Donnerstag, 27. Oktober 2016

Hans Adler: Das Städtchen

Der österreichische Autor Hans Adler (1880 - 1957) versetzt uns mit seinem Roman „Das Städtchen“ in eine Zeit der Backenbärte, Schmerbäuche, Taschenuhren und Zigarrenqualm – zumindest denke ich an solche Dinge, wenn ich mir das Leben in Österreich während der Epoche k.u.k. (Mitte 19. Jahrhundert bis Anfang des 20. Jahrhunderts) vorstelle. Er porträtiert das Leben in einer Kleinstadt und spart dabei nicht mit bissigem Humor. Als Leser sollte man sich jedoch darauf einstellen, dass man mit einem, für unser heutiges Empfinden, ungewöhnlichen Sprachstil konfrontiert wird, der natürlich schon einige Jährchen auf dem Buckel hat – der Roman ist schließlich 1926 geschrieben worden. Die österreichischen Wurzeln des Autors lassen sich sprachlich nicht leugnen. Aber wenn man sich einmal auf diese Sprache eingelassen hat, belohnt dieser Roman mit reichlich satirischem Humor, der in der heutigen Zeit seinesgleichen sucht.

Klappentext:
Herr von Seylatz soll in diesem Nest eine Zwischenstufe in seiner Beamtenkarriere absitzen, aber er hat vor, das beste daraus zu machen. Phantasien von einfachen Kleinstadtmädchen werden wach, und immerhin wohnt auch sein alter Freund Titus Quitek hier, einst ein vielversprechendes Malertalent, jetzt Zeichenlehrer an der hiesigen Realschule. Schon bei der ersten Begegnung wirkt Quitek allerdings merkwürdig unglücklich und zerzaust … Um das Schicksal dieses gescheiterten Künstlers herum tut sich bald ein ganzes Panorama menschlichen Daseins auf. Vom Bürgermeister bis zur Prostituierten: gleichermaßen humorvoll-leichtfüßig wie düster-realistisch verwebt Hans Adler die Leidenschaften und Sehnsüchte, die erotische Gier, die Kaltblütigkeiten und das Durchwursteln aller Schichten dieses Provinzortes. Hans Adler erhielt für dieses Buch 1927 sofort den Künstlerpreis der Stadt Wien. 1947 erschien „Das Städtchen“ zuletzt – und das ist viel zu lange her für diesen ganz besonderen, unterhaltsamen und tiefsinnigen Roman. (Quelle: Lilienfeld Verlag)

Der Anfang des Buches liest sich wie ein Staffellauf. Hans Adler führt uns durch die Straßen des Städtchens (wie auch immer es heißen mag) und macht den Leser dabei mit den unterschiedlichen Charakteren seines Romanes bekannt. Personen begegnen sich und gehen wieder auseinander. Gleichzeitig kommt es zu einem ständigen Wechsel in der Erzählperspektive. Der Erzählstab wird sozusagen von Charakter zu Charakter weitergereicht.

Hans Adler liefert mit seinen Protagonisten einen Querschnitt der damaligen Gesellschaft. Seine Charaktere kommen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten und Milieus. So finden sich Lehrer, Beamte und Politiker neben Adeligen und Arbeitern; Maler, Schauspieler und Sänger neben Töchtern aus gutem Hause, Sekretärinnen und Prostituierten. Hans Adler bedient sich dabei sämtlicher Klischees und spart nicht mit Sarkasmus.
"Eine mühelose, glänzende Karriere lag vor ihm, der einen ehemaligen Minister zum Vater hatte. Übrigens merkwürdig, wie viele ehemalige Minister es gab. Ihre Söhne, Neffen und Enkel hatten es gut, während die anderen, deren Väter wackere Landärzte, Kaufleute, einfache Bürger waren, nie für voll galten, übersprungen, transferiert und zurückgesetzt wurden und unter normalen Umständen trotz Verwendbarkeit und Fleiß kaum Aussicht hatten, in die inneren Kreise der Beamtenhierarchie vorzudringen." (S. 11 f.)
Hauptthema dieses Romanes ist der Alltag und das Miteinander dieser Protagonisten. Der Autor macht deutlich, dass die damalige Gesellschaft in jeder Hinsicht eine Zweiklassengesellschaft war. Es gab nichts wichtigeres als die Herkunft eines Menschen. Emporkömmlingen haftete ein Makel an, den sie zeitlebens nicht losgeworden sind. Mitglieder des Beamtentums und der Politik benahmen sich in dem Städtchen wie kleine Souveräne, deren Königswürde unantastbar war. Gesellschaftliche Ausschweifungen gehörten zum guten Ton. Das Nachsehen hatten nur die „kleinen Leute“ und die Frauen in dieser Gesellschaft.

