Samstag, 29. April 2017

Lucas Grimm: Nach dem Schmerz

Quelle: Pixabay/falco
In zwei Jahren werden wir den 30. Jahrestag der Maueröffnung feiern. Die Machenschaften des ehemaligen DDR-Regimes liegen also schon lange zurück, haben aber immer noch, nach so langer Zeit, große Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen. Von diesen Auswirkungen erzählt der spannend-düstere Thriller "Nach dem Schmerz" von Lucas Grimm.

Die Kindheit der heute 34-jährigen Star-Cellistin Hannah Gold nahm ein brutales Ende, als sie im Alter von 7 Jahren im Keller der russischen Botschaft in Ostberlin aufs grausamste gefoltert wurde. Ihr Vater, Max Gold, musste dabei zusehen. Als hoher DDR-Funktionär war er Geheimnisträger vieler brisanter Informationen über Ost und West. Mit der Gewalt an seiner Tochter versuchte man, bestimmte Geheimnisse aus ihm herauszupressen, die er jedoch nicht Preis geben konnte oder wollte. Hannah kam damals mit dem Leben davon, ihr Vater nach Sibirien, wo er während seiner Gefangenschaft verstarb.

Heute, nach 27 Jahren, ist Hannah zwar eine gefeierte Cellistin, doch aller Ruhm lenkt nicht davon ab, dass sie damals in Berlin massive seelische Schäden erlitten hat, die sie ihr Leben lang begleiten werden. Einige Zeit nach dem entsetzlichen Vorfall stellte man fest, dass sich Hannahs Schmerzempfinden verändert hatte. Sie kann bis heute keine körperlichen Schmerzen empfinden.
"'... Noch vor vier, fünf Jahren habe ich in den Fingerkuppen die Saiten gespürt. Ich habe gespürt, wenn ich über die Windungen geglitten bin. Seitdem wird es immer weniger. Ich fühle die Saiten nicht mehr. Weißt du, was das heißt? Vielleicht ist es egal, wenn man Bläser ist, oder Paukist, aber nicht, wenn man ein Streichinstrument spielt. Das ist wie ein Koch, der seinen Geschmackssinn verliert. Irgendwann werde ich gar nichts mehr fühlen.'" (S. 186)
Quelle: Piper
Hannah versucht, mit ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen. Denn die Frage, die sie permanent begleitet und nicht zur Ruhe kommen lässt, ist die nach der Schuld ihres Vaters. Konnte er die heiß begehrten Geheimnisse, die der Anlass für ihre Folterei waren, nicht zur Verfügung stellen, weil er sie nicht hatte? Oder wollte er die Informationen nicht zur Verfügung stellen, weil diese ihm wertvoller erschienen als die Gesundheit seiner Tochter?
Sie erhofft sich Antworten auf diese Fragen, indem sie herausfinden will, um welche Geheimnisse es damals ging.

Auch heute noch scheinen diese Informationen einen unermesslichen Wert zu haben. Warum tauchen auf einmal Leute auf, die sich immer noch für diese Informationen interessieren und auch nicht davor zurückschrecken, diese mit aller Gewalt zu erhalten.

Unterstützung erhalten sowohl Hannah als auch ihre Feinde von dem Journalisten David Berkoff, der sich vor einiger Zeit einen Namen als Kriegs- und Enthüllungsreporter gemacht hat, seinen besten Zeiten aber schon lange hinterher rennt. Er ist eher ein abgewrackter Schreiberling als ein strahlender Starreporter, wozu sein Alkohol- und Drogenkonsum einiges beiträgt. So spielt er also ein doppeltes Spiel, das er sich fürstlich entlohnen lassen möchte. Er präsentiert sich Hannah als Retter und Unterstützer in der Not und hofft so, an die wichtigen Informationen zu geraten, für die seine Auftraggeber bereit sind zu töten.
"Aber die meiste Zeit war sein Alkoholpegel hoch genug gewesen, um zu glauben, er sei nicht wirklich bestechlich. Er könnte sich moralisch sauber halten. Wenn der Pegel allerdings, wie jetzt, unter ein Promille fiel, sah er, dass das eine Lüge war." (S. 123)
Hannah und Berkhoff geben eine interessante Paarung ab. Beide sind mit einem labilen Seelenkostüm ausgestattet, beide ecken bei ihren Mitmenschen an, beide sind auf ihren eigenen Willen fixiert und versuchen, diesen ohne Rücksichtnahme auf andere durchzusetzen.

Auffällig ist, dass in Lucas Grimms Thriller kein Charakter dabei ist, auf den man als Leser mit Sympathie reagiert: Hannah hat mit ihrer Schmerzlosigkeit etwas von einem Freak, Berkhoffs unmäßiger Alkoholkonsum ist ekelerregend, sein falsches Spiel gegenüber Hannah liefert auch keine Sympathiepunkte, und seine Auftraggeber nebst Entourage sind die Verkörperung von Skrupellosigkeit und Boshaftigkeit.

