Donnerstag, 30. Juli 2020

Ellen Sandberg: Das Erbe

Arisierung - ein Begriff, der sich von dem unschönen Wörtchen "Arier" ableitet. Ein Synonym für Arisierung ist Entjudung. Diese Begriffe entstammen dem Gedankengut der Nationalsozialisten und bezeichnen "die Verdrängung von Juden und jüdischen Mischlingen aus Handel, Gewerbe, Wohnungen, Häusern und Wissenschaft". 
Damit wären wir auch schon bei dem Kernthema des Romans "Das Erbe" der Bestseller-Autorin Ellen Sandberg. 
Es geht um eine Adresse in München: Elisabethstr. 117. Hier steht das Schwanenhaus, ein prachtvolles Jugendstilhaus, dessen Giebel ein Schwanenpaar ziert. (Ob es dieses Haus tatsächlich gibt oder gegeben hat, ist für die Geschichte nicht relevant). Das Schwanenhaus ist ein Mietshaus mit mehreren Mietparteien. Der Immobilienwert dieses Hauses liegt im 2-stelligen Millionenbereich. 
Die Handlung des Romans setzt im Jahr 2018 ein. Mona, eine der Protagonistinnen dieses Romans, erbt das Schwanenhaus von ihrer Großtante Klara, die Eigentümerin dieses Hauses war und ihr Leben lang hier gewohnt hat. Im hohen Alter von 94 Jahren stirbt Klara. Keiner weiß, warum sie ausgerechnet, Mona das Haus vererbt hat. Denn die Beiden hatten so gut wie keinen Kontakt zueinander. Mona zieht in die Wohnung der verstorbenen Klara und versucht, sich mit ihrem plötzlichen Reichtum zu arrangieren und ein neues Leben aufzubauen. Sie ist nicht der Mensch, dem der Gedanke, Millionärin zu sein, zu Kopf steigt. Sicherlich genießt sie die Vorzüge, die Reichtum mit sich bringt. Dennoch versucht sie, ihre Bodenhaftung nicht zu verlieren. Mona übernimmt Tante Klaras Wohnung mit allem, was die alte Dame während ihres langen Lebens angesammelt hat: Möbel, Hausrat, Unterlagen, etc.. Dabei stößt Mona auf einen Briefwechsel, der auf ein Geheimnis um das Schwanenhaus hindeutet.
"Beim Ausräumen von Klaras Schränken und Schubladen fühlte sie sich gelegentlich wie eine Archäologin, die Schicht um Schicht abtrug und sich so durch die Relikte eines langen Lebens arbeitete. Durch das, was am Ende übrig blieb. Ganz profane Dokumente, wie Steuererklärungen, Rentenbescheide und Arztbriefe. Geschirr, Gläser und sonstiger Hausrat. Bücher und Videofilme. Kleidung, Wäsche und die persönlichen Dinge wie Fotoalben, Briefe und Postkarten."
Ein weiterer Handlungsstrang bringt uns in die Zeit des Nationalsozialismus, der Kriegsjahre sowie der Nachkriegszeit und wird aus der Sicht von Tante Klara erzählt. Diese war in den 30er/40er Jahren ein junges Mädchen und mit der gleichaltrigen Jüdin Mirjam befreundet war. Mirjam lebte mit ihrer Familie ebenfalls im Schwanenhaus. Durch den Nationalsozialismus war die jüdische Familie gezwungen, ihr Zuhause aufzugeben: Mirjam ging ins Ausland. Dennoch haben die beiden Freundinnen Klara und Mirjam nie den Kontakt zueinander verloren. Über Jahre schrieben sie sich Briefe. Einen Teil dieser Briefe findet Mona schließlich in 2018 in dem Nachlass von Tante Klara.
Und schließlich gibt es noch eine dritten Handlungsstrang - ebenfalls in 2018 -, der anfangs nicht zu den beiden Bisherigen passen will. Wir begegnen Sabine, Mutter von 2 mittlerweile erwachsenen Kindern und Hartz-IV-Empfängerin. Sie träumt davon, irgendwann einmal ein Leben in Saus und Braus führen zu können. Protzige Klamotten, dicke Autos und Luxus-Reisen stehen dabei an vorderster Traumfront. Ellen Sandberg bedient sich bei der Darstellung von Sabine vermutlich sämtlicher Klischees, die es in Verbindung mit Hartz-IV-Empfängern gibt. 
An diesem Punkt hätte ich mir von der Autorin eine differenziertere Darstellung des Charakters Sabine gewünscht. Aber da das Leserleben bekanntlich kein Wunschkonzert ist, muss man mit dieser Sabine leben, für die man wahrlich keine Sympathien entwickeln kann. Bestenfalls reicht es für Mitleid, mehr lässt die Autorin auch nicht zu. Eine andere Möglichkeit der Reaktion auf die klischeehafte Darstellung des Charakters Sabine wäre natürlich, das Buch abzubrechen. Doch damit würde man sich um das Vergnügen einer hervorragend konstruierten Geschichte bringen. Der Aufbau dieses Romans ist nahezu perfekt. Der Handlungsverlauf ist selten vorhersehbar. Dadurch entwickelt sich eine ungeheure Spannung, die durch diverse Cliffhanger verstärkt wird. Das Zusammenspiel der Charaktere ist sehr ausgefeilt. Selbst, wenn man glaubt, dass man die Rolle eines Protagonisten verstanden hat, wird man eines Besseren belehrt. Denn wie man feststellen wird, spielen einige Charaktere eine Doppelrolle. 
Die Bücher der Bestseller-Autorin Ellen Sandberg sind der Unterhaltungsliteratur zuzuordnen. Das merkt man ihrem sehr gefälligen Sprachstil an, der den Leser geschmeidig durch die Handlung rutschen lässt. Insbesondere Leser, die sich von einem Buch gern durch einen anspruchsvollen Sprachstil begeistern lassen, werden hier nicht auf ihre Kosten kommen. Bei "Das Erbe" ist jedoch nicht entscheidend, wie Frau Sandberg die Geschichte erzählt, sondern das, was sie zu erzählen hat.   Frau Sandberg bringt dem Leser das Thema "Arisierung" sehr informativ in einer unglaublich fesselnden Geschichte näher und macht somit ihren Roman "Das Erbe" zu dem, was er ist: Unterhaltungsliteratur auf hohem Niveau.

