Sonntag, 24. November 2019

André de Richaud: Der Schmerz

Quelle: Pixabay/Fruehlingswiese
Bei der Suche nach Hintergrundinformationen zu dem Buch "Der Schmerz" des Franzosen André de Richaud  bin ich über eine gewagte Aussage gestolpert: Scheinbar war dieses Werk der Grund dafür, dass  Albert Camus Schriftsteller wurde. Man mag es glauben oder nicht. Aber meine Neugier auf diesen besonderen Roman war geweckt.
Die Zeitgenossen Camus und de Richaud waren etwa gleich alt. Beide kamen aus der Provence. Und beide waren Schriftsteller. Wurde Camus zu Lebzeiten als Schriftsteller gefeiert - 1957 erhielt er den Nobelpreis für Literatur -, musste de Richaud zeitlebens mit der Missachtung seines schriftstellerischen Könnens zurechtkommen. Erst heute, etwa 50 Jahre nach seinem Tod, findet de Richauds Werk nach und nach Beachtung. Besser spät als nie. Denn wer "Der Schmerz" gelesen hat, wundert sich nicht, warum Camus hier seine Inspiration gefunden hat.

De Richauds Roman führt uns in ein französisches Dorf in der Provence, zur Zeit des 1. Weltkrieges. Die Männer mussten in den Krieg ziehen. Der Alltag zuhause wurde von Frauen, Kindern und Alten bestimmt. In diesem Dorf lebt die Kriegswitwe Thérèse Delombre zusammen mit ihrem kleinen Sohn Georget. Sie hat eine Sonderstellung in dem Dorf, war sie doch mit dem Dorfadeligen verheiratet. Als Frau einfacher Verhältnisse hat sie mit ihm eine gute Partie gemacht. Nun ist er tot. Der Krieg war für ihn schnell vorbei, sein Leben somit leider auch.
Quelle: Dörlemann
"Selbst in den Furchen der vernachlässigten Felder schienen sich mehr Steine anzusammeln. Waren auch sie aus Angst vor dem Kanonenfeuer in dieses milde, sonnige Land gekommen? Wer weiß. Jedenfalls bemächtigten sich hier nach und nach Pflanzen, Vögel und Steine des männerverlassenen Dorfes, während sich an der Front alle der neuesten Mittel bedienten, die der menschliche Erfindergeist hervorgebracht hatte."
Die verwitwete Thérèse widmet nun all ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung ihrem kleinen Sohn. Als Witwe eines Adeligen genießt sie den Respekt der Dorfbewohner - noch, muss man leider sagen.
Thérèse fühlt sich einsam. Sie ist eine Frau, die mitten im Leben steht,  und ihr fehlen Liebe und Romantik. So überschüttet sie Georget mit Zärtlichkeiten, die sie an anderer Stelle nicht loswerden kann. Bis zu dem Moment, wo sie sich auf einen deutschen Kriegsgefangenen einlässt. Die beiden haben eine Liebesaffäre. Die Verbindung ähnelt einer Zweckgemeinschaft. Das Körperliche steht im Vordergrund, Gefühle werden vorgegaukelt. Zumindest Thérèse glaubt eine Zeitlang an die Aufrichtigkeit dieser Gefühle.
Georget ist auf einmal das dritte Rad am Wagen. Er vermisst seine Monopolstellung im Gefühlsleben seiner Mutter, was ihm allerdings nicht wirklich bewusst ist.