Dieser Thriller ist megaspannend. Lucas Grimm beschreibt in seinem Roman einige dunkle Abgründe, in die sich ein Mensch begeben kann. Beim Lesen wird man kein Wohlgefühl empfinden sondern eher Beklemmung und Fassungslosigkeit über die geschilderten Machenschaften. Besonders gelungen sind die Verfolgungsjagden in dieser Geschichte. Verfolgt wird i. d. R. Hannah. Da der Roman u. a. aus ihrer Perspektive geschrieben ist (eine weitere Erzählperspektive ist die von Berghoff), spürt man die Bedrohung, der Hannah ausgesetzt ist, fast schon körperlich. Der Adrenalinpegel steigt daher beim Lesen fast schon ins Unerträgliche an.
"Sie spürte, dass ihre Wut stärker wurde. Wechsel von Moll zurück nach Dur. Irgendeine schwere Tonart. Fis-Dur, weil es mit seinen sieben Kreuzen synästhetisch Wut bedeutet." (S. 34)
Eine Besonderheit dieses Thrillers ist seine Sprache. Denn Lucas Grimm unternimmt - ganz im Sinne seiner Protagonistin - immer wieder sprachliche Ausflüge in die Musik, indem er Stimmungen in Tonarten beschreibt. Dadurch ergibt sich ein faszinierender Kontrast zwischen der Schönheit von Musik und der Hässlichkeit der hier geschilderten menschlichen Abgründe.

Fazit:
Ein sehr gelungener Thriller, der uns Einblick in verstörende seelische Abgründe verschafft und durch seine kontrastreiche Sprache besticht. Der Leser wird unter Hochspannung gesetzt, zum Durchatmen kommt er erst zum Ende des Romans. Leseempfehlung!

© Renie





Über den Autor:
Lucas Grimm ist das Pseudonym eines erfolgreichen Drehbuchautors, der sein Leben jahrelang als Musiker, Schauspieler, Filmemacher und Entrepreneur gefristet hat. Nach einem Schicksalsschlag ist er mehrere Monate durch Amerika, Indien, Tansania und Israel gereist und hat begonnen zu schreiben. 2017 erschien sein erster Roman "Nach dem Schmerz".



Donnerstag, 20. April 2017

Sven Amtsberg: Superbuhei

Quelle: Pixabay / AmberAvalona
Nachdem ich die ersten Seiten aus Sven Amtsbergs "Superbuhei" gelesen hatte, war dieses Buch für mich bereits ein Kultbuch. Von dieser Meinung bin ich auch bis jetzt nicht abgewichen. Natürlich stellt sich mir die Frage, wie ich überhaupt darauf komme? Was macht einen Roman eigentlich zu einem Kultbuch? Gibt es diesen Begriff überhaupt? Welche Eigenschaften hat ein Kultbuch? Für mich könnten es diese hier sein, allesamt in "Superbuhei" zu finden:
  • ein ungewöhnlicher Protagonist, vorzugsweise als Ich-Erzähler, der mit seinem Leben hadert
  • ein Milieu, fernab von der "heilen Welt": Kneipe, Alkohol, Drogen, trostloses Umfeld
  • Nostalgie, in Form von Musik, die man in seiner Kindheit gehört hat
  • unzählige Klebezettel, die die beeindruckendsten Textstellen markieren und darauf hinweisen, dass der Autor sehr viel zu sagen hat
"Es stimmt schon, dass das Leben ohne Alkohol leichter ist. Es fühlt sich nur nicht so an." (S. 47)
Jesse Bronske ist der ungewöhnliche Protagonist und Ich-Erzähler aus "Superbuhei". Dass er mit seinem Leben hadert ist unbestreitbar. Der Mann hat wirklich Probleme, angefangen beim Alkohol bis hin zu Paranoia und Depressionen.
Er betreibt das "Klaus Meine", eine Kneipe in dem Supermarkt "Superbuhei" in Hannover. Man ahnt es, er ist Scorpions-Fan, insbesondere zu dem Sänger der Scorpions, Klaus Meine, verspürt er eine tiefe Verbundenheit. In der Kneipe läuft den lieben langen Tag die Musik der Scorpions - nichts anderes. Den Stammgästen - andere Gäste verirren sich nicht hierhin - ist dies egal. Ihnen liegt nur daran, in möglichst schneller Zeit einen Alkoholpegel zu erreichen, der das Leben für sie erträglicher macht. Das "Klaus Meine" öffnet morgens um 10 Uhr. Bis abends, zum Geschäftsschluss, haben die Stammgäste Zeit, sich die Kante zu geben, woran sie auch intensiv arbeiten.

Steht Jesse nicht hinter der Theke seines "Klaus Meine", lebt er mit Mona zusammen, einer Kassiererin aus dem Superbuhei. Beide wohnen in dem Haus von Monas verstorbenen Eltern. Home sweet home ist anders. Denn das Haus überzeugt eher durch Schmuddeligkeit als durch Heimeligkeit. Baufällig und marode steckt der Mief von zig Jahren in seinen Mauern. Das Haus ist vollgespickt mit Dingen, die Monas toten Eltern gehörten. Eine Käfersammlung und Monas Sonnenbank im Wohnzimmer, tragen ihr Übriges zum (Un-)Wohlfühlfaktor bei.
"Wir streiten oft. Vor allem sonntags, wenn der ganze Tag in seiner Ödnis und Weite vor uns liegt. Nicht selten habe ich dann das Gefühl, sie gäbe mir die Schuld für die Langeweile, so wie sie auch mich dafür verantwortlich macht, dass unser Leben nun einmal ist, wie es ist. Dass es nur wenig von den Filmen hat, die sie im ZDF zeigen. Unser Leben ist eher wie RTL II." (S. 84)
Man fragt sich, welche Zukunftsperspektive Jesse hat? Und so wie er sich in diesem Roman präsentiert, bleibt als einzige Antwort: "Gar keine". Sein Leben besteht aus Eintönigkeit und Durchschnittlichkeit. Es gibt keine herausragenden Ereignisse, die auf eine rosige Zukunft hoffen lassen. Jesse versucht, seinem Leben einen Sinn zu geben, indem er sich krampfhaft auf die Suche nach seinen verborgenen Talenten begibt, die seinem eintönigem Durchschnittsdasein einen tieferen Sinn geben sollen. Vom Tennisspielen bis hin zu schriftstellerischen Ambitionen war schon alles dabei. Gebracht hat es nur nichts.