© Renie


Sonntag, 19. Juli 2020

Ulf Schiewe: Die Kinder von Nebra

Quelle: Pixabay
Nebra ist ein kleiner Ort in Sachsen-Anhalt mit gerade mal etwas über 3.200 Einwohnern. Also absolut verständlich, wenn man diesen Ort nicht kennt. Doch Nebra ist wie aus heiterem Himmel zu archäologischer Berühmtheit gelangt. Denn hier wurde 1999 ein archäologischer Schatz entdeckt, der sich erst im Nachhinein als Sensationsfund herausstellte: Die Himmelsscheibe von Nebra. Diese Scheibe aus Bronze und Gold gilt als die früheste bekannte Himmelsdarstellung in der Geschichte der Menschheit. Ihr Alter wird auf etwa 4000 Jahre geschätzt. Dafür ist sie noch prima in Schuss, wie viele beeindruckende Darstellungen dieser Scheibe beweisen. Die Himmelsscheibe von Nebra hat demnach in der Bronzezeit ihren Weg zur Menschheit gefunden.
In der Bronzezeit gab es Nebra noch nicht. Sachsen-Anhalt war nicht Sachsen-Anhalt. Und Deutschland war nicht Deutschland. Was die Geographie der damaligen Zeit betraf, darf viel spekuliert werden. Einiges ist überliefert, von dem man sich ein ungefähres Bild der Gegend um das heutige Sachsen-Anhalt machen kann.
In dieser mir völlig fremden, aber dennoch ein Stück weit vertrauten Umgebung spielt der Roman "Die Kinder von Nebra" von Ulf Schiewe. Er erzählt uns die Geschichte dieser Gegend und der Menschen, die dort gelebt haben könnten. Und natürlich erzählt er uns die Geschichte der berühmten Himmelsscheibe von Nebra.
Quelle: Bastei Lübbe
"Bronze ist besonders für Waffen geeignet. Sie ist allerdings auch viel wertvoller als Kupfer, weshalb nur Hauptleute und Anführer der Hundertschaften mit bronzenen Dolchen, Äxten und Stabdolchen ausgestattet sind. Manche Edle besitzen auch bronzene Schwerter. Doch nur wenige Schmiede beherrschen die Kunst, sie herzustellen, denn ein langes Schwert muss hart sein, aber auch biegsam genug, damit es nicht bricht. Einfache Krieger dagegen tragen Kupferäxte, und die Bauern benutzen nicht selten noch Steinbeile. An der Art seiner Waffe oder der Farbe seines Dolchs oder seiner Streitaxt erkennt man so den Stand eines Kriegers." 
Ulf Schiewe schreibt historische Romane. Er webt seine Protagonisten, in spannende Geschichten ein, die sich ganz eng, nahezu deckungsgleich an realen Ereignissen orientieren. Auch seine Charaktere sind häufig real existierende Personen der Historie bzw. denen sehr dicht nachempfunden. Häufig lassen sich Fiktion und Realität kaum auseinanderhalten. Um diesen Wirklichkeitsbezug herzustellen, betreibt Ulf Schiewe einen enormen Rechercheaufwand. Je nachdem, in welcher Zeit seine Romane spielen, machen es ihm die Archive sicherlich leicht, ihn mit Informationen zu versorgen. Doch bei "Die Kinder von Nebra" kann dies nicht der Fall gewesen sein. Man bedenke, die Handlung spielt in der Bronzezeit - einer Ära in der die Schrift noch nicht erfunden war. Die Ausbeute, was Hintergrundinformationen betrifft, war daher sicherlich sehr dürftig. Und mit dem wenigen, was er zur Verfügung hatte, hat Ulf Schiewe eine Geschichte geschrieben, die farbenprächtig und überbordend an menschlichem Miteinander, an Abenteuern, an Religion, an Politik, an Kampf zwischen Gut und Böse, an Mythologie und natürlich an Fantasie ist. Einfach ein großartiger Schmöker!

