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Die Novelle "Flugfedern" von Simone Regina Adams wird in meinem Buchregal einen besonderen Platz erhalten. Denn dieses Buch ist ein echter Leseschatz. Mit gerade mal 160 Seiten und einem sehr reduzierten Cover kam es in aller Bescheidenheit daher. Doch schon nach den ersten Sätzen fiel mir die Kinnlade herunter, ob soviel gefühlvoller Ausdruckskraft. Bevor ich hier weiter schwelge:
Thibault, ein junger Mann, französischer Abstammung, wird Zeuge einer Vergewaltigung. Er nimmt das verstörte Opfer Sophie zunächst mit zu sich nach Hause. Er lebt mit seiner Großmutter Mémé allein auf einem Hof in einem kleinen Ort in Süddeutschland. Sophie wird einige Zeit hier leben. Thibault wird sich in Sophie verlieben. Scheinbar erwidert sie seine Gefühle. Doch nach einiger Zeit wird sie fürs Erste aus seinem Leben verschwinden. Es wird nicht bei diesem einen Mal bleiben. Denn Thibault spürt sie auf und sie kehrt zunächst wieder zu ihm zurück.
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Insgesamt werden die beiden über mehrere Jahre zusammen und wieder getrennt sein. Später in seinem Leben - Thibault ist mittlerweile mit Helene verheiratet, beide haben ein Kind - wird Thibault ein Schreiben von Sophie erhalten, in dem sie ihn wieder um ein Treffen bittet.
"Warum? Warum jetzt, nach all den Jahren?"
Die Geschichte ist unspektakulär - abgesehen von den ersten Seiten. Was dieses Buch jedoch so faszinierend macht, sind Aufbau und Sprachstil.
Der Anfang behandelt die Zeit nach der Vergewaltigungsszene. Drei Menschen leben auf einem Hof: Großmutter Mémé, Thibault und Sophie. Anhand der Erinnerungen von Mémé und Thibault, die die ersten Kapitel dieser Novelle bestimmen, kann man sich ein gestochen scharfes Bild der Lebenswege von Großmutter und Enkel machen. Einzig Sophie bleibt profillos. Sie ist die große Unbekannte in dieser Dreier-Konstellation. Selbst Thibault schafft es nicht, die Persönlichkeit von Sophie zu fassen, was umso erstaunlicher ist, da er bis über beide Ohren in sie verliebt ist. Was liebt er also an ihr?
Die Antwort auf diese Frage schafft ganz viel Interpretationsansätze. Daher lässt sich zurecht behaupten, dass dieses kleine Büchlein den Leser intensiv beschäftigen wird.
"Ein Wesen, dachte Thibault, das gesehen und gleichzeitig nicht gesehen werden will. Und nun wurde auch das zu einem der vielen Bilder von Sophie. ... So, wie der Engel, der sein Gesicht in den Handflächen verbarg - und dabei zwischen den Fingern herausschaute. Der sich versteckte und sich dennoch so offensichtlich danach sehnte, dass man ihn sah. In all seiner Hoffnung und in all seiner Angst, erkannt zu werden."
Anhand großer Zeitsprünge betrachtet man die Entwicklung des Protagonisten Thibault. War er zunächst noch der junge schüchterne Mann, den der Zufall mit einer großen Liebe beschert hat, ist er im nächsten Moment Ehemann und Vater, der nicht mehr viel gemein hat, mit seinem früheren Leben. Er ist beruflich vorwärtsgekommen. Er ist reifer und selbstbewusster. Thibault ist ein völlig anderer Mensch. Und doch kommt er von seiner Vergangenheit mit Sophie nicht los.
Die Novelle wird in sehr leisen Tönen erzählt. Die Symbolik vieler Sätze, die einem immer und immer wieder begegnet, stimmt nachdenklich. Der Sprachstil von Simone Regina Adams strahlt dabei sehr viel Zärtlichkeit aus, so dass nahezu jeder Satz tief unter die Haut geht.
Fazit:
Ein Leseschatz! Gefühlvoll, zärtlich, faszinierend und tief berührend.
Leseempfehlung!
© Renie