Wenn die Gegenwart mies ist, die Zukunft auf nicht hoffen lässt, fragt man sich, was in Jesses Vergangenheit passiert ist, dass er sich in dieser Situation befindet.
Der Leser erfährt durch Jesse, dass er in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen ist. Die Familie Bronske bestand aus den Eltern, Jesse und seinem Zwillingsbruder Aaron. Die "Flucht aus der Eintönigkeit" schien auch ein Thema zu sein, das seine Eltern beschäftigt hat. Allerdings jeden für sich. Der Vater versucht sein Glück als erfolgloser Elvis-Imitator, die Mutter sucht ihr Glück bei einem anderen Mann.

Die Zwillinge sind bereits im jugendlichen Alter als die Mutter die Familie verlässt. Sie bilden eine eingeschworene Gemeinschaft. Jahre später hat sich die Eingeschworenheit jedoch in Luft aufgelöst. Jesse fühlt sich als Erwachsener von seinem Zwillingsbruder bedroht. Man fragt sich, wie es dazu gekommen ist, dass Jesse diesen Hass auf seinen Bruder entwickelt hat. Diese Frage könnte wahrscheinlich Aaron beantworten. Also wartet man als Leser auf das Erscheinen von Aaron. Dieser lässt allerdings auf sich warten. Die Bedrohung durch ihn ist zwar ständig präsent, aber eben nur die Bedrohung. Denn Aaron selbst bleibt im Hintergrund und nimmt zunächst persönlich keinen Einfluss auf die Handlung.
"Mutter hatte uns oft von Kain und Abel erzählt. Wir hatten ihr immer versprechen müssen, nie so zu werden. Was wir getan haben, trotzdem frage ich mich, was, wenn wir doch so werden würden, wer wäre dann wer? Bin ich der, der erschlägt? Oder der, der erschlagen wird?" (S. 44)
"Superbuhei" ist ein stimmungsgeladenes Buch. Es beginnt als lustiges Buch mit einem sehr skurrilen Humor. Man trifft auf viele Lebensweisheiten, die fast schon philosophische Ansätze haben. (Alcäus lässt grüßen: In vino veritas!) Dieser Humor wird von der unterschwelligen Bedrohung durch Aaron begleitet. Irgendwann kippt die Stimmung. Jesse zeigt plötzlich Verhaltensweisen, die den Leser an seinem Geisteszustand zweifeln lassen und seine Aussagen bezüglich seines Bruders in Frage stellen.

Zum Ende fragt man sich, ob man sich nicht tatsächlich in einem Thriller oder Horrorroman befindet. Denn dank Jesse und seinem merkwürdigen Verhalten wird die Stimmung unheimlich gruselig.

Sven Amtsberg lässt uns schließlich mit einem ganz fiesen Ende zurück - offen wie ein Scheunentor und mit ganz viel Raum für Spekulationen.

Noch eine Anmerkung zu dem Bezug zu den Scorpions. Der Sound dieser Band aus Hannover begleitet den Leser durch das komplette Buch. Mir ist der eine oder andere Song hier begegnet, dessen Melodie ich nicht aus dem Kopf bekommen habe. Allen voran natürlich das Gepfeife aus "Winds of Change". Sven Amtsberg hat auch die einzelnen Kapitel mit Songtitel der Scorpions versehen. Wer also bis dato nicht viel mit den Scorpions am Hut hatte, wird spätestens nach diesem Buch ein besonderes Augenmerk auf diese Band haben.

Beenden möchte ich meine Rezension mit der Wikipedia-Definition zu "Kultbuch"

Wikipedia sagt:
In einem Kultbuch wird das Lebensgefühl einer speziellen (meist jugendlichen) Gruppe besonders eindringlich widergespiegelt und von dieser Gruppe jeweils sehr geschätzt.
(Das trifft auf Superbuhei nur bedingt zu: widergespiegeltes Lebensgefühl einer Gruppe ja, von ihr geschätzt, definitiv nein)
Der Begriff hat sich in den 1970er Jahren im (west)deutschen Sprachgebrauch herausgebildet und ist die analoge Bildung zum Kultfilm. Kultbücher gelten als unverwechselbare Werke (das ist Superbuhei definitiv), sind auf eine bestimmte Leserschaft ausgerichtet (stimmt, Superbuhei ist kein Mainstream-Buch) und können zu Bestsellern werden (das hoffe ich doch). .......

Für mich hat "Superbuhei" definitiv das Zeug zu einem Kultbuch. Daher gibt es von mir natürlich auch eine Leseempfehlung!