Zum Inhalt:
In der Zeit vor 4000 Jahren herrschen Clans über die Gegend des heutigen Sachsen-Anhalts. Jeder Clan beansprucht ein Hoheitsgebiet für sich. Herrscher über alle Clans ist Orkon, Anführer der Helminger. Mit Unterstützung und im Namen des Gottes Hador übt er eine Schreckensherrschaft über das Land aus, in dem er die einfachen Leuten - i. d. R. Bauern und Handwerkern - ausbeutet, so dass diese in in Armut leben müssen.
Der Gott Hador gehört einer Gruppe von Göttern an, die ähnlich der uns eher bekannten griechischen Götter, einen Teil des alltäglichen Lebens vertreten und beschützen, bspw. Hella, die Göttin des Herdes und der Familie. Hador ist das schwarze Schaf der Götterfamilie. Eigentlich ist sein Platz in der Unterwelt und dem Totenreich. Wird Hador erzürnt, droht den Menschen Tod, Unwetter oder Pestilenz. Und wer will das schon? Um Hador bei Laune zu halten, werden Menschenopfer erbracht. Orkon, der in Hadors Namen über die Menschen in der Gegend herrscht, manifestiert also seine Schreckensherrschaft, indem er mit dem Zorn Hadors droht. Und die Menschen glauben ihm. Und wenn sie nicht freiwillig glauben wollen, werden sie auf blutige Weise dazu gezwungen.
Aber nicht jeder lässt sich von Orkons Herrschaft einschüchtern.
Rana, ein junges Mädchen aus einem Dorf in der Nähe, Tochter eines Schmieds und einer Priesterin der Göttin Destarte, die für Fruchtbarkeit, Liebe und Magie steht, wird diejenige sein, die den Kampf gegen Orkon und seinen Sohn Arrak, aufnehmen wird. Als Tochter ihrer Mutter wird sie sich ebenfalls zur Priesterin der Destarte weihen lassen. Destarte ist die Gegenspielerin des Gottes Hador. Somit wird es zum Kampf der beiden Glaubensrichtungen kommen. Unterstützung erhält Rana dabei von ihrer Familie und anderen Menschen, die schon lange erkannt haben, dass Orkons Herrschaft die Menschen in dieser Gegend vernichten wird. Bei dem Kampf gegen das Böse wird die Himmelsscheibe von Nebra eine wichtige Rolle spielen. Denn sie steht für die Macht der Göttin Destarte und wird als Symbol der Hoffnung zum Einsatz kommen.
"'Die Götter sind im Grunde unser Spiegelbild, Rana. Oder wir das ihre. Sie sind eitel und schnell beleidigt. Sie streiten sich, sind eifersüchtig und nachtragend. Nicht viel anders als wir Menschen. Nur dass sie unsterblich sind und Macht über uns haben.'"
In diesem Roman ist sehr viel los. Es gibt einen munteren Wechsel in den Erzählperspektiven und diversen Handlungssträngen. Und was mir besonders gut gefallen hat: man weiß zwar, wo die Reise hingehen wird - denn am Ende siegt das Gute über das Böse. Doch der Handlungsverlauf ist selten vorhersehbar. Die Geschichte nimmt Wendungen an, an die man in keinster Weise gedacht hat. Dadurch ist das Spannungsniveau von Anfang bis zum Ende unglaublich hoch.