Gerade die Darstellung des Frauenbildes in Adlers Roman verschlägt dem Leser der heutigen Zeit die Sprache. Die Frauen bei Adler hatten als einziges Kapital ihren Körper, das sie auch meistens eingesetzt haben, mal mehr und mal weniger freiwillig. Sie waren auf Gedeih und Verderb den Herren der Gesellschaft ausgeliefert. Es scheint, als ob Adlers Männer die Eroberung von Frauen als Gentleman-Sport angesehen haben. Die Damen der Gesellschaft gingen damit unterschiedlich um. Es gab Frauen, die ihr Schicksal als gegeben hinnahmen und sich fügten bzw. bemüht waren das Beste aus der Situation heraus zu schlagen. So zahlte sich das weibliche Entgegenkommen manches Mal in Preziosen oder anderen Gefälligkeiten aus. Es gab allerdings auch Frauen, die sehr zurückhaltend in der Verteilung ihrer Gunst waren und hartnäckig von der großen romantischen Liebe träumten. Aber am Ende bekamen die Männer sie doch …. zumindest die meisten von ihnen. 
Lustigerweise bekamen die Freiheiten der Männer einen gehörigen Dämpfer mit Eintritt in das Eheleben. Auf einmal stellt mann fest, dass die Frauen in der Ehe die Hosen anhaben und bestimmen, wo es lang geht. Und aus den brunftigen Partylöwen werden auf einmal handzahme Kätzchen, die einen gehörigen Respekt vor ihren Ehefrauen haben.
"'Der ursprüngliche und naive Mann', bemerkte Seydlatz, ,ersehnt immer eine Frau, zu der er in gewissem Sinne emporblicken kann. Der im bitteren Feuer der Lebenserfahrung komplizierter gewordene dagegen weiß, daß er das Weib nur unter sich zu suchen hat ...'" (S. 219)
Eigentlich müsste sich beim Lesen von Hans Adlers Roman Protest und Unwillen gegen das gesellschaftliche Szenario, das hier skizziert wird, breitmachen. Doch tatsächlich reagiert man als Leser hautsächlich mit Humor. Man kann gar nicht anders. Denn Adlers Komik ist einfach mitreißend. Adler gelingt es mit seiner für den modernen Leser ungewöhnlichen Sprache, einen besonderen Charme zu entwickeln, der den Leser um den Finger wickelt. Mit großer Süffisanz teilt Adler aus, wobei keiner seiner Charaktere geschont wird. Er spart dabei nicht mit Bissigkeit und Boshaftigkeit und ist für ständige amüsante Überraschungen gut. Allein dieser  eingzigartige Erzählstil macht „Das Städtchen“ lesenswert. 
"An seiner Seite saß Frau Direktor Müller-Monti, locker im Fleisch und weich im Herzen, einen giftgrünen Federhut auf dem rostroten Haar, und bot Alberti, der ihr pflichtgemäß den Hof machte, großmütig Einblick in die Untiefen eines heißwogenden Dekolletés. Die übrigen Mitglieder des Ensembles gruppierten sich wie fasziniert um den Direktor, der die Manschetten vor sich neben das Besteck gestellt hatte, um mit größerer Bequemlichkeit ein Brathuhn verzehren zu können, das ein wenig zäh zu sein schien." (S. 183)
Dieser Roman ist erstmalig im Jahre 1926 veröffentlicht worden. In der damaligen Zeit hat man dieses Buch wahrscheinlich als frivol bezeichnet, zumal der Autor mit einer sehr bildhaften und präzisen Sprache agiert, die der eigenen Vorstellungskraft nicht viel Spielraum lässt. Doch Dinge, die dem Leser damals die Schamröte ins Gesicht getrieben haben, rufen heutzutage nur ein Schmunzeln hervor, insbesondere, wenn sie dermaßen klischeehaft ausgeschmückt werden wie in diesem Roman.

Fazit:
Hans Adler hat mit „Das Städtchen“ eine Kleinstadt-Posse geschrieben, die an bissigem Humor nicht zu überbieten ist. Ein Roman, der großartig unterhält, für manchen Schenkelklopfer gut ist, ein umfangreiches Gesellschaftsporträt der damaligen Zeit darstellt und sich damit wie selbstverständlich in die Riege der zeitlosen Leseschätze einreihen darf.

Klare Leseempfehlung!

© Renie



Ich habe diesen Roman in der Ausgabe Lilienfeldiana des Lilienfeld-Verlages gelesen. Die Reihe Lilienfeldiana präsentiert literarische Schmankerl aus der ganzen Welt in einer besonderen Ausstattung - Fadenheftung, Halbleinen und eine Einbandgestaltung in Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstlern.
"Das Städtchen" war für mich das erste Buch aus dieser Reihe und hat mir einen Vorgeschmack auf die außergewöhnliche Qualität geliefert. Ich bin sicher, dass dies nicht mein letztes Lilienfeldiana-Buch gewesen ist. 




Das Städtchen von Hans Adler, erschienen im Lilienfeld Verlag, Ausgabe Lilienfeldiana (2010)
ISBN: 978-3940357137




Über den Autor:
Hans Adler, geboren 1880 in Wien, wurde zunächst Jurist (u.a. beim k.k. Patentamt), und nebenbei gewannen seine Gedichte im „Simplicissimus“ einen solchen Ruf, daß Kurt Tucholsky sie für eine Buchausgabe empfahl. Erst 1920 allerdings kam es dann unter dem Titel „Affentheater“ tatsächlich zu dieser Gedichtsammlung. 1915 war Hans Adler aus Krankheitsgründen in den Ruhestand versetzt worden und hatte begonnen, als freier Schriftsteller zu arbeiten – besonders erfolgreich schließlich als Operettenlibrettist unter anderem für Operetten von Nico Dostal und für „Des Esels Schatten“ von Richard Strauß (1949). 1926 erschien sein einziger Roman „Das Städtchen“. Ab den dreißiger Jahren bis zum Ende des Krieges war Hans Adler nur aufgrund seines Nachnamens mehrfach anti-semitischen Diffamierungen ausgesetzt und wurde im März 1938 deshalb sogar von der Gestapo vorübergehend verhaftet. 1957 starb er in Wien an den Folgen eines Autounfalls.

Im Lilienfeld Verlag von Hans Adler:










Samstag, 15. Oktober 2016

Adrian Stokar: Einstürzende Gewissheiten

Der Industrielle Paul Burkhart wird 75 Jahre alt. Grund genug für den Journalisten Steiner, ein Porträt über ihn zu verfassen. Schnell stößt Steiner auf einen schweren Unfall am 11. Oktober 1975, in den Burkhart verwickelt war und bei dem ein geheimnisvoller Beifahrer ums Leben kam. Seit der Zeit hat sich der alte Herr nie wieder an das Steuer eines Autos gesetzt.

Anhand von Interviews mit den verschiedenen Mitgliedern sowie Angestellten der Familie Burkhart kann Steiner nach und nach das Leben des Patriarchen rekonstruieren. (Quelle: Dörlemann)
Die Beschreibung dieses Romans liest sich wie der Hinweis auf einen spannenden Krimi oder Thriller. Nur leider hält dieser Roman am Ende nicht das, was er verspricht