© Renie



Über den Autor:
Sven Amtsberg, geboren 1972 in Hannover, lebt in Hamburg und ist Autor, Veranstalter und Moderator diverser Entertainmentformate.
Er betreibt das Autorendock, eine private Autorenschule, an der Dozenten wie Juli Zeh, Clemens Meyer oder Tilman Rammstedt Seminare geben. Für das Hamburger Abendblatt schrieb er die wöchentliche Kolumne "Amtsbergs Ansichten". Zuletzt erschien sein Erzählband "Paranormale Phänomene. Fast wahre Geschichten", nun folgt mit "Superbuhei" sein Romandebüt. (Klappentext)

Montag, 17. April 2017

Christine Wunnicke: Katie

Quelle: Pixabay / Mysticsartdesign
"Eine herrlich übersinnliche Geschichte, und das Beste: Es ist alles wahr. Wirklich."
Florence Cook, die Protagonistin dieses Romanes, war zu ihrer Zeit ein berühmtes Medium. Ein Medium bezeichnet eine Person, die bei einer spiritistischen Sitzung oder Séance in Kontakt mit Toten oder Geistern treten und deren Nachrichten aus dem Jenseits ins Diesseits übermitteln kann. Dies geschieht, indem das Medium von dem Toten oder Geist "besessen" wird ("Poltergeist" lässt grüßen). Der Tote spricht nun durch das Medium zu den Teilnehmern der Séance im Diesseits. Es gibt allerdings auch Tote und Geister, die zu schüchtern sind, um mit der Nachwelt zu plaudern. Diese wissen dann durch Stühlerücken, schwebender Gegenstände oder ähnlichem zu beeindrucken. Man mag es glauben oder nicht, doch unterhaltsam ist es alle Male. Zwischen 1850 und 1890 boomten die Séancen. Sie fanden im kleinen intimen Kreis statt oder wurden als Massen-Event gestaltet. Ein Star der Londoner Szene war in dieser Zeit Florence Cook.
Von Florence handelt dieser ungewöhnliche Roman von Christine Wunnicke. Stellt sich nun die Frage, wer "Katie" ist und welche Rolle sie in dem gleichnamigen Roman spielt. 
"'Ihre Florrie wird eine Hübsche werden", hatte der Arzt zu Mutter gesagt, und es hatte bedrohlich geklungen. Kaum eine ist hübsch, wusste Florence, dass sie deshalb berühmt wird. Und wenn doch, geht es moralisch schief. Das heißt dann 'berüchtigt'." (S. 15)
Katie ist eine ungewöhnliche Frau mit einer strahlenden Erscheinung. "Ungewöhnlich" - weil sie schon lange tot ist; "strahlende Erscheinung", weil sie als ebendiese im Diesseits erscheint. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen hat sie sich Florence als Medium ausgesucht und geistert nun im viktorianischen puristischem London umher. 
Quelle: Kirchner PR/Berenberg

Florence (oder Florrie) ist ein junges Mädchen aus behütetem Elternhaus, das die Rolle des Mediums in Perfektion beherrscht.

Einen großen Anteil an ihrem Ruhm hat ihre ehrgeizige Mutter, die schnell erkennt, dass Florries Talent sehr lukrativ sein kann.

So groß der Hype um die parapsychologische Szene auch war, gab es natürlich auch Zweifler. Insbesondere Wissenschaftler versuchten, diese übersinnlichen Veranstaltungen entweder als Humbug zu entkräften oder einen Beweis für die Echtheit der Erscheinung zu finden. Einer davon war Sir William Crookes (man beachte die Namensähnlichkeit zu Florence Cook). Crookes war britischer Physiker, Chemiker, Wissenschaftsjournalist und Parapsychologe - also durchaus ein Fachmann auf dem Gebiet der Geistererscheinungen. Anfangs ein Skeptiker, hat er sich in seinen letzten Lebensjahren vom Spiritismus begeistern lassen. Ob Florence /Katie ihren Teil dazu beigetragen haben, den Wissenschaftler zu überzeugen? Denn in Christine Wunnickes Roman treffen Crooke und Florence aufeinander, als der, bis dahin erfolglose Wissenschaftler, mit einem Gutachten über Florence und ihre Glaubwürdigkeit beauftragt wird. Als Forschungsobjekt von ihrer Mutter zur Verfügung gestellt, zieht Florence in das Haus des Forschers, wo sie am Crookesschen Familienleben teilnimmt. 
"Crookes merkte, wie sein Hals zu schwellen begann. Dies geschah ihm in letzter Zeit öfter. Er wusste nicht, ob es Zorn war oder sein inneres, ängstliches Abdrücken der Luft. Er schätzte, den Spiritismus nicht sehr. Nur wenig hatte er bislang darin dilettiert, kaum drei-, viermal selbst gesessen. Doch in Gelehrtenkreisen war ihm nicht zu entkommen." (S. 27)
Sir William Crookes sieht Florrie als Möglichkeit, aus seinem Forscherdurchschnittsdasein herauszukommen. Auf die eine oder andere Weise will er Ruhm erlangen. Entweder als derjenige, der Florrie als Betrügerin entlarvt oder als derjenige, dem es gelingt, das Geheimnis einer Geistererscheinung zu lösen.

Zusammen mit Florrie zieht auch Katie in das Haus der Familie Crookes ein. Hier geistert sie umher und beglückt die Bewohner des Hauses auf die eine oder andere Art. Katies Biografie liest sich wie ein Abenteuerroman. Sie war zu Lebzeiten eine sehr sinnliche Frau, was sie auch als Tote nicht abgelegt hat. Insbesondere die männlichen Bewohner des Wissenschaftlerhaushaltes erleben Katie von dieser ganz besonderen Seite.