Und eines Tages passiert das, was passieren muss: Das Geheimnis um die Liebesaffäre zwischen Thérèse und dem Deutschen wird aufgedeckt. Vergessen ist der Sonderstatus, den Thérèse als angeheiratete Adelige im Dorf hat. Denn sie hat sich mit dem Feind eingelassen. Eine Todsünde. Und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.
"Er kannte kein anderes Gesicht als das seiner Mutter, das oft vor Tränen glänzte, er liebte die Einsamkeit und stille Spiele. An der Gesellschaft gleichaltriger Jungen fand er keinen Gefallen, vergnügte sich stundenlang mit Bändern und Spitze und fuhr sich genüsslich mit der Zunge über die Lippen, wenn seine kleinen, stets sauberen Hände über Samt und Seide glitten. Gewiss hätte der Hauptmann, wenn er ihn so gesehen hätte mit gesenktem Blick, die Augen bereits dunkel vor Besorgnis, gegen die Mütter gewettert, die ihre Söhne zu mädchenhafter Schüchternheit erziehen. Aber der Hauptmann war im Krieg gefallen, und seine Frau machte in diesem Moment zu ihrer eigenen Freude und ihrer eigenen Qual, den Buben, den er ihr geschenkt hatte, zum Ebenbild ihres eigenen ruhelosen und verstörten Wesens."
Die Besonderheit an diesem Roman ist das Zusammenspiel zwischen den beiden Protagonisten Thérèse und Söhnchen Georget.
Thérèse ist eine Mutter, die ihrer Mutterrolle entweder zu sehr oder gar nicht gerecht wird. Anfangs überhäuft sie Georget mit ihrer Liebe. Sie trifft bewusst die Entscheidung, die Liebe, die sie einem Mann nicht geben kann, auf Georget zu übertragen. Das ist pervers. Sie verzärtelt ihren Sohn, sie bindet ihn an sich, sie vereinnahmt ihn komplett. Sie wird sogar eifersüchtig, wenn sie seine Zuneigung plötzlich mit anderen Menschen teilen muss. Natürlich kann Georget ihr nicht das geben, was ihr ein erwachsener Mann geben kann. Und als der deutsche Kriegsgefangene auftaucht, ist Georget abgeschrieben. Thérèses Muttersein reduziert sich plötzlich auf ein notwendiges Mindestmaß. Sie ist auf einmal nicht mehr Georgets Vertraute. Und auch er muss lernen, Zuneigung zu teilen. Aber als Sohn seiner Mutter kommt er mit dieser Situation nicht zurecht. Als Kind versteht er auch noch nicht genau, was gerade passiert. Er ahnt jedoch, dass das Verhalten seiner Mutter nicht angemessen ist und gegen den dörflichen Kodex von Sitte und Moral verstößt.
"Thérèse Delombre ahnte, dass er ihr bei der ersten Verfehlung ein erbarmungsloser und grausamer Richter sein würde und spürte zugleich, dass sie am Rande eines Abgrunds stand."
Die Dorfgemeinschaft ist die Hüterin von Sitte und Anstand. Bemerkenswert ist die feindselige Stimmung, die in diesem Dorf vorherrscht. Fast scheint es, dass die Dorfbewohner darauf lauern, dass ein Skandal eintritt, der sie berechtigt, sich als moralische Instanzen hervorzutun. Als alleinstehende Frau hat Thérèse keine Chance. Da ist jeder Fehltritt ein gefundenes Fressen. Und wenn dann noch Neid ins Spiel kommt, ob der gesellschaftlichen Stellung von Thérèse ist die Schadenfreude nicht weit, natürlich unter dem Deckmantel der Moral.

De Richaud lässt kein gutes Haar an seinen Charakteren. Die Menschen im Dorf sind scheinheilig. Thérèse strotzt nur so vor Egoismus und Einfältigkeit. Sie versagt völlig in ihrer Verantwortung ihrem Kind gegenüber. Georget entwickelt einen ähnlichen Egoismus wie seine Mutter. Einzig ihm kann man noch ein wenig Mitleid entgegenbringen, ist er doch das Opfer seiner Erziehung.

Bleibt noch der unglaubliche Sprachstil von De Richaud zu erwähnen, dessen Poetik, insbesondere, was die Beschreibung der Natur, Umgebung und Stimmungen angeht, verzaubert. Er lässt Bilder im Kopf entstehen, die die menschlichen Abgründe, die man beim Lesen entdeckt, dann doch nicht gar so tief erscheinen lassen. Faszinierend!

Leseempfehlung!

© Renie