Ein Autounfall, ein geheimnisvoller Beifahrer, der bei diesem Unfall ums Leben kommt... Die Schweizer Industriellenfamilie Burkhart scheint ein Geheimnis zu hüten, dem der Journalist Steiner auf der Spur ist. Ausgangspunkt seiner Recherche ist seine Arbeit an einem Porträt über den Firmenpatriarchen Paul Burkhart anlässlich dessen 75-jährigen Geburtstags. Paul Burkhart ist in der Schweiz eine bekannte Wirtschaftsgröße. Mittlerweile hat er sich aus dem Firmengeschäft zurückgezogen, wirkt aber noch im Hintergrund. Das Familienunternehmen hat er den beiden Söhnen Philipp und Thomas überlassen. Die Tochter Sylvia Burkhart hat sich für eine Karriere außerhalb des Familienkonzerns entschieden und ist als Anwältin erfolgreich.
"Philipp überlegte lange, was er noch anführen könnte, dann schaute er Steiner direkt in die Augen:' Und wissen Sie was? Aber das sage ich Ihnen im Vertrauen. Ich übe mich darin, einen Orgasmus herbeizuführen, der nur aus der Kraft meiner Gedanken ausgelöst wird. ... , das wäre dann der letzte Beweis für die Überlegenheit des Imaginären über das Reale, nicht wahr.'" (S. 111 f.)
Philipp Burkhart ist der Intellektuelle der Familie. Mit seinem abgeschlossenen Philosophiestudium passt er eigentlich so gar nicht in ein Wirtschaftsunternehmen. Und doch hat der Vater ihm die Hälfte der Konzernleitung übertragen. Philipp ist überheblich und abgehoben. Durch seine philosophische Ausbildung fühlt er sich anderen, insbesondere seinem Bruder Thomas gegenüber überlegen, woraus er auch keinen Hehl macht. Seine Selbstdarstellung lässt den Verdacht aufkommen, dass in ihm ein Narziss schlummert.

Thomas Burkhart ist ein bodenständiger Mensch. Er kennt keinen Standesdünkel - und wenn, gelingt es ihm, dies nicht zu zeigen. Ihm ist daran gelegen, seine Mitarbeiter kollegial und auf Augenhöhe zu behandeln. Dabei scheint er jedoch sehr unsicher zu sein. Er hat Schwierigkeiten, mit Druck und Stress umzugehen. Er ist auch nicht in der Lage, sich seinem Bruder Philipp gegenüber zu behaupten, der ihn seine intellektuelle Überlegenheit ständig spüren lässt. Thomas hat dem leider nichts entgegenzusetzen.
"Steiner ließ sich in ein hellbraunes Fauteuil plumpsen, Thomas nahm ihm gegenüber Platz. Er legte sein Kinn seitlich auf seine rechte Hand - jene Hand, die sich bei der Begrüßung wie ein Stück kalter schlabberiger Fleischkäse angefühlt hatte und die Steiners sanftem Druck kaum Widerstand leistete -, was eine schlaffe Beugung seines gesamten Rumpfes nach sich zog und seinem Körper ein krummes, bogenartiges, defensives Gepräge verpasste." (S. 129)
Der Aufbau dieses Erstlingswerks von Adrian Stokar ist ungewöhnlich. Den Leser erwarten unterschiedliche Wechsel in Erzählstil, Zeitebenen und Erzählperspektiven. Großen Raum in diesem Roman nehmen die Interviews des Journalisten Steiner mit den Burkharts ein. Gleichzeitig widmet der Autor einige Kapitel der Charakterisierung der Geschwister Burkhart. Dadurch gewinnt der Leser ein ausführliches Bild über das Leben in einer Industriellenfamilie. Aber der Autor konzentriert sich nicht nur auf die Familie Burkhart, sondern gewährt auch dem Charakter des Journalisten Steiner einige Anteile in seinem Roman: Steiner auf Recherchereise in Berlin, Steiner mit seiner Tochter auf Wochenendausflug, Steiner und sein Kumpel und Kollege Schmid.
Irgendwann kommt der Moment der Auflösung des Burkhartschen Familiengeheimnisses: Im Interview mit dem Patriarchen Burkhart erzählt dieser, was bei dem damaligen Autounfall wirklich geschah, und wer der geheimnisvolle Beifahrer war.
"' ... Es ist doch faszinierend, wie intellektuelle Brillanz in null Komma nichts in Wahnsinn kippen kann.'" (S. 196)

Fazit:
Ich hatte meine Schwierigkeiten mit diesem Roman. Adrian Stokar versucht zuviele Ansätze in seinem Roman zu einem Ganzen zu machen. Sein Roman bewegt sich in unterschiedlichen Themengebieten: Familiengeschichte, Politik, Wirtschaftsskandal, Beziehungskrisen, Nationalsozialismus und einige mehr. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass Adrian Stokar diese Themen nur oberflächlich ankratzen kann. Unverständlich war für mich auch, warum Stokar sich zwischenzeitlich auf den "privaten" Steiner konzentriert. Genauso wie der Charakter Schmid - Steiners Kumpel und Kollege - sowie Schmids Eheprobleme in diesem Roman völlig deplatziert sind, weil sie keinen Einfluss auf die eigentliche Geschichte nehmen. Diese Ausflüge in andere Handlungsstränge waren mir zu viel und haben mich nur von der eigentlichen Geschichte um das Geheimnis des Schweizer Industriellen abgelenkt. Daher sind meine Erwartungen an dieses Buch leider nicht erfüllt worden.

© Renie

ISBN: 9783038200352


Über den Autor:
ADRIAN STOKAR, geboren 1963, lebt und arbeitet in Zürich. Studium der Pädagogik, politischen Wissenschaft und Soziologie an der Universität Zürich. Ehemals Dozent und Verleger, heute freischaffender Lektor und Autor. Im Rotpunktverlag erschien 2011 der literarische Wanderführer »Dem Süden verschwistert«. Adrian Stokar lebt in Zürich. Weitere Informationen zu Adrian Stokar unter www.adrianstokar.ch

Mittwoch, 12. Oktober 2016

Helmut Kuhn: Omi

Das Buch Omi von Helmut Kuhn wird als "Familiengeschichte und Roadtrip zugleich" angepriesen. Tatsächlich ist dieser Roman ein großes Stück Familiengeschichte mit nur wenig Roadtrip, der sich dann auch noch zu einem Trip der besonderen Art entwickelt.

Am Anfang der Geschichte lernen wir Holli kennen, der seine Omi mit einem gemieteten Transporter, Hund Pit und einem Mädchen namens Marylong aus dem Pflegeheim abholt. Holli möchte mit Omi nach Berlin fahren. Warum? Das ergibt sich erst zum Ende dieses Romanes.
"Das ist ein Bild, das Holli gefällt. Noch nie hat ein Insasse das Haus am Frauenberg lebend wieder verlassen. Seine Großmutter ist die Erste. Holli Umsiedler muss lachen." (S. 18)
Holli hat die meisten Jahre seiner Kindheit bei seiner Omi gelebt. Die beiden verbindet eine tiefe Zuneigung. Mittlerweile ist Holli erwachsen und lebt in Berlin. Omi ist in einem Pflegeheim in Rheinland-Pfalz untergebracht. Daher sehen sich die beiden nur noch selten. Holli besucht Omi so oft es geht. Mal erkennt sie ihn, mal nicht. Denn Omi ist dement und kann kaum noch Gegenwart und ihre Erinnerungen auseinanderhalten. Holli kümmert sich rührend um seine Omi. Er ist auch derjenige, der vom Pflegeheim kontaktiert wird, wenn wieder irgendetwas mit Omi ist. Ihr Gemütszustand ist schwankend. Oft ist sie friedlich und in sich gekehrt. Aber manches Mal machen ihr die Erinnerungen zu schaffen, so dass sie mit Aggression und Wut auf ihre Umwelt reagiert.