Ist sie nun Wirklichkeit, eine Ausgeburt der Fantasie oder fauler Zauber? Crookes gibt alles, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Und auch als Leser ist man sich nicht sicher, was es mit der strahlenden Erscheinung von Katie auf sich hat. Auch bei Florrie hat man große Zweifel. Einerseits sieht man sie als kindliches Opfer, von ihrem Umfeld ausgenutzt, allen voran natürlich ihre ehrgeizige Mutter. Andererseits erstaunt sie aber durch ihre unberechenbaren Handlungen. Liegt ihre Unberechenbarkeit an einer tatsächlichen Besessenheit durch den Geist Katie oder an ihrer Durchtriebenheit? Oder gar an einer psychischen Erkrankung? Man weiß es nicht, wird es auch bis zum Ende dieses Romanes nicht in Erfahrung bringen. 
"Zuschauer waren aufgesprungen und strebten zur Bühne. Sie reckten die Hände nach Katie. Sie lächelte. Ihre Zähne strahlten. Sie neigte sich ein wenig vor und näherte ihre Hände den Händen der Zuschauer, ohne sie indes zu berühren. Die Geste hatte etwas Spöttisches, etwas Segnendes, etwas sehr Hübsches an sich." (S. 151)
Dieser Roman ist mit all seiner Übersinnlichkeit ein sehr lustiger Roman, was auf die Gestaltung der Charaktere zurückzuführen ist. 
Christine Wunnicke versetzt uns in ein Kabinett der Skurrilitäten. Keiner ihrer Charaktere erzeugt Sympathien. Bestenfalls für Florence empfindet man Mitleid, das sich jedoch in Grenzen hält. 
Fast schon süffisant macht die Autorin sich über ihre Charaktere lustig. Das ist ansteckend und hat einen sehr hohen Unterhaltungswert. 

Mein einziger Kritikpunkt an diesem Roman bezieht sich auf den Sprachstil: Im Großen und Ganzen konnte mich Christine Wunnicke durch ihren locker-leichten Sprachstil überzeugen. Allerdings versucht sie in einigen Passagen dieses Romanes dem wissenschaftlichen Charakter gerecht zu werden. Insbesondere in den Szenen um Crookes schmückt sie ihren Sprachstil mit wissenschaftlichen Fachtermini aus, die mir zu viel des Guten sind. Dies mag an meiner fehlenden naturwissenschaftlichen Ader liegen. Leser mit einer entsprechenden Neigung werden mit Sicherheit ihren Spaß daran haben. 

© Renie




Über die Autorin:
Christine Wunnicke, geboren 1966, lebt in München. Sie schreibt Hörspiele, biografische Literatur und Romane. 2002 erhielt sie für ihre Biografie des Kas­tratensängers Filippo Balatri, »Die Nachtigall des Zaren«, den Bayerischen Staatsförderungspreis für Literatur. Für den Roman »Serenity« bekam sie 2008 den Tukan-Preis. Ihr Roman »Der Fuchs und Dr. Shimamura« – ihr zweites Buch im Berenberg-Programm – war 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert (Longlist). (Quelle: Berenberg)

Mittwoch, 12. April 2017

André Milewski: Die Totentafel

Quelle: Pixabay/ESD-SS
Wer mich und meinen Blog kennt, weiß, dass meine zweite Leseheimat die Lesecommunity Whatchareadin ist. Hier bin ich schon auf viele Buch-Affine und somit Gleichgesinnte gestoßen. Bei Whatchareadin tummeln sich nicht nur Leser sondern auch Autoren. Einer davon ist André Milewski. Wir sind uns virtuell schon häufiger in diversen Threads begegnet. Auf der Leipziger Buchmesse trafen wir uns dann live und in Farbe. Hier hatte ich das Vergnügen, Andrés aktuellen Thriller "Die Totentafel", den er kurz zuvor veröffentlicht hat, kennenzulernen. Und eines ist schon mal klar: aus diesem Lesestoff werden in Hollywood Filme gedreht.


„Die Totentafel“ ist ein Thriller, dessen Handlung uns nach New York führt, genauer: ins  Metropolitain Museum of Art, noch genauer: in die ägyptische Abteilung dieses Museums.

Der Einstiegsmord dieses Thrillers ist schon sehr spektakulär. Der Mörder hat sich  Anregungen für seine Tat scheinbar beim ägyptischen Totenkult gesucht. Der Tote ist ein Archäologe des Museums. Natürlich bleibt es nicht bei der einen Leiche. Die Aufklärung des Verbrechens übernimmt Detective Heather Rollins. Zusätzlich zu dem Kriminalfall macht André Milewski einen zweiten Handlungsstrang auf: Detective Heather hat sich von ihrem Mann und Kollegen David getrennt. Momentan steuern beide auf eine schmutzige Scheidung zu. Heather und ihr Noch-Ehemann tragen den Scheidungskrieg nicht nur vor Gericht aus. Der Konflikt überträgt sich auch auf ihre Arbeit, so dass aus ehemaligen Kollegen erbitterte Feinde geworden sind.
"Blut fehlte. Das war das Erste, was Heather auffiel, als sie am Tatort ankam. Eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden, der immer noch jungfräulich weiß schimmerte." (S. 7)
Der Thriller wird aus der Sicht von Heather erzählt. Kurzzeitig gibt es jedoch einen Wechsel in der Erzählperspektive. Und hier hat sich André Milewski ein besonderes Schmankerl einfallen lassen: Der Leser schlüpft in die Rolle des Täters und verfolgt dadurch dessen Gedankengänge oder nimmt teil an seinen Gesprächen. Trotzdem lässt sich nicht vorhersagen, wer der Täter ist. 