Hinzu kommt der Eindruck, dass die Geschichte erst gestern geschehen ist. Was ich damit ausdrücken möchte: Ulf Schiewe hat eine Erzählweise gewählt, die mit unserem Sprachgebrauch und der modernen Ausdrucksweise nahezu identisch ist. Man hat nie das Gefühl, dass es sich um eine Geschichte handelt, die vor 4000 Jahren gespielt hat. Darüber bin ich sehr froh. Denn die Bronzezeit ist für uns kaum noch greifbar. Erzählungen, die diese Zeit behandeln, laufen Gefahr, mit dem Fantastischen verwechselt zu werden. In "Die Kinder von Nebra" geschieht dies in keinem Moment.

Und natürlich, wie auch in anderen Romanen von Ulf Schiewe, gibt es einen interessanten Lerneffekt. Denn wer wissen will, wie die Himmelsscheibe von Nebra denn nun zu deuten ist, bekommt hier die Erklärung. Das ist hochinteressant. Netterweise wird in den über 600 Seiten starken Buch mehrfach auf die Erklärung eingegangen, so dass am Ende auch jemand wie ich, der astronomisch nicht ganz auf der Höhe ist, das Prinzip der Himmelsscheibe von Nebra verstehen kann.

Mein Fazit
Meine anfänglichen Bedenken bezüglich des drohenden Fantasycharakters eines Romans, der in der Bronzezeit spielt, hat sich als völliger Blödsinn herausgestellt. Ich habe jede Seite dieses Romans verschlungen und bin begeistert.

Leseempfehlung!

© Renie


Dienstag, 14. Juli 2020

Eshkol Nevo: Die Wahrheit ist

Quelle: Pixabay/steve_a_johnson
"Ein Teil der Dinge, die ich hier preisgebe, ist mir tatsächlich passiert.
Bei einem anderen Teil habe ich Todesangst, dass sie mir passieren könnten.
Für einen weiteren Teil hoffe ich inständig, dass sie mir passieren werden." 

Die ist ein Auszug aus Eshkol Nevos Roman "Die Wahrheit ist", in welchem sich der Autor in einem Online Interview den Fragen seiner Leserschaft stellt.

