Montag, 5. Oktober 2020

Joachim B. Schmidt: Kalmann

Island ist nicht nur für seine Natur  berühmt, sondern auch für seine ausgefallenen kulinarischen Köstlichkeiten. Eine davon ist das sehr spezielle Fischgericht "Hàkarl", auch bekannt als "Gammelhai". Das Grundrezept und die Zubereitung sind denkbar einfach, man benötigt nur ein bisschen Zeit und Geduld:  Man nehme einen handelsüblichen Grönlandhai - tot sollte er sein - und vergräbt ihn am Strand. Wenn kein Strand vorhanden sein sollte, kann man sicherlich auch den Garten nehmen. Doch besser empfiehlt sich eine Tonne, die sich luftdicht verschließen lässt. Dann muss man warten, je länger desto besser. Der Hai gammelt also vor sich hin. Nach ein paar Wochen sollte der Gammelprozess (biologisch: Fermentierung) abgeschlossen sein. Danach das verweste Fleisch wieder ausbuddeln, in kleine Stücke schneiden und genießen. Die Frage nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum stellt sich vermutlich nicht mehr. Als Getränk zum Gammelhai empfiehlt der Isländer Schnaps. Wer es stilecht mag, genießt daher seinen Gammelhai mit einem Brennivín. 
Ein Spezialist auf dem Gebiet der Hai-Verwesung ist Kalmann, Protgonist des gleichnamigen Romans von Joachim B. Schmidt. 
Quelle: Diogenes
"Man vermutet, dass die Räder in meinem Kopf rückwärtslaufen. Kam vor. Ist doch mir egal. Oder dass in meinem Kopf bloß Fischsuppe sei. Oder dass meine Leitungen falsch verbunden seien. Oder dass ich den IQ eines Schafes habe. Dabei können Schafe gar keinen IQ-Test machen."
Kalmann ist ein ganz besonderer Mensch, mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Er lebt in Raufarhövn, einem kleinen Ort irgendwo an der Küste Islands, kurz vor dem Nordpol (Luftlinie ca. 2.619 km). Hier ist er aufgewachsen, mittlerweile ist er 33 Jahre alt und lebt allein. Seine Tage verbringt er als Jäger, Fischer und Dorfsheriff. Letzteres nimmt er besonders ernst. Denn er fühlt sich verantwortlich für das Dorf. Die Bewohner haben sich an Kalmanns Anblick mit Sheriffstern, Cowboyhut und Knarre gewöhnt. Dies ist nicht das typische Outfit eines isländischen Polizeibeamten. Doch Kalmann ist auch kein Polizeibeamter. Er ist einfach Kalmann. Und Kalmanns Gedankenwelt ist herzerfrischend einfach. Das liegt daran, dass seine geistige Entwicklung irgendwo kurz vor der Pubertät stehen geblieben ist. Daher betrachtet er die Welt aus der Sicht eines Kindes, was in manchen Situationen nicht die schlechteste der Sichtweisen ist. Leider hat er Schwierigkeiten, seine Gedanken in Worte zu fassen. Denn seine Gedanken wollen schneller ausgesprochen werden, als Kalmann dazu in der Lage ist. Daher steht er auch nicht gern im Mittelpunkt.
Am wohlsten fühlt sich Kalmann, wenn sein Leben in geregelten Bahnen verläuft. Er ist ein Gewohnheitsmensch, wobei ihm seine Gewohnheiten den nötigen Halt geben, um mit seinen kindlichen Denkstrukturen in einer komplizierten Welt bestehen zu können. 
Sobald er in Situationen gerät, mit denen er nicht umgehen kann, wird er wütend. Diese Wut hat er leider nicht immer unter Kontrolle.
Die Menschen in Raufarhövn akzeptieren ihn jedoch so, wie er ist. Er ist ein fester Bestandteil der Dorfgemeinschaft. 

Und eines Tages passiert genau das, was nicht passieren darf. Ein wichtiges Mitglied der Dorfgemeinschaft wird vermisst. Die Blutlache, über die Kalmann stolpert, ist zunächst die einzige Spur, die es gibt. Und damit wird das Leben von Kalmann auf den Kopf gestellt.
"Wenn man die Person ist, die eine Leiche oder deren Überreste findet, und sei es auch nur eine Pfütze Blut, hat man etwas mit der Sache zu tun." 
Der Roman "Kalmann" scheint ein Krimi mit einem ganz besonderen Ermittler zu sein. Zumindest deutet Kalmanns Funktion als Dorfsheriff darauf hin. Tatsächlich spielt unser Held eine untergeordnete Rolle bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Er ist nur derjenige, der ungewollt in den Mittelpunkt des Interesses von Polizei und Medien rückt. Die Suche nach dem Vermissten ist auch nur ein Aspekt dieses Buches, der zugegebenermaßen für Spannung sorgt, aber nicht den Reiz dieses Romans ausmacht.

Denn der Reiz dieses Buches liegt in dem Schauplatz der Handlung. Der Roman vermittelt ein großes Stück Landeskunde über Island, einem Land, das irgendwo am nördlichen Rand von Europa liegt, aber genauso gut das Ende der Welt darstellen könnte (geografisch betrachtet!). In Island scheinen die Uhren anders zu schlagen als für den Rest der Welt. Der Autor Joachim B. Schmidt, ein gebürtiger Schweizer, ist vor vielen Jahren nach Island ausgewandert. In "Kalmann" bringt er seine Erfahrungen und Eindrücke über dieses Land in geballter Form unter. Dabei entwickelt sich dieser Roman zu einem Quell unerschöpflichen Wissens, was isländische Landeskunde angeht. Dieses Wissen vermittelt der Autor auf sehr unterhaltsame und humorvolle Weise. Seine Schilderungen der isländischen Eigenheiten verursachen Staunen und machen definitiv neugierig auf dieses Land. Man wundert sich, was für ein besonderes Völkchen die Isländer sind, was sich sicherlich nicht nur an den eigenartigen Essgewohnheiten (s. Gammelhai) festmachen lässt.

Am Ende des Romans wird der Vermisstenfall übrigens aufgeklärt. Keine Frage, dass Kalmann einen großen Anteil an der Lösung des Falls hat. Unser Held, mit der Seele eines Kindes, wächst am Ende über sich hinaus und überrascht alle. Ein schöneres Ende eines Romans kann man sich kaum vorstellen.

Mein Fazit:
Der Roman hat mich verzaubert. Durch den besonderen Helden Kalmann und den Schauplatz Island habe ich eine Geschichte gelesen, die sich schwer mit anderen Krimis, Heldengeschichten oder was auch immer vergleichen lässt. "Kalmann" ist einzigartig - sowohl der Held als auch der Roman.

Leseempfehlung!

© Renie