf den Händen. Er tat das, um seine Mutter zum Lachen zu bringen und damit ihm keiner ins Gesicht schlug. Heute steht er ein letztes Mal in einer Kleinstadt in Israel auf der Bühne. Er hat seinen Jugendfreund, einen pensionierten Richter, eingeladen. Im Laufe des Abends erzählt der Comedian zwischen vielen Witzen eine tragische Geschichte aus seiner Jugend. Es geht um Freundschaft und Familie, Liebe, Verrat und eine sehr persönliche Abrechnung auf dem Weg zu einer Beerdigung. Dem Kleinstadtpublikum ist das Lachen vergangen. (Quelle: Hanser Verlag)
Dovele tritt also ein letztes Mal auf die Bühne. Sein Auftritt hat etwas Verstörendes und Brutales. Seine Gags sind grausam und verletzend. Er sucht sich "Opfer" im Publikum und macht sie lächerlich. Man hat den Eindruck, dass das Publikum förmlich darum bettelt, von ihm attackiert zu werden. Es wird über jede Geschmacklosigkeit gelacht. Im Publikum befindet sich auch der Richter Avishai, den Dovele zu diesem Auftritt gebeten hat. Die beiden kennen sich aus Kindertagen, haben sich aber über lange Jahre aus den Augen verloren. Den mittlerweile 57-jährigen Dovele beschäftigt die Frage, ob es etwas gibt, was einen Menschen ausmacht und ihn somit von anderen Menschen unterscheidet? Besitzt Dovele dieses Etwas und können andere es erkennen? Er hofft, dass Avishai ihm nach der Vorstellung diese Frage beantworten kann.
Doch Avishai verabscheut Standup Comedy. Aber da er sich Dovele gegenüber verpflichtet fühlt - als Kind hat er Dovele mehrfach im Stich gelassen - lässt er sich überreden.
"Plötzlich, aus dem Nichts, war ich auf ihn losgegangen, als sei er der Stellvertreter schlechthin für die Leichtfertigkeit des Menschen in allen ihren Ausdrucksformen: Für euch, polterte ich los, ist doch im Grunde alles nur Stoff, aus dem man Witze machen kann, jede Sache, jeder Mensch, alles ist erlaubt, warum nicht. Wer nur ein bisschen improvisieren und schnell genug denken kann, darf alles lächerlich machen, ob mit Parodie oder Karikatur, Krankheiten, Kriege, Tod, alles ist lachbar, warum nicht?" (S. 38 f.)
Der Auftritt von Dovele entwickelt sich nicht so, wie das Publikum es von ihm erwartet. Man hat Geld ausgegeben für einen Abend voller Komik, Gelächter und Ausgelassenheit. Mit dieser Erwartungshaltung begegnet das Publikum dem Comedian. Er ist bei einigen bekannt, insofern nehmen sie ihm auch nicht krumm, dass er sie verhöhnt und lächerlich macht. Spätestens in dem Moment, wo Dovele anfängt, von seinem üblichen Programm abzuweichen und die Geschichte seiner Kindheit erzählt, kippt die Stimmung. Schließlich will man sich amüsieren und nicht mit seinen Problemen auseinandersetzen. Nach und nach verlassen die Zuschauer vorzeitig die Vorstellung. Nur wenige lassen sich von seiner Geschichte faszinieren.
"Wie hat er das geschafft, frage ich mich, wie hat er uns so schnell umgedreht, sein Publikum und in gewisser Weise auch mich? Wie hat er uns dazu gebracht, uns in seiner Seele zu Hause zu fühlen und uns zu seinen Geiseln gemacht?!" (S. 77)
Und diese Geschichte hat es in sich: als Kind ein Außenseiter, der ein schwieriges Verhältnis zu Vater und Mutter hat, der in seiner Kindheit mit einer Schuld konfrontiert wird, die ihn ein Leben lang belasten wird. Jetzt, bei seinem letzten Auftritt nutzt er die Gelegenheit, um mit seiner Kindheit abzurechnen. Gleichzeitig ist es ein Hilfeschrei gegenüber seinem "Freund" Avishai, der spürt, dass er ihn einst im Stich gelassen hat, jedoch nicht weiss, was damals passiert ist.
