Donnerstag, 26. April 2018

Kent Haruf: Lied der Weite

Quelle: Pixabay/skeeze
Holt, Great Plains, Colorado - eine fiktive Kleinstadt mit allen Bosheiten, Antipathien und Auseinandersetzungen, aber auch Freundschaften, Nettigkeiten und Geborgenheit, die das Zusammenleben von Menschen mit sich bringt. Holt ist der Schauplatz des Romanes "Lied der Weite" von Kent Haruf, erstmalig erschienen im Jahr 1999 und jetzt von Diogenes wieder entdeckt. 

Die Geschichte spielt in den 60er Jahren und wird in mehreren Handlungssträngen erzählt. Zum Einen ist da die 17-jährige Victoria Roubideaux. Das Mädchen ist schwanger und wird daher von ihrer lieblosen Mutter vor die Tür gesetzt wird. Victoria will das Kind behalten und sucht Hilfe bei der Lehrerin Maggie Jones. Sie bringt Victoria bei den beiden Mc Pheron-Brüdern unter. Die Brüder haben ihr ganzes langes Leben miteinander verbracht. Sie betreiben eine Rinderfarm, sind am liebsten gemeinsam einsam und leben zusammen wie ein altes Ehepaar. Sie sind nicht gewohnt, Fremde um sich zu haben. Nach anfänglichen Bedenken, eine schwangere 17-Jährige bei sich wohnen zu lassen, willigen sie schließlich doch ein. Victoria zieht bei den Männern ein, und die Drei raufen sich mit der Zeit zusammen, gewöhnen sich aneinander, so dass sie am Ende das Zusammenleben nicht mehr missen wollen.
"Die beiden sind so gutherzig, wie Männer überhaupt nur sein können. Sie sind vielleicht schroff und ungehobelt, aber das hat nichts zu bedeuten, es liegt nur daran, dass sie schon so lange allein sind. Stell dir vor, du müsstest ein halbes Jahrhundert allein leben, so wie sie. Das würde nicht spurlos an dir vorübergehen. Lass dich also von ihrer rauhbeinigen Art nicht abschrecken. Ja, sie haben ihre Ecken und Kanten. Die sind eben nie geglättet worden." (S. 156)
Quelle: Diogenes
Maggie ist die Kollegin von Tom Guthrie, der mit seinen beiden Jungs, 9 und 10 Jahre, ebenfalls in Holt lebt. Seine Ehefrau, die man anfangs als seelisch angeschlagene Person kennenlernt, verlässt ihre Familie und zieht nach Denver. Das Zusammenleben zwischen den beiden Eheleuten scheint nicht zu funktionieren. Kent Haruf rückt leider nicht mit den Hintergründen zu den Problemen der Eheleute heraus. Die beiden Jungs halten zusammen wie Pech und Schwefel. Auch wenn sie ihre Mutter vermissen, versuchen sie an den Alltagsroutinen festzuhalten. Jeden Morgen Zeitungen austragen, danach Schule, nachmittags die Tiere zuhause füttern. Kindsein in Holt scheint nicht leicht zu sein. Es gibt Erwachsene, die behandeln die Kinder sehr verächtlich und spielen ihre angebliche Überlegenheit aus. Den beiden Jungs steht ihre gute Erziehung im Weg, um sich gegen diese Erwachsenen zur Wehr zu setzen. Glücklicherweise gibt es auch Mitbewohner in Holt, die den Kindern sehr wohlwollend begegnen und sie ernst nehmen.
Der Vater Tom hat neben den Mühen, seinen Kindern ein ansprechendes Zuhause zu bieten, Probleme an seiner Arbeitsstätte. Er gerät mit einem Schüler aneinander, der die schwangere Victoria (hier schließt sich der Kreis wieder) gemobbt hat. Am Ende erntet der Schüler einen Schulverweis, was wiederum dessen Eltern auf den Plan ruft, die im Übrigen ein identisches asoziales Verhalten zeigen wie ihr Sproß. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
"Sie sah sich um. Häuser und kahle Bäume. Sie ließ sich in der Kälte auf den Verandaboden sinken, lehnte den Rücken an die kalten Bretter der Hauswand. Ihr war, als verflüchtigte sie sich, als wanderte sie ziellos umher in kummervoller, ungläubiger Benommenheit. Sie schluchzte ein wenig. Sie starrte zu den stillen Bäumen hinaus, auf die dunkle Straße, zu den Häusern gegenüber, in denen sich Menschen in den hellen Zimmern ganz normal bewegten, und wenn der Wind seufzte, wanderte ihr Blick hinauf in die schwankenden Bäume. Sie saß da, schaute hinaus, rührte sich nicht." (S. 41)
Auch wenn es sich durch die gerade geschilderten Schicksale vielleicht nicht so anhören mag, aber das Leben in Holt ist unaufgeregt. Wahrscheinlich sind die persönlichen Dramen, das Einzige, was in Holt für Abwechslung sorgt. Ein unaufgeregtes Kleinstadtleben wird von Kent Haruf auch in einem unaufgeregten Sprachstil geschildert. Seine Sprache strahlt sehr viel Ruhe aus - keine einschläfernde Ruhe, sondern eine wohlige Ruhe, die einen melancholisch macht und ganz warm ums Herz werden lässt.

Da sich während der Lektüre viele Fragen zu den Charakteren auftun, die jedoch nur selten beantwortet werden, verlangt dieses Buch nach einer Fortsetzung, in der die Unklarheiten hoffentlich bereinigt werden. Und siehe da, die Fortsetzung ist vom Verlag bereits für Januar 2019 angekündigt. Ich bin gespannt.

Eine Anmerkung noch zum Titel: Ich habe mich gefragt, wie man solch ein wundervolles Buch mit einem kitschigen Titel versehen kann und habe ein wenig recherchiert: "Lied der Weite" kommt in die Nähe der Übersetzung des Original-Titels "Plainsong" (wenn man die wortwörtliche Übersetzung zugrunde legt), wobei "plain" als Substantiv "Ebene" oder "Flachland" bedeutet. "Plainsong" ist jedoch auch ein musikalisch-religiöser Begriff und bedeutet "Cantus Planus" (= ebener Gesang, lat.), was im Zusammenhang mit diesem Buch passender erscheint. Ein Cantus Planus ist ein gregorianischer einstimmiger Choral, der rhythmisch gleichförmig vorgetragen wird; Gleichförmigkeit bedeutet Unaufgeregtheit - genau das Merkmal, welches ich in diesem Buch so genossen habe, und welches sich hoffentlich auch im kommenden Roman um die Bewohner des Städtchens Holt wiederfinden wird.

© Renie





Über den Autor:
Kent Haruf (1943–2014) war ein amerikanischer Schriftsteller. Alle seine sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado. Er wurde unter anderem mit dem Whiting Foundation Writers’ Award, dem Wallace Stegner Award und dem Mountains & Plains Booksellers Award (für ›Lied der Weite‹) ausgezeichnet. Sein letzter Roman, ›Unsere Seelen bei Nacht‹, wurde zum Bestseller und mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen verfilmt. (Quelle: Diogenes)


Den ersten Teil aus der Holt-Trilogie habe ich ebenfalls gelesen: Unsere Seelen bei Nacht ...