Die Handlung wird von einer permanenten unterschwelligen Spannung begleitet, die allein schon dem Szenario geschuldet ist: New York im Winter, die ägyptische Abteilung im Museum, die Exponate, allen voran der Nachbau eines Tempels und natürlich die Totentafel, die eine wichtige Rolle in diesem Thriller spielt. Bei einigen Schlüsselszenen und natürlich beim Wechsel der Erzählperspektive auf den Täter steigt die Spannung extrem an.
"Heather atmete tief durch, drehte sich von der Säule weg und stellte sich direkt in den Durchgang zum Tempel. Das Licht hatte mittlerweile ins Bläuliche gewechselt. Langsam schritt Heather weiter auf den kleinen Tempel zu, dessen Eingang tiefschwarz vor ihr lag. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie war sich nicht sicher, ob dort in der Dunkelheit des Tempels der Schütze lauerte oder ob dieser bereits geflüchtet war." (S. 226)
Die Aufklärung des Verbrechens erweist sich als echte Überraschung. Die subtilen Spuren, die André Milewski während der Handlung auslegt, führen den Leser auf etliche falsche Fährten, so dass man am Ende durch die Enthüllung des Mörders völlig überrumpelt wird. 

Ich habe einen Kritikpunkt der Rubrik „Jammern auf hohem Niveau“: Ich hätte mir gern ausführlichere Informationen über die Totentafel gewünscht, dem Artefakt, das eine wichtige Rolle in diesem Thriller spielt. Als alter „Indiana Jones“-Fan hätte ich mir ein sagenumwobenes Geheimnis um diese Tafel gewünscht. Im Ansatz ist dieses Geheimnis vorhanden, lässt allerdings für meinen Geschmack zu viel Raum für Spekulationen.

Fazit:
Ein sehr gelungener Thriller, der durch seinen Aufbau und den Spannungsbogen überzeugt. Die Handlung durchläuft vom Anfang bis zum Ende eine unterschwellige Spannung, die sich jedoch in gewissen Schlüsselszenen und dem Wechsel der Erzählperspektive ins Extreme steigert. Hinzu kommt der interessante Charakter der Heather Rollins. Hier hat sich der Autor viel Spielraum für weitere Thriller mit ihr gelassen, die er hoffentlich auch noch schreiben wird. 

© Renie


"Die Totentafel" von André Milewski (CreateSpace Independent Publishing Platform)
ISBN: 978-1543281651



Montag, 10. April 2017

Anthony McCarten: Licht

Quelle: Pixabay/Flybynight
Mit seinem aktuellen Roman, der uns ins Amerika zum Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts führt, ist dem neuseeländischen Autor Anthony McCarten ein bemerkenswertes "Licht" aufgegangen. Ich habe schon einiges von McCarten gelesen. Doch mit diesem Buch ist ihm ein besonderer Coup gelungen.

Dieser Roman konzentriert sich auf das Leben von Thomas Alva Edison."Licht" ist auch ein Buch der Konflikte und Widerstände:
  • Thomas Alva Edison (der mit der Glühbirne) vs. J. P. Morgan (der Banker)
  • Thomas Alva Edison vs. Nikola Tesla (der mit dem Wechselstrom)
  • Gleichstrom vs. Wechselstrom
  • Elektrischer Stuhl vs. Erschießen, Erhängen und ähnliche "humanere" Methoden zur Vollstreckung einer Todesstrafe
McCarten schafft das Kunststück, die wissenschaftlichen und technischen Informationen, die zwangsläufig zu einem Roman über einen begnadeten Erfinder und Naturwisschenschaftler gehören, auf sehr verständliche und unterhaltsame Weise zu vermitteln. Damit schafft er es, sogar Leser, die keine Affinität zur Naturwissenschaft haben, zu begeistern. 

Quelle: Diogenes
Im Mittelpunkt dieses Romanes steht die Beziehung zwischen J. P. Morgan und Thomas Alva Edison. Die beiden kommen zusammen, als Edison mit seinen Forschungen zur Elektrizität noch in den Anfängen steckt. Doch J. P. Morgan wäre nicht einer der erfolgreichsten Banker seiner Zeit, wenn er nicht den richtigen Riecher hätte, sobald ein lukratives Geschäft winkt. Er ahnt, dass Elektrizität die Welt verändern wird, und diese Veränderungen sollen sich auszahlen, vorzugsweise an ihn. Daher versucht er, Edison mit seinem Ehrgeiz und Geschäftssinn anzustecken. Edison, der seine Aufgabe als Wissenschaftler darin sieht, zum Wohle der Menschheit zu forschen, fühlt sich in der ihm zugedachten Rolle des geschäftstüchtigen Erfinders überfordert. Zunächst genießt er die Möglichkeiten, die ihm Morgans Investitionen bescheren. 
"'Damit, dass man die Welt verbessert, verdient man keine Geld. Nur mit ihrer Zerstörung.'" (S. 21)
Aber die Konkurrenz schläft nicht. Allen voran ist es Nikola Tesla, sein ehemaliger Assistent, der ihm den Rang des erfolgreichsten Wissenschaftlers streitig machen will. Edison sieht die Zukunft der Elektrizität im Gleichstrom. Tesla ist Verfechter des Wechselstroms. Edison fühlt sich bei der Ehre und seinem Stolz gepackt. Der Konkurrenzkampf der beiden Wissenschaftler eskaliert in dem Moment, als Edison den elektrischen Stuhl erfindet, den er mit Wechselstrom betreiben lässt. Somit bekommt Teslas Wechselstrom einen tödlichen Stempel aufgedrückt.

Während sich Edison und Tesla bekriegen, nimmt Morgan eine abwartende Rolle ein. Noch hält er zu Edison. Die Investitionen in dessen bisherige Arbeit sind einfach zu hoch. Doch Morgan ist ein Gewinner. Am Ende bekommt derjenige seine Zuwendung, der als Sieger aus dem Konflikt hervorgehen wird.

