Mittwoch, 15. April 2020

Antonio Moresco: Das kleine Licht

Quelle: Pixabay/Sonyuser

Ich kenne niemanden, der die Geschichte "Der kleine Prinz" von Antoine de St. Exupéry nicht mag. Spätestens bei dem Satz "Zeichne mir ein Schaf" bekommen die meisten einen verklärten Gesichtsausdruck vor lauter Rührung. Daher sind Titel und Buchbeschreibung von Antonio Morescos Roman "Das kleine Licht" für mich ein echter Marketing-Coup. Denn jedem, der von "Der kleine Prinz" angefixt wurde, wird auch dieses Buch ins Auge stechen. Titel und Buchbeschreibung sorgen dafür.
In "Das kleine Licht" lebt ein namenloser Ich-Erzähler in völliger Einsamkeit in einem verlassenen Bergdorf. Nachts beobachtet er auf der anderen Seite des Tals ein einzelnes Licht, dass jede Nacht zur selben Zeit angeht und die ganze Nacht brennt. Tagsüber erkennt der Mann auf die Entfernung, dass das Licht aus einer einzelnen Hütte inmitten der Wälder am gegenüberliegenden Berghang kommen muss. Den Mann, der die Einsamkeit gesucht und nicht erwartet hat, dass außer ihm menschliches Leben in den Bergwäldern existiert, lässt das Geheimnis um das Licht nicht los. Irgendwann macht er sich auf den Weg zu dieser Hütte. Er findet einen kleinen Jungen, der hier allein lebt und jede Nacht dieses Licht anzündet.
"Kein einziges Anzeichen menschlichen Lebens.
Erst als das Dunkel noch dicher wird und die ersten Sterne hell werden, scheint auf der anderen Seite der engen, steil abfallenden Schlucht auf einem flacheren, wie ein Sattel mitten in die Wälder eingegrabenen Stück des Bergzugs gegenüber jede Nacht, jede Nacht und immer zur gleichen Zeit unversehens ein kleines Licht auf."
An dieser Stelle endet jedoch die Ähnlichkeit zu "Der kleine Prinz". Denn ein Autor eines Kalibers von Antonio Moresco schreibt nun mal keinen Abklatsch. Und das ist gut so.

Der Roman erinnert an eine Dystopie. Wir erleben Zerstörung und Verfall. Die Orte sind verlassen, die Natur holt sich ihren Platz zurück. Die wenigen Menschen, mit denen der Ich-Erzähler in Berührung kommt, sind verwahrlost und scheinen ums Überleben zu kämpfen. Die Landschaft wird von Erdstößen heimgesucht. Unzählige Fragen tauchen auf, auf die es keine Antwort gibt: wer ist der Ich-Erzähler? Warum lebt er hier? Was ist die Ursache für den Verfall seiner Umgebung?
Und natürlich stellt sich die Frage, wie der kleine Junge in die einsame Hütte gekommen ist, ob sich jemand um ihn kümmert, und wie er allein zurechtkommt.

Gemeinsam mit dem Ich-Erzähler begibt man sich auf die Suche nach Antworten. Und dabei zieht man gedankliche Kreise, die sich zunächst um den kleinen Jungen in seiner Hütte drehen, aber dann immer größer werden und sich schließlich mit dem menschlichen Sein auseinandersetzen. Nun muss man wissen, dass der Autor in seiner Heimat und darüber hinaus bekannt dafür ist, sich in seinen Büchern, mit existenziellen Fragen zu beschäftigen. In "Das kleine Licht" thematisiert er den Kreislauf des Lebens, wobei Moresco die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen lässt. Das hört sich kompliziert, vielleicht abgehoben an. Aber wenn man Moresco liest, muss man sich darüber im Klaren sein, dass der Autor seine Leser zu gedanklichen Höchstleistungen herausfordert. Versüßt wird der gedankliche Kraftakt durch Morescos mikroskopische Sprache. Dabei lässt er Bilder entstehen, die an Präzision nicht zu überbieten sind und tatsächlich an einen Blick durch ein Vergrößerungsglas erinnern.
"Unentwegt sterben sie und entstehen sie neu und sterben sie wieder, jedes Ding in seinem eigenen Kreis des erschaffenen Schmerzes. Ihre Pflanzenzellen fahren fort, schweigend und verzweifelt zu kämpfen und sich zu vermehren und sich zu vervielfältigen, und so werden sie es weiterhin tun, auch wenn es die Menschen nicht mehr geben wird, wenn sie vom Angesicht dieses kleinen, in den Galaxien verlorenen Planeten verschwunden sein werden, es wird nur noch diese Drangsal der Zellen geben, die kämpfen und sich fortpflanzen, solange noch ein wenig Licht von unserem kleinen Stern ausgehen wird." 
Fazit:
Es ist nicht einfach, diesen Roman zu beschreiben. Die Geschichte wird mich durch ihre Rätselhaftigkeit noch eine Weile beschäftigen. Am Ende schwanke ich zwischen Ratlosigkeit und Faszination über die Einzigartigkeit dieser Geschichte. Denn eines ist sicher. Etwas Vergleichbares habe ich bisher noch nicht gelesen.

© Renie