Omi hat viel erlebt in ihrem langen Leben. Sie ist im Sudetenland aufgewachsen. Kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges lernt sie ihre große Liebe kennen: Tias, der Dienst am Vaterland leistet und daher kurz nach dem Kennenlernen versetzt wird. Bei einem der Heimaturlaube wird geheiratet. Dem jungen Paar bleibt nicht viel Zeit miteinander. Nach 2,5 Jahren, wovon sie nur etwas mehr als 6 Wochen miteinander verbracht haben, stirbt Tias in einem Lazarett, weit weg von zuhause. Alles, was Omi von ihm bleibt, sind die unzähligen Briefe, die er ihr während seines Militärdienstes geschickt hat. Omi schlägt sich mit ihrem Kind - Hollis Mutter - allein durch. Irgendwann lernt sie ihren zweiten Mann kennen. Die 2. Ehe basiert auf Zuneigung und Respekt füreinander. Das reicht aus, um ein ganzes Leben miteinander zu verbringen. Einen großen Teil seiner Kindheit verbringt Holli im Haus von Omi und Opi. Irgendwann holt seine Mutter, die sich einst mit der Kindererziehung überfordert sah und daher Holli zu seinen Großeltern gegeben hat, ihren Holli wieder zu sich. Doch Omi scheint mehr Mutter für ihn zu sein, als seine eigene Mutter. Die innige Zuneigung, die er für seine Omi empfindet wird ein Leben lang anhalten.
"Warum ist es am Ende so würdelos? Diese stolze, aufopfernde, immer für alle da gewesene Frau? Hat sie nicht geschuftet, genäht, getan und gemacht? Hat sie es nicht besser verdient? Warum ist das so? Omi, sollten wir es nicht besser haben? Ein Haus mit Kindern, Mama und dir unterm Dach, und am Abend würden die Kinder deinen Geschichten vom Rübezahl lauschen, so, wie es früher war? Omi, warum bist du jetzt hier und ich bin dort? Wo wir doch so daran gearbeitet haben, dass es einmal besser sein würde, als es früher war?" (S. 104)
Eine sehr berührende Geschichte! Erzählt wird diese Geschichte zunächst aus der Sicht von Holli. Nachdem sich Holli und Begleitung auf die Reise mit Omi begeben haben, gibt es zunächst eine Rückblende in die Zeit kurz vor dem Trip. Der Leser erfährt, wie es Omi in den letzten Monaten vor Einzug ins Pflegeheim ergangen ist. Holli schildert, wie Omi immer mehr abgebaut hat, wie schwer ihm die Entscheidung gefallen ist, Omi im Pflegeheim anzumelden. Als Omi im Heim ist, ist es Hollis Aufgabe, ihre Wohnung aufzulösen. Dadurch begibt er sich auf einen Trip in die eigene Vergangenheit. Die Gegenstände, die er aus der Wohnung räumt und teilweise verkauft, sind viel zu sehr mit Erinnerungen behaftet, so dass ihm der Abschied von Omis Wohnung alles andere als leicht fällt.

Während Holli also die Wohnung räumt, findet er alte Briefe, die seine Omi aufbewahrt hat. Holli liest diese Briefe und verschafft sich und dem Leser einen tiefen Einblick in das Leben seiner Omi. Unterbrochen wird Hollis Erzählung durch Erinnerungen, die seine Omi zum besten gibt. Diese Erinnerungen können schon etwas älter sein, können aber auch Erinnerungen sein, die Omi erst vor Kurzem im Gespräch mit Holli zum Besten gegeben hat. Omi verliert sich häufig in diesen Erinnerungen. Sie verzettelt sich und kommt von Hündchen auf Stöckchen - ganz, wie es ältere Herrschaften gern tun. Sie redet wie ein Wasserfall, erinnert sich an tausend Kleinigkeiten und Personen. Das erfordert viel Geduld beim Zuhören - in diesem Fall Lesen -, insbesondere, wenn Omi in ihren Dialekt von früher verfällt. Das macht das Lesen nicht einfach, weil man dahin tendiert, ganze Passagen, die einem sehr langatmig erscheinen, in diesem Roman zu überspringen. Ich habe wacker durchgehalten, da ich mir immer wieder in Erinnerung gerufen habe, wie meine Omi ihre Erinnerungen mit ihren Enkelkindern geteilt hat. Irgendwie hätte ich es als respektlos empfunden, wenn ich einfach weggehört hätte, oder wie in diesem Roman von Helmut Kuhn, Passagen übersprungen hätte. Ich bin am Ball geblieben und konnte mir so ein Bild von dem ereignisreichen Leben machen, das Hollis Omi geführt hat. Gleichzeitig vermitteln Omis Erinnerungen ein Stück deutscher Geschichte. Denn so, wie es ihr ergangen ist, ist es zigtausend anderen Frauen dieser Generation in Deutschland ergangen.

Ab einem gewissen Punkt in diesem Roman wird dem Leser einiges abverlangt: Holli hat es auf einmal mit einer Marienerscheinung zu tun. 
"In einer Zeit, in der der Papst twitterte, Karmeliterinnen Skateboard fuhren und Engel in der Werbung arbeiteten, was war da schon eine Marienerscheinung, die sich kleidete wie in einer burlesken Stripnummer, E-Zigarette rauchte, MP3-Player hörte und sich benahm wie ein ungezogenes Gör?" (S. 125)
Das liest sich merkwürdig, insbesondere da die Jungfrau Maria in diesem Buch als eine Art Punk-Braut erscheint. Ich wusste nicht, was ich davon halten soll. Teilweise habe ich diese Komponente im Roman als störend empfunden, zumal das Zusammenspiel zwischen Holli und Maria zu sehr ins Surrealistische abdriftet. Maria nimmt Holli mit auf Zeitreise. Die beiden tauchen in den Erinnerungen von Omi ab und Holli erlebt somit vieles, was in Deutschland während der 30er/40er Jahre passiert ist, nochmal selbst, quasi live und in Farbe.
Für mich verliert die Handlung dadurch einiges an Ernsthaftigkeit. Zeitreisen mit fantastischen Fortbewegungsmitteln gehören meines Erachtens in ein anderes Genre.