Ein derartiges Interview kann für den Einen eine Herausforderung sein und für den Anderen eine Zumutung. Der Eine ist in diesem Fall der Leser, Blogger, Journalist o. ä., der krampfhaft auf der Suche nach der ultimativen Frage ist, die diesem Autor noch nie zuvor gestellt wurde; der Andere ist Eshkol Nevo, für den es scheinbar keine Frage gibt, die ihm noch nicht gestellt wurde, und die er nicht bereits schon unzählige Male beantwortet hat.
Dennoch widmet sich der Autor mit einer Engelsgeduld der Beantwortung dieser Fragen, leidet er doch seit geraumer Zeit an einer Schreibblockade, und irgendetwas muss ein Schriftsteller schreiben - Schreiben ist schließlich sein Beruf. Er lässt sich Zeit mit der Beantwortung der Fragen, hangelt sich von Fragestellung zu Fragestellung. Seine Antworten sind selten präzise. In der Regel schweift er ab, nimmt die Fragen zum Anlass, seine Gedanken wandern zu lassen, erinnert sich an Menschen und Episoden seines Lebens, die ihn zu demjenigen gemacht haben, der er heute ist: Ehemann, Vater, Schriftsteller, Israeli, bester Freund.
Quelle: dtv
"Dabei sollte ich dieses Jahr eigentlich einen Roman verfassen. Und schreibe stattdessen Antworten für dieses Interview hier, das auf 'einer Auswahl von Fragen unserer User' basiert, die mir irgendein Onlineredakteur übermittelt hat. Ich hätte auf diese Fragen die üblichen, vorgefertigten Antworten geben sollen - aber stattdessen habe ich angefangen, ehrlich zu antworten. Und was bloß ein Interview und nicht mehr hätte werden sollen, gerät nach und nach - denn offenbar kann ich nicht anders - zu einer Geschichte."
Der Autor antwortet ehrlich? Tatsächlich kann man sich nie sicher sein, ob Eshkol Nevos Gedanken und Erinnerungen der Wahrheit entsprechen. Behauptet er an dieser Stelle, seine Antworten seien ehrlich, weist er jedoch an anderen Stellen darauf hin, dass das, was er erzählt, nicht unbedingt der Wahrheit entspricht, eventuell aber entsprechen könnte.
Ja, was denn jetzt?

Mit diesem Roman präsentiert er sich als ein verletzlicher und an sich selbst zweifelnder Schriftsteller - wenn es denn wahr ist, was er schreibt. Seine Gedanken und Geschichten leuchten den Menschen Eshkol Nevo bis in den letzten Winkel seiner Seele aus. Doch indem er die Möglichkeit offen lässt, dass seine sehr persönlichen Geschichten seiner Fantasie entsprungen sind, schafft er doch noch einen Schutzwall zwischen seinem Innersten und seiner Leserschaft. 

Tatsächlich gibt es Geschichten in diesem Buch, von denen man sich wünscht, dass sie wahr wären. Das kann der beste Freund Ari sein. Hier schildert Nevo eine Freundschaft zwischen zwei Männern, die völlig unterschiedlich sind, aber dennoch Seelenverwandte und im Leben durch Dick und Dünn gegangen sind. Diese Freundschaft ist so intensiv und besonders und wird mit soviel Liebe geschildert, dass man nicht glauben will, dass diese Beziehung nicht der Wahrheit entspricht.
Genauso wie die Liebe des Autors zu seiner Frau Dikla. Die Ehe der beiden ist ein zentrales Thema dieses Romans. Leider steht diese Verbindung auf dem Prüfstand, und der Autor versucht alles, um seine Ehe zu retten.
"Ein intimes Gespräch mit einem dir wirklich nahen Menschen ist in meinen Augen eines der beiden größten Vergnügen, die das Leben zu bieten hat. Aber damit ein solches Gespräch möglich wird, braucht es einen Partner, der es sowohl versteht zuzuhören als auch aus sich herauszugehen; der gleichermaßen ehrlich wie nicht zimperlich ist, der weder vorhersehbar noch bedrohlich ist. Und natürlich braucht es Zeit; beide Seiten müssen genügend Zeit haben, sich in etwas zu vertiefen. Und einen Ort. Der all das ermöglicht. Kurzum, wir reden hier von nicht weniger als einem offensichtlichen Wunder, das nur sehr selten geschieht."
Was auch immer in diesem Buch  der Wahrheit entspricht .... eigentlich spielt es keine Rolle. Denn der Wahrheitsgehalt hat keinen Einfluss auf die Qualität dieses Romans. Eshkol Nevo wird wohl der Schalk im Nacken gesessen haben, als er die Fragen seiner Leserschaft auf seine ganz spezielle Art beantwortet hat und sich daraus ein Roman entwickelt hat, der seine Lebensgeschichte erzählt - oder auch nicht erzählt. Der Autor nimmt sich die Freiheit und veräppelt seine Leserschaft mehr oder weniger offensichtlich, aber immer auf sehr charmante Art. Und als Leser lässt man sich sehr gern veräppeln, wird man doch dafür mit einem sehr vielschichtigen und liebevoll erzählten Roman belohnt.

