Quelle: Pixabay/eommina |
Norwegen war in diesem Jahr das Partnerland der Frankfurter Buchmesse. Wie zu erwarten ist der Buchmarkt daher mit vielen Veröffentlichungen norwegischer Autoren geflutet worden. Viele haben gejubelt. Ich nicht. Denn ich werde mit der norwegischen Literatur einfach nicht warm. Und ich versuche es seit Jahren. So auch in diesem mal wieder. Nach mehreren Enttäuschungen bzw. mittelmäßigen Leseerlebnissen, bin ich nun endlich auf den einen Roman gestoßen, der mich mit allem versöhnt, was ich bisher aus Norwegen gelesen habe. Mein persönlicher Gral unter den modernen norwegischen Romanen ist für mich "Eine moderne Familie" von Helga Flatland.
Dieser Roman ist weder reißerisch noch spektakulär, weder spannend, noch beschäftigt er sich mit abstrusen Problemen der Protagonisten, die fernab jeglicher Realität sind (die Probleme, nicht die Protagonisten).
Nein, er ist wohltuend unspektakulär. Ein Roman, der aus dem Leben gegriffen ist. Denn hier geht es um - wie der Buchtitel schon sagt - eine modernen Familie.
Wobei ... einen spektakulären Aspekt gibt es: gleich am Anfang eröffnen die, seit über 40 Jahren verheirateten Eltern ihren erwachsenen Kindern bei einem gemeinsamen Urlaub anlässlich des 70. Geburtstags des Vaters, dass sie sich trennen werden.
"'Es ist eine wohlüberlegte Entscheidung. Wir haben beide ein Gefühl von Leere, daß wir aus einander und aus dieser Ehe alles herausgeholt haben, was möglich war. ... Wir sehen im anderen keine Zukunft mehr.'"
Quelle: Weidle |
Der Roman beginnt also mit einem Paukenschlag. Nun sollte man meinen, dass mit dem, was folgt, genüsslich auf die Ehe der beiden Eltern eingegangen wird bzw. auf die Entwicklung der Beziehung des Ehepaares. Schließlich will man doch wissen, was die Beiden dazu getrieben hat, ihre 40-jährige Ehe ad acta zu legen. Jeder andere Familienroman hätte sich mit der Beantwortung dieser Frage befasst. Amerikanische Autoren sind z. B. ganz groß in der Abhandlung dieser Thematik. Aber die Norwegerin Helga Flatland konzentriert sich in dem, was nach dem Paukenschlag kommt, auf die anderen Familienmitglieder: Zwei Töchter, Liv und Ellen sowie Håkon, der Sohn. Hier geht es also um die "Scheidungskinder" - auch wenn diese schon erwachsen sind und eigene Familie bzw. Partner haben.
Diese drei Charaktere gehen unterschiedlich mit der Ankündigung ihrer Eltern um.
Liv, die Älteste, selbst Mutter von 2 Kindern, glücklich verheiratet, kommt am wenigsten damit zurecht. Sie empfindet die Trennung ihrer Eltern als persönlichen Angriff auf ihr eigenes Lebensmodell, welches sie dem ihrer Eltern nachempfunden hat: Die Familie steht im Mittelpunkt des Lebens und gibt gleichzeitig den Rahmen vor, innerhalb dessen man sein Leben gestaltet.
"'Wir hören nicht auf, ohne es zu Ende zu bringen, wie viele Male habt ihr nicht Varianten dieses Ausspruchs von sowohl Mama als auch Papa gehört? Aber selbst geben sie einfach auf, auf der Zielgeraden - schmeißen alles über Bord, wofür sie gestanden haben, was sie gepredigt und hervorgebracht haben. Doch, das ist falsch, und es ist ein Verrat an uns, die wir sie ernst genommen haben, die zugehört und tatsächlich versucht haben, nach den Werten, die sie uns ständig einbleuten, zu leben.'"
Ellen hingegen reagiert mit Unverständnis und Zorn. Doch eigentlich ist sie zornig auf sich selbst, da sie als Frau versagt (ihre Gedanken). Denn Ellen versucht mit ihrem Lebensgefährten Nachwuchs zu bekommen. Scheinbar strebt sie ebenfalls das Lebensmodell ihrer Eltern an. Sie scheint aus ihrer Erziehung mitgenommen zu haben, dass zum Leben Kinder dazugehören bzw. Kinder erst eine Beziehung komplett machen. Dass ihre Beziehung zu ihrem Partner kinderlos bleibt, empfindet sie als persönliches Versagen. Dieser Gedanke zerrüttet sie. Obwohl Ellen eine moderne und selbstbewusste Frau ist, nimmt sie es als selbstverständlich, dass frau sich hautsächlich über die Mutterrolle definiert.
Dann haben wir noch den "Kleinen", Håkon, der eine monogame Partnerschaft ablehnt und sich dem traditionellen Familienbild gegenüber verweigert. Er will sich nicht binden, denn eine Bindung versteht er als Fremdbestimmung, die seinen Freigeist einschränkt. Er ist quasi der Hippie-Typ, der freie Liebe und Selbstverwirklichung predigt.
Der Roman behandelt die Jahre nach der unglaublichen Veröffentlichung der Eltern und konzentriert sich dabei auf die Kinder, die sich langsam mit der Trennung ihrer Eltern arrangieren.
Die Erzählperspektiven wechseln innerhalb der drei Kinder. Dadurch gewinnen wir einen Eindruck, wie unterschiedlich man "Familie" betrachten kann.
Die drei Charaktere versuchen, ihren eigenen Begriff von Familie zu leben: Liv, die als Muttertier nach Perfektion strebt; Ellen, die unbedingt Muttertier sein möchte; Håkon, der sich selbst als Familie genug ist. Ob alles so läuft, wie sie es sich vorstellen? Wohl kaum.
Was mich an dem Buch gefesselt hat, waren die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen man eine Familie betrachten kann. Hier wird das Thema "Familie" von allen Seiten beleuchtet. Soziologisch gesehen ist Familie nicht mehr als eine Lebensgemeinschaft, die auf verwandschaftlichen Verhältnissen beruht. Doch die Realität ist komplexer. Und die drei Trennungskinder dieser Familie zeigen, wie kompliziert "Familie" sein kann, und wie unterschiedlich "Familie" wahrgenommen wird.
Helga Flatland spricht mir, einem Familienmenschen, damit aus der Seele und macht diesen Roman zu einem sehr persönlichen Roman. Ich bin begeistert!
© Renie