Schade eigentlich! Denn die Idee, einen Roman über einen Zwei-Generationen-Roadtrip zu schreiben, ist großartig. Omis und Hollis Erinnerungen, die diesen Roman bestimmen, garantieren dem Leser einen intensiven Einblick in das Leben in Deutschland während und nach dem 2. Weltkrieg. Diese Verbundenheit zwischen Holli und seiner Omi ist tief berührend. Dass die beiden mittlerweile die Rollen gewechselt haben - Holli fühlt sich für seine Omi verantwortlich und kümmert sich um sie, wie sie in seiner Kindheit die Verantwortung für ihn übernommen hat - ist nicht selbstverständlich, wie viele einsame Omis in unserer Gesellschaft beweisen.
Der Autor macht durch die surreale Komponente leider vieles in der Geschichte kaputt, weil er der Handlung einiges an Ernsthaftigkeit raubt. Daher kann ich diesen Roman nur bedingt empfehlen. Insbesondere Leser, die sich für Familien- und Zeitgeschichte interessieren, wird dieser Roman gefallen - vorausgesetzt, dass sie ein großes Maß an Toleranz gegenüber Zeitreisen und Marienerscheinungen mitbringen.

© Renie

Omi von Helmut Kuhn, erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt (August 2016)
ISBN: 978-3-627-00232-9



Über den Autor:
Helmut Kuhn wurde 1962 in München geboren. Nach einem Studium in Berlin und an der Pariser Sorbonne arbeitete er bei der deutsch-jüdischen Zeitschrift Aufbau in New York und war Reporter für Die Zeit, Stern, Focus und mare. Er lebt als Autor und Dozent für Journalistik und kreatives Schreiben in Berlin. 2002 erschien sein Romandebüt Nordstern, 2006 folgte der Erzählband Regen im 5/4 Takt. Als Co-Autor verfasste er zusammen mit Murat Kurnaz Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo (2007) sowie mit Cem Gülay Türkensam. Eine deutsche Gangsterkarriere (2009). Sein von der Kritik vielbeachteter Berlin-Roman Gehwegschäden erschien 2012 in der FVA, im Herbst 2016 folgt der Roman Omi. (Quelle: Frankfurter Verlagsanstalt)

Sonntag, 9. Oktober 2016

Juan Pablo Villalobos: Ich verkauf dir einen Hund

Wer verkauft wem einen Hund und warum? Tierschützer unter den Lesern wird die Antwort auf diese Frage nicht gefallen. Und Freunden der mexikanischen Küche ebensowenig. Wie gut, dass die Antwort auf diese Frage nur schmückendes Beiwerk für einen Roman ist, der so herrlich skurril ist, dass man aus dem Lachen kaum heraus kommt.
Quelle: Kirchner Kommunikation

Klappentext:
Wieviele Kakerlaken passen in einen Aufzug? Hilft ­Adorno gegen amerikanische Missionare? Lebt die Revolution? Und vor allem: Was steckt wirklich in einem Taco? Fragen über Fragen, die Juan Pablo Villalobos in seinem rasanten Senioren­roman aufs vergnüglichste beantwortet. Nabel der Welt ist ein Wohnhaus im Herzen von Mexico City, wo der ganz normale Wahnsinn der Stadt auf ein paar Etagen zusammenschnurrt. Während der hausinterne Literaturkreis auf dem Flur tagt – unter dem strengen Regiment der rüstigen Francesca –, entspinnt sich auf den oberen Stockwerken irgendetwas zwischen Liebes-, Künstler- und Kriminal­geschichte. Ein großer Spaß, und das ganz ohne Rentner, die aus Fenstern steigen! (Quelle: Berenberg Verlag)

Erzählt wird die Geschichte von einem 78-jährigen Schwerenöter, der in besagtem Wohnhaus in Mexico City lebt. Nennen wir ihn Juan. Da die Geschichte von einem Ich-Erzähler erzählt wird, liegt  der Verdacht nahe, dass der Autor aus dem Nähkästchen plaudert ... wobei das eigentlich nicht sein kann, da Juan Pablo Villalobos erst 43 ist ... aber egal, mangels eines anderen Namens bleiben wir bei Juan. Juan also lebt in diesem Haus, zusammen mit anderen Zeitgenossen seiner Altersklasse auf unterschiedliche Appartements verteilt. Er lebt in den Tag hinein und hat einen Heidenspaß daran, seine Mitmenschen zu trietzen. Insbesondere Francesca und ihr Literaturzirkel, der scheinbar 24 Stunden am Tag im Hausflur tagt, hat es ihm angetan. Francesca würde ihn zu gern für ihren Literaturzirkel rekrutieren. Schließlich ist der Verdacht aufgekommen, dass Juan einen Roman schreibt, was ihn für den Literaturzirkel prädestiniert. 
"Der Literaturzirkel begann mit der Lektüre des Palinurus von Mexiko von Fernando del Paso in der Ausgabe der gesammelten Werke des Fondo de Cultura Económica. Eintausendzweihundertdreißig Seiten, fester Einband, dreieinhalb Kilo (wer Athritis hatte, war entschuldigt)." (S. 37)
Aber Juan widersetzt sich standhaft, zumal er auch keinen Roman schreibt, wie er immer  wieder hartnäckig versichert. Und mehr passiert eigentlich nicht in dieser schrägen Geschichte. Tja, wenn da nicht diese skurrilen und liebenswerten Charaktere wären, die im Laufe dieser Geschichte auftauchen und diesem Buch einen außergewöhnlichen Anstrich verpassen. Da wäre z. B. der Mormone Willem, der die Lehre Gottes verbreiten und Juan bekehren möchte. Doch Juans Bibel ist die Ästhetische Theorie des Philosophen Theodor W. Adorno. Dessen Weisheiten haben ihm schon den einen oder anderen philosophischen Moment beschert. Ein Adorno für jede Lebenslage. Da kann der Mormone mit seinen Ansichten nicht gegenhalten, auch wenn er es ständig versucht. 