Leseempfehlung!

© Renie


Sonntag, 5. Juli 2020

Claire Lombardo: Der größte Spaß, den wir je hatten

Quelle: Pixabay / lanben
Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen. (Augustinus Aurelius)

In dem Roman "Der größte Spaß, den wir je hatten" vom Claire Lombardo geht es um die amerikanische Familie Sorenson: die Eltern David und Marilyn - mittlerweile bereits in den 70ern sowie  den 4 erwachsenen Töchtern Wendy, Violet, Liza und Nesthäkchen Grace. Während Wendy, Violet und Liza nur ein paar Jahre auseinanderliegen, ist Grace die Nachzüglerin unter den Schwestern. Den Status der „Kleinen“ konnte sie dabei nie ablegen.
Die Ehe von David und Marilyn war stets vorbildlich für die vier Töchter. Die Messlatte hing unerreichbar hoch, konnten die Töchter mit ihren eigenen Ehen und Familienleben nie an das strahlende Vorbild der Eltern heranreichen.
Quelle: dtv
"'Wir hatten schon wirklich eine gute Kindheit, Wendy. Aber wenn man erwachsen ist, hängt die Latte dann ganz schön beschissen hoch.'"
Wendy war zwar glücklich verheiratet. Doch das Schicksal hat es nicht gut mit ihr gemeint. Ihr Mann starb an Krebs. Die Ehe blieb kinderlos. Wendy bleibt als reiche Witwe zurück, denn ihr Mann war das, was man landläufig eine gute Partie bezeichnet.

Violet kommt mit ihrer Ehe dicht dran an das Ideal von David und Marilyn – oberflächlich betrachtet. Ihr Ehemann ist ein erfolgreicher Anwalt, was der Familie ein Leben in Wohlstand ermöglicht. Die zwei Söhne – beide noch im Kindergartenalter - werden von Muttertier Violet behütet. Sie strebt nach Perfektion bei der Erziehung ihrer Kleinen. Ihre heile Familienwelt bekommt einen Riss, als plötzlich Jonah auftaucht. Der 16-Jährige ist Violets "Unfall" aus ihrer Jugend, aus einer Zeit, als ein Kind nicht zu ihrer Zukunfts- und Karriereplanung passte. Daher gab sie Säugling Jonah am Tag seiner Geburt zur Adoption frei.

Lizas Ehemann ist schwer depressiv. Den lieben langen Tag verbringt er auf der Couch und hadert mit seinem Schicksal. Lizas Job als Unidozentin hält die Beiden finanziell auf der Höhe. Als Liza schwanger wird, hat sie kaum noch die Kraft, ihren antriebslosen Göttergatten weiter zu bemuttern. Er hat genug mit sich selbst zu tun. Da Liza kaum auf Unterstützung von ihrem Ehemann hoffen kann, stellt sich die Frage, wo diese Ehe hinführen soll.

Bei Grace sind weder Ehe noch Beziehung in Sicht. Auch sie hat genug mit sich selbst zu tun. Gilt es doch, die Fassade der jungen Frau, die auf dem besten Weg ist, Karriere zu machen, gegenüber ihren Eltern und ihren Schwestern aufrechtzuerhalten. Doch Grace ist meilenweit von einer beruflichen Karriere entfernt. Ganz im Gegenteil: ohne Collegeausbildung kommt sie eher schlecht als recht über die Runden.