Edison war seit seiner Kindheit schwerhörig, was die Kommunikation mit ihm nicht einfach machte. McCarten stellt diese Schwerhörigkeit in den Vordergrund, schlachtet sie sogar aus und schon wird aus seinem Hauptprotagonisten ein sehr kauziger Charakter, der sich von seinen Mitmenschen anschreien lässt - aber bitteschön nicht lauter als 80 Dezibel. 

Edison ist hin- und hergerissen zwischen dem Streben nach Erfolg und seiner Weltanschauung, dass Wissenschaft zum Wohle der Menschheit dient. Doch er weiß durchaus die finanziellen Vorteile, die die Zusammenarbeit mit Morgan bietet, zu schätzen. Zeitweise versucht er sogar, Morgan nachzueifern. Er kleidet sich wie er, hält sich in den selben gesellschaftlichen Kreisen auf wie er und hat Spaß an den Annehmlichkeiten die das Luxusleben eines Millionärs mit sich bringt. Einzig Mina, Edisons zweite Ehefrau, (die erste starb 1847), weiß ihn zu erden. Ihre Kritik ruft ihm immer wieder in Erinnerung, mit welchen Motiven er als Wissenschaftler angefangen hat. Mina hält sozusagen sein Gewissen in Schach.
"'Du bist Erfinder. Du hast mir einmal gesagt, Gutes zu tun sei deine Religion. Weißt du das noch? Dass es dir darum geht, die Welt zu verbessern? Und ein solcher Mann, der Mann, den ich geheiratet habe, der will nun ein Problem aus der Welt schaffen, indem er jemanden umbringt? So lösen wir jetzt Probleme, Thomas?'" (S. 267)
Morgan wiederum ist der Berechnende, der manipulativ auf seinen Schützling Edison einwirkt. Was er will, bekommt er am Ende. 
Auch der Bankier wird von McCarten nahezu als Witzfigur dargestellt: ein hässlicher alter Mann mit 2 Markenzeichen: einer riesigen Knollennase und einem Gehstock. 
Ein echtes Highlight war für mich das Zusammenspiel der beiden Männer. Da lässt McCarten so manches mal den Schalk durchblitzen. Man hat den Eindruck, dass zwei Charakterköpfe aufeinanderprallen, die einen Höllenspaß daran haben, sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Aber man wird nie den Eindruck los, dass Morgan immer der Überlegene in dieser Beziehung ist. 
"Er kam an Touristen vorüber, die anstanden, um Eintrittskarten für die Besichtigung des Zellenblocks zu kaufen. Er blieb selbst an dem Kassenhäuschen stehen und las dort, dass man entweder eine Einzelkarte kaufen konnte, um durch Gucklöcher die Gefangenen in den Zellen zu beobachten, oder eine Karte, die außerdem am selben Tag auch noch für die Niagarafälle gültig war. Das 'Ein Tag im Gefängnis und am Wasserfall'-Angebot war ein großer Erfolg." (S. 270 f.)
Der Roman findet hauptsächlich auf 2 Handlungsebenen statt.

1. Edison ist über 80 Jahre alt und schon sehr gebrechlich. Er soll zum Ehrenbürger seines Geburtsortes Milan ernannt werden. Der ganze Trubel um seine Person ist ihm zu viel. Während der Reise nach Milan erinnert er sich an

2. seine Vergangenheit, insbesondere an seine Zeit als Forscher und Erfinder; an die Zeit mit Morgan und den Konflikt mit Tesla

Anthony McCarten ist seinem Schreibstil treu geblieben. Wie ich es von seinen anderen Romanen gewohnt bin, zeichnet sich sein Sprachstil auch hier durch Leichtigkeit und viel Humor aus. Der Autor scheint großen Spaß an seiner Geschichte über Thomas Alva Edison und J. P. Morgan gehabt zu haben. Man wird den Eindruck nicht los, dass er diesen Roman mit einem Lächeln im Gesicht geschrieben hat. Und dieses Lächeln überträgt sich auf den Leser.

Fazit:
Eine faszinierende Geschichte, die auf tatsächlichen Ereignissen basiert. Anthony McCarten gelingt es, die historischen und naturwissenschaftlichen Informationen auf sehr unterhaltsame Weise zu vermitteln. Ob die beiden Hauptprotagonisten tatsächlich so kauzig waren, wie der Autor sie darstellt, ist schwer zu sagen. Aber man glaubt es gerne, denn schließlich machen sie aus diesem Roman etwas ganz Besonderes. Leseempfehlung!

© Renie






Über den Autor:
Anthony McCarten, geboren 1961 in New Plymouth/Neuseeland, schrieb als 25-Jähriger mit Stephen Sinclair den Theaterhit ›Ladies Night‹, in der unautorisierten Filmadaption (›The Full Monty/Ganz oder gar nicht‹) eine der weltweit erfolgreichsten Filmkomödien. Es folgten weitere Romane, Theaterstücke sowie Drehbücher (u. a. zum internationalen Filmhit ›The Theory of Everything‹, Nominierung für die ›Beste Drehbuchadaption‹). Er lebt in London. (Quelle: Diogenes)

Dienstag, 4. April 2017

Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht

Quelle: Pixabay / stux
Der Titel "Unsere Seelen bei Nacht" hört sich dramatisch an, könnte sogar der Titel eines spannenden Thrillers sein. Tatsächlich handelt es sich bei dem Roman von Kent Haruf um ein Entschleunigungsbuch. Keine Morde, keine Dramatik, kein atemberaubender Spannungsbogen! Dafür einfach nur eine wunderschöne Sprache, die eine berührenden Geschichte erzählt. Das ist wohltuende Entspannung für die Leserseele.