Nicht zu vergessen, dass dieses Werk des deutschen Philosophen auch schlagende Argumente beim Kampf gegen die Kakerlaken liefert, die das Haus bevölkern und ständige Alltagsbegleiter sind.
"Zurück in der Wohnung, flitzen die Kakerlaken fröhlich an der Decke herum. Wieder ein anderes Mal stellte Willem Fallen in den Ecken auf. Schwarze Plastikschächtelchen. Eine Methode, die mir nie ganz einleuchten wollte. Sollten die Kakerlaken die Schachteln anheben und hineinkrabbeln? Es funktionierte auch nicht, aber wenigstens war es spannend, und das Rätsel mit den Schachteln beschäftigte mich eine ganze Woche." (S. 63)
Juan und der Mormone Willem freunden sich an. Mit der Zeit tauchen weitere Figuren in diesem Roman auf, die man alles andere als "normal" bezeichnen kann. Da wären z. B. eine Gemüsehändlerin, die mit faulen Tomaten handelt (die Qualität ihrer Tomaten ist in der Demonstrantenszene berühmt-berüchtigt) oder ein Herr vom Tierschutzverein, der davon träumt, ein Schriftsteller zu sein. Leider ist er völlig talentfrei.
Quelle: Unsplash /Maria Molinero

So plätschert die Geschichte vor sich hin, unterbrochen von Erinnerungen die Juan an seine Jugendzeit hat. Doch wenn man meint, dass irgendwann Langeweile bei der Lektüre dieses Buches aufkommt, ist man schief gewickelt. Man kommt gar nicht dazu, sich zu langweilen. Dafür sind die Charaktere zu speziell, der Hauptprotagonist zu schlitzohrig, der Literaturzirkel fast schon militaristisch durchorganisiert und der gesamte Roman zu schräg. 

Ein Spannungsbogen? Das braucht dieser Roman nicht. Er lebt von seinem skurrilen Humor, der den Leser von Seite zu Seite weitertreibt, ständig mit der Frage im Hinterkopf, was sich der Autor als Nächstes einfallen lässt.

Im Klappentext taucht die Bezeichnung "Seniorenroman" auf. Es ist definitiv ein Roman über Senioren, aber mit Sicherheit kein Roman ausschließlich für Senioren. Ich habe mich auf jeden Fall köstlich amüsiert und fand es schade, als ich bei der letzten Seite angelangt bin. Die Geschichte hätte für mich noch ewig weitergehen können.

Und was jetzt mit dem Hund ist, das verrate ich nicht. Freunde skurriler Geschichten  sollten sich besser selbst den Spaß gönnen und dieses Buch lesen.

© Renie


Ich verkauf dir einen Hund von Juan Pablo Villalobos, erschienen im Berenberg Verlag (Herbst 2016)
ISBN: 978-3-946334-07-1



Über den Autor:
Juan Pablo Villalobos, geboren 1973 in Guadalajara, Mexiko, studierte Marketing und Literatur und lebt heute in Barcelona. Die ersten beiden Teile seiner mexikanischen Romantrilogie - "Fiesta in der Räuberhöhle" (2011) und "Quesadillas" (2014) - sind ebenfalls bei Berenberg erschienen.

Donnerstag, 6. Oktober 2016

Wilson Collison: Die Nacht mit Nancy

Wenn irgendein Cover den Namen "Eyecatcher" verdient, dann ist es dasjenige des Romanes "Die Nacht mit Nancy" von Wilson Collison. Auf dem Cover prangt dem Leser ein Prachtweib aus den 30er Jahren entgegen. Kein Zweifel, das ist Nancy!

Klappentext:
Die Ostküsten-USA Anfang der 1930er Jahre. Eine Hausparty in einem großbürgerlichen Landhaus. Ein lauter Schrei lässt die Bewohner mitten in der Nacht aufschrecken. Die sittenstrenge Gastgeberin Mrs. Hanley eilt heran und traut ihren Augen kaum.: In einem der Gästezimmer trifft sie nicht nur auf die junge, attraktive und nur mit einem Negligé bekleidete Witwe Nancy, sondern auch auf drei Männer in Pyjamas. Empört lässt sie alle Gäste und Bedienstete herbeirufen und fordert den jungen Anwalt Jimmie Landon auf, ein Kreuzverhör durchzuführen, um diese pikante Angelegenheit aufzuklären ....

Kann man aus solch einem Szenario einen guten Roman machen? Und wie man das kann! 
An sich ist die beschriebene Situation völlig banal: Frau wird wach, erschrickt sich, schreit, beruhigt sich wieder, schlecht geträumt? und schläft schließlich weiter. Na gut, einen Unbekannten im Schlafzimmer zu haben, ist nicht das, was man möchte - wobei es natürlich auf den Unbekannten ankommt. Aber diesen Vorfall dermaßen aufzublähen und daraus eine private nächtliche Gerichtsverhandlung zu machen, steht doch in keiner Relation.
Und trotzdem schafft es Wilson Collison aus diesem Szenario einen Roman zu machen, der fast schon kriminalistische Züge annimmt und 100-%ig von der ersten bis zur letzten Seite durch seinen Witz und Humor überzeugen kann.
"' ... Es ist wirklich ganz erstaunlich. Aus einem trivialen Schlafzimmer-Vorfall habe ich genügend Indizien, Nebenhandlungen, Verdachtsmomente, Andeutungen und Möglichkeiten herausgeholt, um ein Dutzend Romane zu schreiben.'" (S. 137)
Nancy ist eine Frau, die Männerherzen höher schlagen und andere Frauen neben sich unscheinbar erscheinen lässt. Erst recht, wenn diese Frauen mitten in der Nacht ungeschminkt und im Nachthemd - in manchen Kreisen nennt man es auch "nicht gesellschaftsfähig" oder "derangiert" - in ein Zimmer gescheucht werden, um der unangenehmen Befragung zur Aufklärung einer delikaten Angelegenheit beizuwohnen. Ein Unbekannter hat Nancy in ihrem Schlaf aufgeschreckt. Der Täterkreis lässt sich schnell eingrenzen. Im Grunde genommen kann es jeder der anwesenden Herren und Ehemänner gewesen sein. Was auch irgendwie nachvollziehbar ist, denn welcher Mann wäre nicht gerne in Nancys Schlafzimmer? Doch die anwesenden Ehefrauen zeigen leider kein Verständnis für die Situation. Ganz im Gegenteil, der Edelmut, Nancy zu Hilfe eilen zu wollen, wird leider nicht belohnt. Stattdessen reagieren die Damen mit Eifersucht und Nancys Ruf und Moralvorstellungen stehen auf einmal auf dem Prüfstand.