Die Eltern David und Marilyn haben ihren Töchtern immer vorgelebt, wie ein perfektes Ehe- und Familienglück aussieht. Doch man ahnt: es ist nicht alles Gold, was glänzt.
Durch einen häufigen Wechsel der Erzählperspektive und Rückblenden in die Vergangenheit blickt der Leser hinter die Fassade der angeblichen Vorzeigeeltern.
Wir lernen eine Marilyn kennen, bei der sich eine vielversprechende Karriere als Anwältin abzeichnete. Als sie das erste Mal schwanger ist, hängt sie diese an den Nagel. Sie wird ihre Karriere auch nicht wieder aufnehmen, denn kurz nach dem ersten Kind, kündigen sich Kind 2 und Kind 3 an. Zwangsweise widmet sie sich also der Rolle der perfekten Mutter. Doch Anspruch und Wirklichkeit driften sehr weit auseinander. Sie reibt sich in ihrer Mutterrolle auf, was auch Auswirkungen auf das Zusammenleben mit Ehemann David hat.
"Die Ehe, hatte sie gelernt, war ein merkwürdig vergnügliches Machtspiel, ein behutsamer Balanceakt zwischen zwei Egos im Wettstreit und Stimmungen, die nicht miteinander harmonieren. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen im Dienste der Beziehung. Sie trat in den Hintergrund un ließ seinen Stern damit umso heller strahlen. Sie durfte Selbstvertrauen und Freude nur zeigen, um Verzagtheit und Pessimismus auf seiner Seite auszugleichen." 
Claire Lombardo hat mit „Der größte Spaß, den wir je hatten“ einen Familienroman geschrieben, den man auf den ersten Blick der Trivialliteratur zuordnen könnte.
Kein Wunder. Sie schildert das banale Miteinander einer Familie in einem sehr gefälligen und lebhaften Sprachstil. Dabei vermittelt sie den Eindruck eines oberflächlichen Familienklischees, inklusiver harmonischer Abendessen, verständnisvoller Eltern-Kind-Gespräche und konspirativem Zusammenhalt der Schwestern. 
Unter der Oberfläche brodelt es jedoch. Jedes der Familienmitglieder hat mit Problemen zu kämpfen, die sich eigentlich im Familienverbund leichter bewältigen ließen. Doch innerhalb dieser Gemeinschaft scheint jeder mit seinen Problemen allein dastehen zu wollen. Die Töchter müssen schon einiges an Überwindungskraft aufbringen, um sich dem Rest der Familie gegenüber zu öffnen und sich somit die Blöße zu geben, meilenweit von dem Vorbild des perfekten Zusammenlebens, welches die Eltern gestaltet haben, entfernt zu sein.
„Man kann nicht mit ihr, man kann aber auch nicht ohne sie“. Dies ist ein Gedanke, der präzise die Beziehung der Schwestern untereinander beschreibt. Zwischen den Frauen herrscht von klein auf ein unterschwelliger Konkurrenzgedanke, hauptsächlich wenn es um die Gunst der Eltern geht. Eifersucht und schwesterliche Zuneigung wechseln miteinander ab. 
Blickt man also hinter die Fassade von Familienharmonie und Eheglück, entdeckt man Einzelcharaktere, die sich schwer tun, den Familiengedanken von Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung zu leben. Damit grenzt sich die Autorin vom Trivialen ab und bewegt sich auf tiefgründigerem Terrain als es der Sprachstil sowie die Darstellung des oberflächlichem Familienlebens vermuten ließen.

Fazit:
Zugegeben, der Grat zur Trivial-Literatur ist hier sehr sehr schmal, was vor allem an den oberflächlich erscheinenden Charakteren und deren Umgang miteinander liegt. Hier ist es wie im echten Leben: Der erste Eindruck zählt. Und wenn dieser lautet, dass man es mit oberflächlichen Personen zu tun hat, und der Autor diese Gestaltung seiner Charaktere konsequent durchzieht, ist es so gut wie unmöglich, diesen Eindruck zu revidieren. Doch der erste Eindruck ist nicht immer der Richtige. Denn wenn man sich die Mühe macht, hinter die Fassade des heilen Familienlebens zu blicken, wird man mit einer Familiengeschichte belohnt, in der viele Facetten des Zusammenlebens ausgeleuchtet werden und die mich gedanklich sehr beschäftigt haben. Ich habe diesen Roman daher sehr gern und mit großem Vergnügen gelesen – auch wenn 300 Seiten weniger diesen Roman noch besser gemacht hätten ;-)

Leseempfehlung!