Der Leser erlebt Dovele's Auftritt aus der Sicht von Avishai. Man sitzt mit ihm quasi im Zuschauerraum und nimmt seine Umgebung und das Geschehen auf der Bühne genauso wahr wie er. Einen Großteil des Romans nimmt der Monolog von Dovele's Auftritt ein bzw. das Zusammenspiel mit dem Publikum. Zwischendurch wird diese Perspektive von Rückblenden und Avishai's Erinnerungen unterbrochen.
Anfangs lässt das Publikum alles mit sich machen. Man hat den Eindruck, dass Dovele testen möchte, wie weit er bei seinen Zuschauern gehen kann. Kein Witz ist zu geschmacklos, kein Gag zu verletzend .... das Publikum tobt vor Vergnügen. Als er mit seiner Kindheitsgeschichte beginnt, spürt Dovele vereinzelten Unmut bei seinen Zuschauern. Doch Dovele gelingt es, die Menge hinzuhalten, indem er weitere Gags in Aussicht stellt. Das Publikum ist dumm und hält still. Doch irgendwann hat auch der Dümmste kapiert, worum es geht. Die anfängliche Begeisterung seines Publikums mündet in Wut und Unverständnis, ja auch Beschimpfungen. Nur die wenigsten interessieren sich für seine Geschichte.
"Er seufzt, kratzt sich das spärliche Haar an der Schläfe. Natürlich merkt er, dass der ganze Abend in eine Schieflage geraten ist. Der Ast, auf dem er gerade sitzt, ist bereits schwerer als der ganze Baum. Auch das Publikum merkt es. Die Leute werfen sich Blicke zu, rutschen unruhig auf ihren Stühlen herum. Sie begreifen immer weniger, in was sie hier wider Willen hineingezogen werden. Sie wären längst gegangen oder hätten ihn sogar von der Bühne gepfiffen, wenn da nicht etwas Verlockendes wäre, dem man so schwer widerstehen kann: ein Blick in die Hölle von jemand anderem." (S. 107 f.)
Dovele verändert sich während seines Auftritts. Er wandelt sich vom verächtlichen und zynischen Comedian zu einem verletzlichen, tieftraurigen 57-jährigen Mann, der versucht, mit seiner Vergangenheit reinen Tisch zu machen.
Und am Ende sind nicht nur die wenigen verbleibenden Zuschauer von seiner Geschichte gefesselt, sondern auch der Leser ist zutiefst berührt von Dovele's Verzweiflung.
Fazit:
Es ist bemerkenswert, wie es David Grossman gelingt, den Leser Teil des Publikums werden zu lassen. Der Leser beginnt dieses Buch - und damit auch die Vorstellung - mit einer gewissen Erwartungshaltung. Er erhofft sich Humor, den er auch bekommt - allerdings in einer sehr verstörenden und geschmacklosen Weise. Es ist nicht das, was man erwartet und wofür man Geld ausgegeben hat. Was soll man also machen? Die Vorstellung vorzeitig verlassen bzw. das Buch abbrechen? Oder doch noch etwas warten, denn es wird doch hoffentlich noch besser? Und plötzlich hört bzw. liest man eine Geschichte, die immer noch nicht das ist, womit man gerechnet hat, die einen aber berührt und Anteil nehmen lässt.
Im Mittelpunkt steht auf einmal die Geschichte eines alten abgewrackten Künstlers, der seine besten Jahre bereits hinter sich hat, und der nun versucht, mit sich ins Reine zu kommen.
Vergessen ist die anfängliche Verachtung gegenüber Dovele und das Unverständnis für die Dummheit des Publikums. Als Leser gehört man plötzlich zu den wenigen Zuschauern, die sich von Dovele's Geschichte fesseln lassen. Diese Geschichte entwickelt einen Sog, der einen bis zum Ende mitreisst. Ein außergewöhnliches Buch, das mich noch lange beschäftigen wird.
© Renie
Kommt ein Pferd in die Bar von David Grossman, erschienen im Hanser Verlag.
ISBN 978-3-446-25050-5
Der Verlag über den Autor
David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei Hanser erschienen zuletzt Diesen Krieg kann keiner gewinnen (2003), Das Gedächtnis der Haut (2004), Die Kraft zur Korrektur (2008), Eine Frau flieht vor einer Nachricht (Roman, 2009), Die Umarmung (2012), Aus der Zeit fallen (2013) und Kommt ein Pferd in die Bar (Roman, 2016). (Quelle: Hanser Verlag)