Aber wie heißt es so schön? "Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen."

Denn tatsächlich wendet sich das Blatt. Die Befragung der Anwesenden entwickelt sich in eine Richtung, die mehr als unangenehm für jeden Einzelnen von ihnen ist. Und plötzlich treten Geheimnisse zu Tage, die die nächtliche Ruhestörung in den Hintergrund rücken lassen. Wahre unmoralische Abgründe tun sich auf. Die Fassade von Sitte und Anstand, hinter der sich nahezu jeder der Gäste versteckt, beginnt zu bröckeln.
Eigentlich hätte Nancy jetzt allen Grund zur Schadenfreude. Aber sie steht darüber und nimmt die Entwicklung mit großer Gelassenheit hin.
"' Unter normalen Umständen ... hätte man die Sache auf sich beruhen lassen. Aber Mrs. Hanley hatte das Gefühl, dass die Sittlichkeit ihrer Logiergäste etwas sei, das man untersuchen, befragen und kritisch überprüfen müsse. Schließlich ist es ihr Haus, und die sittliche Verbesserung der Nation muss vor der eigenen Haustür beginnen. ..'" (S. 147)
Wilson Collison macht sich über seine Protagonisten lustig. Ich glaube, dass der Autor einen riesigen Spaß hatte, als er diesen Roman geschrieben hat. Sein Humor ist gnadenlos. Er zieht seine Protagonisten durch den Kakao: die ach so tugendhaften Ehefrauen sowie die etwas trotteligen Männer, die unter der Fuchtel ihrer Frauen stehen .... und alle haben etwas zu verbergen, das sie auf einmal gar nicht mehr so tugendhaft dastehen lässt. Nur Nancy kommt gut weg. Denn sie scheint die einzig Aufrichtige zu sein, die nicht viel auf die Meinung der anderen gibt.
"Es schien ihm, als hätten Männer generell Angst vor ihren Ehefrauen. Da war Foster, der einen beunnruhigten und gejagten Ausdruck in den Augen hatte, wenn er zu seiner Helen herübersah; und Bob Martin, der einen Ausweg aus einer Situation zu suchen schien, die ihn mit Sorge erfüllte und ihm peinlich war." (S. 14)
Dieser Roman ist großartige und intelligente Unterhaltung mit fast schon satirischen Ausmaß. Er spielt in einer Zeit, in der es noch andere Moralvorstellungen als heute gab. Wilson Collison stellt diese Moral und Tugendhaftigkeit in Frage und lässt die Hüter von Sitte und Anstand als falsche Moralapostel dastehen. So schmunzelt man sich durch diesen Roman und lacht sich lauthals eins ins Fäustchen, wenn diese Moralapostel abgewatscht werden. Der fast altmodische Sprachstil von Wilson Collison übt dabei einen unvergleichlichen Charme aus. Da trifft man auf Begriffe wie "pikante Angelegenheit", da "wird nach Atem gerrungen" oder es gibt "Missstimmungen, die einen auf verbotene Pfade der Liebe und Leidenschaft treiben". Eine herrliche Wortwahl, die diesen Roman zu einem echten Genuss machen. Klare Leseempfehlung!

© Renie

Die Nacht mit Nancy von Wilson Collison, erschienen im Louisoder Verlag
Erscheinungstermin: 24. August 2016
ISBN: 978-3-944153-32-2


Über Wilson Collison:
Wilson Collisons Ruhm begann mit dem Broadway-Hit Up in Mable’s Room. Stücke wie Red Dust oder Mogambo wurden mit Clark Gable zu Kino-Hits, der Roman The Red-Haired Alibi der erste abendfüllende Film mit Shirley Temple. Collison, in Ohio geboren und in Beverly Hills, Kalifornien gestorben, veröffentlichte neben Das Haus am Kongo zahlreiche Romane mit unkonventionellen jungen Frauen als Heldin.




Von Wilson Collison habe ich auch "Das Haus am Kongo" gelesen, von dem ich ebenfalls begeistert war. Wer einen Blick auf meine Buchbesprechung werfen möchte ...


Montag, 3. Oktober 2016

Shumona Sinha: Kalkutta

Shumona Sinha ist eine indisch-französische Schriftstellerin und Dolmetscherin, die für ihren Roman "Erschlagt die Armen!" den diesjährigen Internationalen Literaturpreis gewonnen hat. Ihre schriftstellerischen Anfänge hat sie in ihrer Heimat Bengalen gefunden, wo sie bereits als 17-Jährige große Beachtung gefunden hat. Seit 2001 lebt sie in Frankreich. Das  hier vorliegende Buch Kalkutta ist ihr dritter Roman, der bereits vor 2 Jahren von der renommierten Academie Française prämiert worden ist. 
Quelle: Edition Nautilus

Klappentext:
Nach vielen Jahren in Frankreich kehrt Trisha anlässlich der Einäscherung ihres geliebten Vaters zurück in ihre Geburtsstadt Kalkutta. Im verlassenen Haus der Familie, in dem sie aufgewachsen ist, schicken die Möbel und vertrauten Gegenstände aus alten Tagen ihre Gedanken auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Da ist zum Beispiel die rote Steppdecke, die sie nicht nur an die Hausierer erinnert, die solche Decken anfertigten, sondern auch daran, wie sie eines Nachts ihren Vater dabei beobachtete, wie er in ebendieser aufgerollten Decke einen Revolver versteckte. Oder das kleine Fläschchen mit Hibiskusöl, mit dem man ihrer Mutter Urmila die Kopfhaut massierte, wenn diese wieder einmal von schwerer Melancholie überwältigt wurde. Indem Trisha sich in die Kratzer und Risse dieser Objekte, der Möbel, des Hauses versenkt, ersteht die Vergangenheit mehrerer Generationen einer Familie wieder auf, und damit auch die kollektive, politische Vergangenheit Westbengalens – von der britischen Kolonialzeit bis zur jahrzehntelangen kommunistischen Regierung seit den späten 1970er Jahren.