Die Protagonisten in diesem Roman - Louis und Addie - haben ihren Lebensabend erreicht. Die beiden kennen sich nur flüchtig aus der Nachbarschaft, beide sind verwitwet und leben allein. Ihre Kinder und Enkelkinder lassen sich nur selten blicken. Die Tage sind unausgefüllt, die Nächte sind lang und einsam. Man kann also nicht behaupten, dass sie ihren Lebensabend in vollen Zügen genießen. Denn alleine genießt es sich nicht so schön wie zu zweit. Also nimmt Addie Herz und Schicksal in die Hände und steht eines Tages bei Louis vor der Tür. Sie äußert eine merkwürdige, fast schon unanständige Bitte. Louis soll die Nächte bei ihr verbringen, in ihrem Ehebett, an ihrer Seite. Dabei möchte sie sich nur mit ihm unterhalten und ihre  Einsamkeit bekämpfen. Warum sie ausgerechnet ihn auswählt? Wahrscheinlich ist er der einzige Kandidat aus ihrem Umfeld, der für sie in Frage kommt: alleinstehend, in ihrem Alter, jemand, den sie kennt, da sie früher mit Louis Ehefrau befreundet war.

Louis lässt sich auf dieses Arrangement ein. Abends taucht er samt Pyjama und Zahnbürste bei Addie auf, morgens verlässt er ihr Haus wieder. Dazwischen wird geredet, über Sorgen und Probleme, die Vergangenheit, die verstorbenen Ehepartner, die Kinder und Enkelkinder. Langsam freunden sich die beiden an und irgendwann kommt der Moment, wo Louis nicht nur die Nächte mit Addie verbringt und sein Pyjama und seine Zahnbürste in Addies Haus Einzug finden.
"Ich finde es wundervoll, sagte sie. Es ist besser, als ich es mir erhofft hatte. Es ist so etwas wie ein Geheimnis. Mir gefällt die Freundschaft. Die Zeit, die wir miteinander verbringen. Hier im Dunkel der Nacht zu liegen. Das Reden. Dich neben mir atmen zu hören, wenn ich wach werde." (S. 104)
Quelle: Diogenes
Diese Geschichte könnte an dieser Stelle aufhören. Aber nicht jeder freut sich über das späte Glück der Beiden. Es sind noch nicht einmal Nachbarn und Bekannte, die den beiden ihr Glück nicht gönnen. Sie leben in Holt, einer amerikanischen Kleinstadt, die der Autor Kent Haruf eigens für seine Romane erfunden hat. Mit dem Begriff "Kleinstadt" assoziiert man Klatsch und Tratsch, auf den Louis und Addie anfangs auch stoßen. Doch sie lassen sich nicht davon beirren. Und die Reaktion der Nachbarn und Bekannten gibt ihnen recht. Holt hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass Louis und Addie als Paar unterwegs sind. Wer sich nicht daran gewöhnt hat, und wer mit aller Vehemenz gegen die Beziehung der beiden ankämpft, ist Gene, Addies Sohn. Er mag Louis nicht, abgesehen davon, dass er wahrscheinlich keinen Mann an Addies Seite mögen würde. Die Beziehung, die die beiden führen, empfindet er als ekelhaft und abartig. Es lässt sich schwer sagen, ob seine Aversion auf ein enges Verhältnis zu seinem Vater zurückzuführen ist und er deshalb keinen anderen Mann an Addies Seite duldet. Oder ob er ihr schlichtweg ihr Glück neidet, da er selbst vor dem Scherbenhaufen seiner Ehe steht. Auf jeden Fall kämpft er mit harten Bandagen, um Addie und Louis auseinander zu bringen. Ob ihm das gelingt? ....
"Wer hätte gedacht, dass wir in unserem Alter so etwas erleben. Dass noch längst nicht alle Veränderungen und Aufregungen hinter uns liegen, wie sich herausstellt. Dass wir noch nicht körperlich und geistig vertrocknet sind." (S. 163)
Der Autor Kent Haruf hat einen ganz besonderen Sprachstil. Man taucht in diese Geschichte ein und ist von Anfang an von der Klarheit und Einfachheit seiner Sprache verzaubert. Völlig schnörkellos vermittelt er die Gefühle, die Louis und Addie durchlaufen. Man leidet und freut sich mit den beiden: das Herzklopfen von Addie, als sie mit ihrem eigenartigen Vorschlag an Louis Tür steht, seine Verwunderung, die Annäherung der beiden, das langsame Wachsen ihrer Liebe, die Verzweiflung als es darum geht, um ihre Liebe zu kämpfen. Das alles vermittelt Kent Haruf mit wenigen klaren Worten, die jedoch punktgenau ins Herz treffen und den Leser in eine melancholische Stimmung versetzen.

Fazit:
Ein melancholischer Roman über die späte Liebe, erzählt in einem wundervoll schnörkellosen, aber gefühlvollen Sprachstil. Leseempfehlung!

© Renie







Über den Autor:
Kent Haruf (1943–2014) war ein amerikanischer Schriftsteller. Alle seine sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado. Er wurde unter anderem mit dem Whiting Foundation Writers’ Award, dem Mountains & Plains Booksellers Award und dem Wallace Stegner Award ausgezeichnet. ›Unsere Seelen bei Nacht‹ ist sein letzter Roman und erschien in den USA kurz vor seinem Tod. (Quelle: Diogenes)