Kalkutta ist ein politischer Roman. 
Ich gebe zu, ich habe mich nie sonderlich mit der Historie Indiens befasst. Die Romane, die ich bisher zu diesem Land gelesen habe, bezogen sich hauptsächlich auf die Kolonialzeit bzw. die Zeit davor. Insofern ist die Zeit, in der der Roman hauptsächlich spielt (70er Jahre und später) für mich absolutes politisches Neuland. Daher habe ich die Informationen, die Shumona Sinha über den Alltag und die politische Landschaft Indiens und Bengalens vermittelt, förmlich aufgesogen. Eines wird dabei deutlich. In den 70er Jahren waren viele politisch engagiert und verteidigten dabei ihre politischen Ansichten mit einer Vehemenz, die  an Fanatismus grenzte. Wer sich mit Politik beschäftigte, riskierte seine Gesundheit.   Gegner unterschiedlicher politischer Lager gingen nicht zimperlich miteinander um. Shumona Sinhas Darstellung des politischen Alltags ist dabei völlig ungeschönt und macht deutlich, dass dieser Alltag von Angst und Gewalt geprägt war.
"In diesem Jahr 1975 war das Land im Ausnahmezustand. Die größte Demokratie der Welt wurde nun von Indira Gandhi regiert, der indischen Eisernen Lady, die auf ihren Vater Jawaharlal Nehru gefolgt war. ... Ihre Hand löschte Opponenten aus, ihr Machthunger war nicht zu stillen. Sie manipulierte den damaligen Präsidenten und brachte ihn dazu, Notstandsgesetze ohne die Zustimmung des Parlaments zu erlassen, was ihr ermöglichte, durch Verordnungen zu regieren. In Westbengalen, in Kalkutta und den benachbarten Städten wurden Shankhyas Genossen verhaftet und ermordet. Den Überlebenden brach man das Rückgrat, ein Bein oder einen Arm, man riss ihnen ein Auge aus, nahm ihnen auch  den letzten Rest Mut und Willen. Man ermordete Männer, um den kollektiven Traum eines ganzen Volks auszulöschen." (S. 69 f.)
Im Mittelpunkt dieses Romanes stehen die Erinnerungen Trishas an ihre Eltern und ihre Großmutter. Der Vater Shankhya war zeitlebens Professor an der Uni. In jungen Jahren engagierte er sich für die Kommunistische Partei in Bengalen. Als er erkannte, dass die hehren Ziele, die er einst mit seiner Partei verfolgt hatte, dem Streben nach Macht geopfert wurden, zog er sich aus der Politik zurück.
Trishas Mutter war depressiv. Die Krankheit hatte sie fest im Griff. Dieser Zustand war eine dauerhafte Belastung für die ganze Familie.
Die Großmutter lebte bei der Familie. Shankhya war ihr Sohn. Die Großmutter konnte nicht viel mit dem modernen Indien anfangen. Zu tief war sie mit Religion und Tradition verwurzelt. Dass sie bei ihrem Sohn lebte, sorgte häufig für Spannung, da er jemand war, der zum Atheismus neigte.
Trisha wuchs also mit den modernen Ansichten ihres Vaters und dem Traditionsdenken ihrer Großmutter auf. Mehr erfährt man allerdings nicht über Trisha. Und dies ist der einzige Kritikpunkt, den ich an diesem Roman habe. Als Leser erhält man keinen Zugang zu Trisha. Mit ihrem Eintreffen in Kalkutta zur Einäscherung ihres Vaters erfährt man, dass sie in den letzten Jahren in Frankreich gelebt hat. Was sie dazu bewogen hat, ihre Heimat Indien zu verlassen, und wann sie sie verlassen hat, bleibt unbekannt. Es gibt Andeutungen, die jedoch nicht weiter verfolgt werden. Insofern tritt Trisha im weiteren Verlauf der Geschichte nahezu völlig in den Hintergrund. Stattdessen nehmen die Personen, an die sie zurückdenkt - Vater, Mutter, Großmutter - immer mehr Raum ein. Am Ende bleibt nur die Spekulation, dass die Autorin verdeutlichen will, welchen Einflüssen Trisha in ihrer Kindheit unterworfen war und sie geprägt haben. Nur welcher Mensch aus Trisha geworden ist, bleibt unklar.
"Mehr als einmal war er am Grabstein des Glaubens abgeprallt, unter dem das rationale Denken und die wissenschaftliche Herangehensweise seit Langem begraben lagen. Seine Partei war gescheitert und Shankhya kam zu dem Schluss, dass die revolutionäre Ideologie nur ein fliegender Teppich gewesen war, der über dem indischen Subkontinent schwebte, während es den Millionen von Menschen völlig gleichgültig war, sie überlebten beschwerlich, schlugen Wurzeln und hatten Träume, die in die Glücksbringer um ihren Hals passten, bedeutungslos, lächerlich und vor allem ungefährlich." (S. 147)
Was mich völlig fasziniert hat und allein schon Grund genug ist, diesen Roman zu lesen, ist die facettenreiche Sprache von Shumona Sinha.
Anfangs hat mich ihr Sprachstil sogar ein wenig verstört. Er kommt sehr kraftvoll rüber, ohne zu beschönigen. Ähnlich wie es Trisha ergeht, als sie am Flughafen von Kalkutta ankommt und sich völlig fremd und verloren fühlt, empfindet auch der Leser. Er wird in ein Indien versetzt, dass herzlich wenig mit dem romantischen Bild zu tun hat, welches einem von Reiseprospekten immer gern entgegen prangt. Den Leser erwartet zunächst Lärm, Schmutz und Chaos. Nur ganz langsam gelingt es, sich mit dem Szenario anzufreunden und zu akklimatisieren.
Durch Trishas Erinnerungen an ihre Kindheit, lernt der Leser langsam ein Indien kennen, das faszinieren, aber gleichzeitig auch erschüttern kann. Shumona Sinhas Sprache ist dabei mal gefühlvoll, mal farbenfroh, mal poetisch. Als Leser lässt man sich gern von diesem Sprachstil gefangen nehmen.

Fazit:
Wer sich für fremde Kulturen interessiert und dabei Spaß an besonderer Sprache hat, ist bei diesem Buch gut aufgehoben. Mit ihrer facettenreichen Sprache vermittelt Shumona Sinha ein faszinierendes Bild von einem Land, das zwischen Tradition und Moderne sowie Politik und Religion hin- und hergerissen wird. 
Leseempfehlung!

© Renie


Kalkutta von Shumona Sinha, erschienen im August 2016 in der Edition Nautilus